In einer kleinen Gruppe treffen wir uns aller paar Monate in Berlin, um den Philosophen Hegel besser zu verstehen.
Ich selbst kann ja nur ab und zu zu Wochenendveranstaltungen nach Berlin fahren, und so stand am vergangenen Wochenende die sog. „Begriffslogik“ von Hegel im Mittelpunkt unseres Gruppen-Selbststudiums. Wir lesen gemeinsam derzeit nicht direkt Hegel, sondern einen erläuternden Text seines Schülers Johann Erdmann.
In der „Begriffslogik“, die Erdmann viel schöner und passender „Logik der Freiheit“ nennt, kommt Hegel zum Abschluss seiner Logik, d.h. der „Tätigkeit des Geistes, die zu ihrem Produkte das Allgemeine hat“ (Erdmann § 5: 3).
Ich habe an vielen Stellen schon etwas zum Verhältnis der drei Sphären der Logik bei Hegel (Seinslogik, Wesenslogik, Begriffslogik) geschrieben, aber noch nichts zur Begriffslogik. Wie immer habe ich die betreffenden Teile der Hegelschen Texte schon öfter mal gelesen, mal mehr oder weniger studiert – aber für die Begriffslogik hatte ich leider noch nie die Muße, etwas aufzuschreiben (das hilft mir auch beim Ordnen der Gedanken). Nun ja, kann ja noch werden.
Für Interessenten kann ich nur verraten, dass es hier so ziemlich ums „Eingemachte“ geht. Es geht um das Verhältnis von Allgemeinem, Einzelnen und Besonderem, wobei sich dies entsprechend der Eindringtiefe der begreifenden Vernunft auch verändert und konkretisiert. Wichtig ist diese Frage z.B. für alle Probleme des „Zusammendenkens“ von Gesellschaftlichkeit und Individualität.
Das „Allgemeine“ ist nicht nur das Gemeinsame, das allen Elementen, die ihm irgendwie unter geordnet sind, zukommt. Es gibt so eine Allheit durchaus, so haben z.B. alle Menschen Ohren. Aber das ist nicht so wichtig wie z.B. die Betrachtung, dass jedes Individuum ein Bestandteil der Gattung Menschheit ist. Das ist etwas, was jedem Individuum wesentlich zukommt. Das Allgemeine erzeugt hier seine Einzelnen und jedes Einzelne enthält das Allgemeine auf eine besondere Weise. Aus der Perspektive heraus, dass die menschliche Vernunft über alle individuellen Leben und über alle biologische Reproduktion hinaus wesentlich ist, haben wir noch eine höhere Form von Allgemeinheit erreicht: die Allgemeinheit, die sich und ihre Bestandteile selbst nicht mehr nur aus biologischen Notwendigkeiten heraus produziert und damit reproduziert, sondern die selbst freies Wirken ist. Frei ist dieses Wirken, insofern es nicht von anderem abhängig ist (auch nicht von äußeren Bedingungen) und insofern es sich auf sich selbst bezieht (Das Leben muss sich nicht wissen, um zu leben; der Geist hingegen muss sich wissen, um Geist zu sein.). Einzeln ist etwas dann, wenn es Allgemeines als Wirklichkeit (Wirkendes) in besonderer Weise ist, also eine Einheit von Allgemeinem und Besonderm.
- Ein lebender Organismus vereint das Moment der Allgemeinheit (des Lebens) und das der Besonderung (die Unterscheidung von Leben und Nicht-Leben).
- „Ich“ als Individuelles, mich selbst Bewirkendes bin eine unverwechselbare Einheit, ein Mensch als genau dieser Mensch, der ich bin, ich beziehe mich auf mich selbst und bin damit die Einheit des Allgemeinen („Ich“ als das, was alle selbstbewussten Wesen sind) und ich finde mich selbst unterschieden von dem, was Nicht-Ich ist („Ich“ als Besonderes).
Wir können dies alles noch genauer untersuchen, wenn wir Hegel beim Durchgang durch die Urteils- und Schlussformen folgen. Der Unterschied zur formalen und traditionellen Logik besteht hier darin, dass sich in Hegels Logik die Form nicht vom Inhalt trennen lässt; es gibt in diesem Sinne keine „formale Logik“ bei ihm. Nur jeweils der abstrakte Ausgangspunkt der weiteren Entwicklung entspricht den bekannten logischen Formen (z.B. Syllogismen). Wenn der Inhalt mit dazu gedacht wird, zeigt sich, dass diese Formen z.B. daran einen Mangel haben, dass eine Aussage von Zufälligkeit bestimmt ist und das Urteil oder der Schluss damit nicht vollständig gültig ist. Dann fällt uns eine neue Urteils- oder Schlussform ein (oder wir lesen sie bei Hegel und Erdmann), die diesen Mangel behebt. … Aber die neue Form hat wiederum einen Mangel, der durch eine weitere Form aufgehoben wird. Das Ziel ist eine Form, bei der nichts mehr willkürlich ist, bei dem nichts mehr von außen, also quasi „fremdbestimmt“ wird und bei der der gewünschte Inhalt vollständig enthalten ist.
