Häufig wird die Zeit zwischen 800 und 1300 u.Z. als die Blütezeit des Islam bezeichnet. Die Zeit danach gilt als Zeit der Stagnation, Dekadenz bzw. der Unterdrückung rationalistischer Tendenzen durch die islamische Orthodoxie. Wie Thomas Bauer in seinem Buch „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams“ erklärt, ist diese Sichtweise zu einseitig. Er würdigt insbesondere die Kultur der Ambiguität im „nachformativen“, im klassischen Zeitalter zwischen 1000 und 1900 unserer Zeit. Im 19. Jahrhundert, in dem sich die Lebensverhältnisse schnell zu verändern begannen, passte sich auch der Islam daran an – wodurch er jedoch die ihn vorher auszeichnende besondere Ambiguitätstoleranz verlor.

Seit dem 16. Jahrhundert hatte die westlich-abendländische Kultur eine dynamische Entwicklung durchlaufen. Sie begann als „Sonderweg“, und zu ihren Besonderheiten gehört insbesondere die koloniale Expansion. Die „Großen Entdeckungen“ waren „Große Eroberungen“. Dabei stieß diese Kultur nun unweigerlich auf die arabisch-islamische Kultur, die sich im 16. Jahrhundert auch in Richtung Europa auf den Weg gemacht hatte.

(Im Wikipedia-Beitrag zur „Religion im Osmanischen Reich“ wird deutlich, dass das Osmanische Reich gegenüber anderen monotheistischen Religionen tolerant war, stets einen Ausgleich suchte und es „keine Konflikte zwischen den verschiedenen Glaubensgemeinschaften“ gab. Die Geschichte war von einem aufstrebenden Nationalismus gekennzeichnet, der aber nicht mit einer Zunahme religiöser Konflikte begleitet war.)

Bei diesem Zusammentreffen veränderten sich viele Bedingungen und Prozesse in den Bereichen Politik, Ökonomie, Kultur etc., die zu untersuchen wären. Bauer konzentriert sich auf die Folgen dieser Prozesse für die traditionelle Ambiguitätstoleranz der arabisch-islamischen Kultur.

Während in den Auslegungen des Korans und der Rechtsbücher traditionell mehrere Deutungen gleichzeitig zugelassen wurden, forderte die westlich-europäische Kultur eindeutige Wahrheiten und sie setzte voraus, dass ihre Wahrheit die allein gültige sei. Wenn man in dieser Auseinandersetzung überhaupt gehört werden wollte, musste man sich dem herrschenden Diskursmodus und der Struktur des westlichen Denkens (268f.) unterwerfen. Wahrscheinlichkeitsabwägungen wurden von Wahr-Falsch-Dichotomien verdrängt. Im Islam begann man stärker eine eigene Wahrheit zu suchen und aufzubauen und dann gegen Gegner zu verteidigen. Das „System des geduldigen Aushandelns von Ambiguitätskonflikten“ konnte mit dem Tempo des Westens nicht mehr mithalten und „wurde durch eine dogmatisch-ideologische Neukonstruktion ersetzt, die in ihrer Ambiguitätsfeindlichkeit der westlichen Moderne eingepaßt werden konnte“ (45-46). Gegen Ende des 19. Jhd. ging Tradition der Ambiguität zu Ende und man begann sich der eigenen Tradition zu schämen (51). Literatur, für deren Inhalt und Geschichte Thomas Bauer besonderes umfangreiche Kenntnisse besitzt, wird im nationalistischen arabischen Diskurs seit der Zeit, seit die Herrscher keine rassereine Araber mehr waren, als dekadent und wertlos klassifiziert – auch die entsprechende ambiguitätsliebende Literatur wird abgelehnt (253).

1925 wurde in Kairo eine bestimmte Lesung des Korans gedruckt. Diese zeichnete sich sachlich durch nichts von den anderen (95), breitete sich jedoch wegen historischen Zufälligkeiten stärker aus als andere (108). Bei vielen Vorkämpfern „für Fortschritt und Modernisierung“ (95) wird nun geleugnet, dass mehrere Koranlesarten möglich seien. Die „Modernisierung des Islams“ ist dadurch mit einem Ersetzen eines mehrdeutig sprechenden Gottes zu einem, der eindeutig spricht (118f.) verbunden. Gleichzeitig damit ging jedoch auch gerade die Flexibilität verloren, die in der Moderne eigentlich notwendig ist (Die westliche Moderne gewann die Flexibilität durch die Trennung des religiösen vom weltlichen Bereich im Zuge der Aufklärung; die Ambiguität der arabisch-islamischen Welt hätte von sich aus gute Voraussetzungen dafür geboten).

Die bisherige ambiguitätstolerante Elite wurde in Defensivpositionen gedrängt (96). Deshalb fand im 20. Jahrhundert auch keine „Re-Islamisierung“ statt, sondern eine Neuschaffung des Islam als einer Ideologie, „die die Strukturen der westlichen Ideologien in der islamischen Welt als die einzige „eigene“ Alternative“ versteht (52). Islamische Fundamentalisten sehen deshalb die eigene Geschichte häufig als „Prozess von Verfall und Dekadenz“ (52) an. Der fundamentalistisch-islamische Diskurs übernimmt gleichzeitig die Denkstruktur der westlichen Ideologien (Forderung nach Eindeutigkeit) und setzt sich gleichzeitig inhaltlich dagegen ab (269). Im folgenden Bild werden einige Reaktionsmöglichkeiten des Islams auf die neuen Erfordernisse dargestellt:

Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde dann auch versucht, die politische und religiöse Autorität zu verbinden (341). Das Ziel einer einheitlichen islamischen Perspektive für alle Aspekte des öffentlichen Lebens, der Kultur und der Politik entstand erst seit den 70er Jahren des 20.Jhd. (342).