- Ich kann also sagen: Obersatz „H2O ist entweder Eis, Wasser oder Dampf.“ Untersatz: „Dies ist weder Eis noch Wasser“. Schluss: „Als ist dies Dampf.“ (Beispiel aus den Postern von Hegel-System, von denen eins auf dem Bild unten zu sehen ist.)
Dies ist nur aus sich selbst heraus bestimmt, von nichts Anderem (deshalb „frei“ im Sinne Hegels) und außerdem noch vollständig. Bei Hegel strebt alle Erkenntnis (mindestens) nach solch einer Frei- und Vollständigkeit (dass da nichts „Beliebiges“, „Willkürliches“ bzw. „Offenes“ mehr ist, wird ihm oft angekreidet). Dass solch ein Schluss nichts nur Ausgedachtes, Subjektives ist, sondern mangelhaft bleibt, solange es nicht mit dem Objektiven zusammen kommt, folgt dann auch noch. Etwas Subjektives ist ein Subjekt nur insofern es wirksam ist und damit wirklich und das bedeutet auch objektiv. Ganz verkürzt ist dies einer der Übergänge ins Objektive. Wenn sich Subjektives gegenüber Objektivem als Zweck zeigt, so gibt es auch ein Mittel als das Objekt, das durch den Zweck auf andere Objekte einwirkt. Wenn wir die Gesamtheit der ablaufenden Prozesse, in denen Mittel für Zwecke wirken, betrachten, so zeigt sich, dass auch ein realisierter Zweck selbst über sich hinaustreibt und selbst zum Mittel für neue Zwecke wird. In einem Prozess, in dem diese Zweck- und Mittelwirkung so vermittelt ist, dass es um seine eigne Entwicklung als Selbstzweck geht, haben wir schließlich mit Hegel die höchste Form des logischen Begreifens erreicht. Die verschiedenen Formen, über die Zwecke und Mittel in einem Verhältnis stehen können, kann man auch verwenden, um die Beziehungen zwischen Menschheit und Natur zu kennzeichnen. Am einfachsten wäre es, wenn die Natur sich den Zwecken der Menschen widerstandslos ergeben würde. Das einfache Aufsammeln und Essen von Naturprodukten entspräche dem. Menschen jedoch arbeiten, sie vollziehen ihren „Stoffwechsel mit der Natur“ mit Hilfe der Verwendung von Werkzeugen (also Mitteln, wobei diese sich vom Werkzeuggebrauch von Tieren unterscheidet). In einer ersten Form gehen wir dabei so vor, als würden wir die Natur „überlisten“ wollen. Auch Ernst Bloch verwendet dafür den Begriff „Überlistungstechnik“ in kritischer Absicht. Wo wäre nun die Form eines freien Verhältnisses von Mensch und Natur („Allianztechnik“ nach Bloch) zu suchen? Manches lässt sich ja eher denken als gesellschaftlich verwirklichen. Bei Hegel finden sich Hinweise. Ich hab es noch nicht genau ausgearbeitet, aber mir kommen Ideen, wenn ich etwas lese von „produktivem Produkt“ von einer Analogie zum Leben, wo sich der Zweck nicht realisiert gegen ein fremdes Material, dem er Gewalt antut, sondern „es wird sich dieser Zweck verwirklichen in solchen Mitteln, welche in der Realisation desselben selbst als Zweck gelten.“ (Erdmann § 214) Auf jeden Fall war das gemeinsame Lesen, Verständnisfragen diskutieren, auch mal verwandte Fragen debattieren in der netten Runde wieder sehr angenehm.
Wenn ich mir überlege, wie viele Menschen inzwischen Freude daran finden, die Fähigkeiten ihres Körpers sportlich zu betätigen, finde ich es schade, dass die allermeisten die selbe freie – auch einmal zumindest zeitweise unmittelbar „nutz“-lose – Betätigung für ihren Geist eher meiden als suchen.
Juli 8, 2009 at 7:00 am
Der vorletzte Satz ist irgendwie unvollständig…
Juli 8, 2009 at 3:49 pm
Danke für den Hinweis. Da war am Schluss irgendwas verloren gegangen. Glücklicherweise gibts ja die „alten Versionen“ zum Reparieren…
Beste Grüße
von Annette
Juli 23, 2009 at 8:10 am
Hallo!
Heute will ich mich doch mal outen: Ich habe den heimlichen Verdacht, Hegel steht auf den Füßen, und der Marxismus hat ihn auf den Kopf gestellt.
Gruß Georg
November 14, 2015 at 7:28 pm
Hegels Äußerung zum preußischen Staat als Vollendung des Weltgeistes zur Kenntnis genommen?
November 15, 2015 at 12:18 am
Wo ließe sich das „zur Kenntnis nehmen“ außer bei Interpretationen, die Hegel nicht genau wieder geben?
November 14, 2015 at 7:31 pm
„Das Allgemeine erzeugt hier seine Einzelnen“: wie geht das physikalisch vonstatten?
November 14, 2015 at 7:34 pm
„Aus der Perspektive heraus, dass die menschliche Vernunft über alle individuellen Leben und über alle biologische Reproduktion hinaus wesentlich“: Wie stellt sich das für, sagen wir, den Ameisenbär dar?
November 14, 2015 at 7:38 pm
„Einzeln ist etwas dann, wenn es Allgemeines als Wirklichkeit (Wirkendes) in besonderer Weise ist, also eine Einheit von Allgemeinem und Besonderm. “
Was ist „Allgemeines als Wirklichkeit“, das _nicht_ „in besonderer Weise“ ist?
November 15, 2015 at 12:20 am
Das gibts nicht.Es gibt abstrakes Allgemeines, das keine Besonderungen in sich kennt, und das konkret Allgemeine, das aus seinen besonderen Momenten heraus konstituiert wird. Nur so ist Wirklichkeit (nichts Abstraktes ist wirklich).
November 15, 2015 at 9:35 am
Danke für die Erklärung! (Ich hatte jene Formulierung missverstanden.)
November 14, 2015 at 7:40 pm
Ich hoffe, Du bist Dir bewusst, auf welches Glatteis der verweis auf Syllogismen führen kann 🙂
November 15, 2015 at 12:21 am
Naja, Figuren auf diesem Eis hat Hegel vorgezeichnet, da muss man aber ziemlich üben, um die zu beherrschen… (ich muss ich immer mal wieder neu anfangen und habe sie leider mangels genügend Zeit und Beschäftigung damit nicht voll verinnerlicht).
November 15, 2015 at 12:24 am
Ich hatte mal mit einer Nachzeichnung dieser Figuren begonnen, hab aber nur die Urteilslogik geschafft (https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2013/02/12/menschliche-verhaeltnisse-begreifen/). Was zur Schlusslogik aufzuschreiben, hab ich dann nie geschafft (obwohl ich meine Notizen dazu schon fertig habe).
November 14, 2015 at 8:17 pm
Hinweis aus der „Real-Wissenschaft“: das Wesen der Körper bei Euler
November 15, 2015 at 12:25 am
Das wäre ein Thema für die „Naturphilosophie“ bei Hegel und unsere Konzepte dazu… Leider schaff ichs nicht, wie es Hegel wohl konnte, ständig auf allen diesen Gebieten immer aktuell zu bleiben…
November 15, 2015 at 9:47 am
Nach Euler (Anleitung zur Naturlehre, Kap. 5) gibt es 4 allgemeine Eigenschaften der Körper; „allgemein“, weil sie _allen_ Körpern zukommen: Ausdehnung, Beweglichkeit, Standhaftigkeit (Trägheit), Undurchdringlichkeit. „Alles[,] was undurchdringlich ist, gehört in das Geschlecht der Körper, und daher besteht das Wesen der Körper in der Undurchdringlichkeit, in welcher folglich alle übrigen Eigenschaften ihren Grund haben.“ (§ 39)
November 15, 2015 at 10:41 am
Hm, und was sagt mir das über die Begriffslogik?
November 15, 2015 at 2:18 pm
Es ist ein Beitrag zum Thema „Wesen“
November 15, 2015 at 4:15 pm
Allgemein im Sinne Eulers, d.h. allen Körpern zukommend, ist eine abstrakte Allgemeinheit. Das ist aus Hegels Sicht eine sehr unvollkommene Art des Allgemeinen, obwohl eine durchaus notwendige Durchgangsstufe des Erkennens.
Worauf Hegel hinaus will ist eine Allgemeinheit, die von der Vielfalt der Besonderheiten ihrer Momente nicht abstrahiert, sondern diese geradezu braucht. Das Ganze wird immer erst dann erkannt, wenn nichts mehr abstrahiert wird, wenn der zu erkennende Gegenstand in der ganzen Fülle seiner besonderen Bestimmungen begriffen wird, wenn also in dem Besonderen die Einheit gedacht wird, die die aus der Menge dieser Momente etwas macht, was aus sich heraus (und der widersprüchlichen Bewegung seiner Momente) erklärbar wird.
Das ist letztlich eine philosophische Überlegung, die nicht direkt auf Naturwissenschaft führt. Innerhalb der Naturphilosophie würde ich durch diese an Hegel geschulte Orientierung aber dazu kommen, mich jeweils zu fragen, wodurch ganz konkret die Undurchdringlichkeit bei diesem oder jenen Körpertyp letztlich entsteht. Das ist ja für verschiedene Körper auf verschiedenen Ebenen (Atom, Schreibstift, Stern…) sicher unterschiedlich. Und es kommt Hegel darauf an, die Einheit – das Allgemeine – nicht nur im Abstrakten zu sehen (in gewisser Weise sind diese Dinge alle „undurchdringlich“), als zu sehen: In welcher Weise ist ein Atom eine eigenständige (vielleicht auch im Sinnen von „Undurchdringlich“, also isoliert gegen bestimmte Einflüsse von außen) Einheit, ein Atom, ein Schreibstift und eine Sonne?
November 15, 2015 at 8:06 pm
AS:
Allgemein im Sinne Eulers, d.h. allen Körpern zukommend, ist eine abstrakte Allgemeinheit. Das ist aus Hegels Sicht eine sehr unvollkommene Art des Allgemeinen, obwohl eine durchaus notwendige Durchgangsstufe des Erkennens.
PE:
Für mich sind Ausdehnung, Beweglichkeit, Trägheit, und Undurchdringlichkeit ganz konkrete physikalische Eigenschaften, z. T. mit physikalischen Maßen.
AS:
Worauf Hegel hinaus will ist eine Allgemeinheit, die von der Vielfalt der Besonderheiten ihrer Momente …
PE: Was genau meint „Momente“?
AS:
… nicht abstrahiert, sondern diese geradezu braucht. Das Ganze wird immer erst dann erkannt, wenn nichts mehr abstrahiert wird, wenn der zu erkennende Gegenstand in der ganzen Fülle seiner besonderen Bestimmungen …
PE:
Dass die Naturwissenschaft genau das _nicht_ tut, scheint Goethes Kritik an Newtons Farbenlehre zu sein
AS:
… begriffen wird, wenn also in dem Besonderen die Einheit gedacht wird, die die aus der Menge dieser Momente etwas macht, was aus sich heraus (und der widersprüchlichen Bewegung seiner Momente) erklärbar wird.
PE:
das ist mir zu abstrakt, tut mir leid
AS:
Das ist letztlich eine philosophische Überlegung, die nicht direkt auf Naturwissenschaft führt. Innerhalb der Naturphilosophie würde ich durch diese an Hegel geschulte Orientierung aber dazu kommen, mich jeweils zu fragen, wodurch ganz konkret die Undurchdringlichkeit bei diesem oder jenen Körpertyp letztlich entsteht.
PE:
Das genau ist _nicht_ die Frage. Für Euler ist die Ursache der Undurchdringlichkeit unbekannt, ebenso wie für Newton die der Gravitation („hypotheses non fingo“) und für Maxwell die der elektrischen Ladung. – Es gibt keine (verschiedenen) „Körpertyp[en]“ (wie kommst Du darauf?
AS:
Das ist ja für verschiedene Körper auf verschiedenen Ebenen (Atom, Schreibstift, Stern…) sicher unterschiedlich.
PE:
Ist es nicht
AS:
Und es kommt Hegel darauf an, die Einheit – das Allgemeine – nicht nur im Abstrakten zu sehen (in gewisser Weise sind diese Dinge alle “undurchdringlich”), als zu sehen: In welcher Weise ist ein Atom eine eigenständige (vielleicht auch im Sinnen von “Undurchdringlich”, also isoliert gegen bestimmte Einflüsse von außen) Einheit, ein Atom, ein Schreibstift und eine Sonne?
PE:
Das würde ihn von Euler unterscheiden: Da die Undurchdringlichkeit kein Maß besitzt, ist sie für alle Körper gleich. (Woraus Newtons 3. Axiom folgt. – Physikalische Axiomatik unterliegt gefühlt vergleichbaren logischen Zwängen wie philosophische Axiomatik, und außerdem der experimentellen Überprüfung.)
Meine liebe Frau schläft – nach ihrem langen Flug – vor unserer Büchervitrine mit dem Hegel-Lexikon der Jahrhundert-Ausgabe, daher bitte etwas Geduld
November 15, 2015 at 8:20 pm
Ja, ich weiß ja eh nicht so viel mit Euler an dieser Stelle anzufangen, ich wollte nur versuchen, darauf konstruktiv einzugehen. Aber wenns dann auch wieder falsch wird… Irgendwie reden wir bei Hegel und Euler über Obst und Gemüse und wundern uns, dass das dann nicht passt.. , oder?