Deshalb kam es für mich gelegen, als nächsten Artikel auf dem ungeordneten Stapel einen politökonomischen Text zu finden. Hans B., mit dem ich mich seit einigen Jahren vor allem per eMail austausche, hatte mich vor kurzem auf der Durchreise kurz besucht und im Gespräch verwies er auf einen Artikel, den er mir unbedingt geben wollte. Er schickte ihn mir dann per Post. Es ist der Text „Das Kapital wieder lesen. Eine Alternative zur Wertkritik“ von Karl Reitter (2006).

Der oben bereits beschriebene Teufelskreis des allgemeinen „Verblendungszusammenhangs“ wird politökonomisch durch die wertkritische Theorie (Robert Kurz) bestärkt und fundiert. Robert Kurz propagiert seit den 80er Jahren eine Marx-Lektüre, die einen „anderen Marx“ als jenen des Traditionsmarxismus entdecken will. Der traditionelle Marx, jener Marx der Arbeiterbewegung, bietet nach Kurz nur eine immanente Kapitalismuskritik, eine Kritik die noch ein gemeinsames Bezugssystem mit dem Kapitalismus hat, nämlich den Bezug auf den politökonomischen „Wert“. Auch die sozialistische Gesellschaft wollte den politökonomische Wert noch nicht abschaffen, seine Aneignung sollte lediglich nicht mehr privat erfolgen. Dem muss nach Kurz entgegen gehalten werden, dass der Kern des Kapitalismus gerade die Vergesellschaftung über das Wertgesetz ist („Wert-Vergesellschaftung“) und insofern auch der Arbeiterbewegungssozialismus sich noch innerhalb dieses Bezugssystems aufhielt. Eine angemessene Kritik des Kapitalismus muss „den Wert“ kritisieren.

Diese Kritik weiß aber nicht mehr, woher sie kommt. Es wird behauptet: „Die Menschen haben sich in bloße Anhängsel einer verselbständigten Ökonomie verwandelt, deren Bewegungsgesetzen sie allesamt ausgeliefert sind wie die Lemminge ihrem „dunklen Trieb““. (Kurz 2000: 57) Ja, „diese komplett verrückte Herrschaft eines verdinglichten, automatischen Subjekts ist schwer zu begreifen“ – glücklicherweise haben wir Robert Kurz, der sie uns erklärt.
Einerseits vertieft die Sichtweise der Wertkritik die Kritik am Kapitalismus, weil sie verständlich macht, dass der „Wert“ den wesentlichen Kern des Kapitalverhältnisses kennzeichnet und keine Kapitalismuskritik mehr hinter die Kritik der Wert-Vergesellschaftung zurück fallen sollte. Andererseits ergibt sich mit der reinen Wertkritik erneut das Dilemma des Teufelskreises. Da das Kapital als verdinglichtes, automatisches Subjekt alles durchherrscht, lassen sich alle Erscheinungen in seinem Herrschaftsbereich als letztlich kapitalistisch „kontaminiert“ aufzeigen. Alle möglichen Projekte, die darüber hinaus weisen wollen, erweisen sich als kapitalismusimmanent. Kein Ausweg – nirgends!

Dem will der Text von Karl Reitter widersprechen. Ich möchte hierzu ein wenig ausholen und an einen schon recht alten und sicher unbekannten Text von Camilla Warnke erinnern. Sie unterschied einen abstrakten und einen konkreten Begriff des Kapitals. Während der abstrakte Begriff im Kapital nur einen sich selbst verwertenden Wert sieht, erfaßt der konkrete Begriff den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital. „Konkretheit“ hat nichts mit unmittelbarer Sinnlichkeit zu tun, sondern verweist auf die Hegelsche Bedeutung der Konkretheit . Bei der Konkretisierung des abstrakten Begriffs des Kapitals als sich selbst verwertender Wert muss diese abstrakte Identität in ihren sie konstituierenden Widerspruch zurück geführt werden (der sich aus dem Doppelcharakter der Arbeit ergibt). (Warnke 1979: 294)

Dies realisiert nun K. Reitter. Er unterscheidet jeweils zwischen Wirkungsfeldern des Wertgesetzes und jenen Bereichen, in denen es nicht wirkt. Das Wertgesetz bezieht sich auf den Austausch adäquater Wertmengen. Im Prozess Geld – Ware– mehr Geld (G–W–G´) unterliegt jeweils der Austausch G–W und W–G´ durchaus dem Wertgesetz. Aber eine Ware ist anders als alle anderen: die Ware Arbeitskraft: Zwar wird sie aus der Perspektive der Zirkulation her gesehen wie eine gewöhnliche Ware (W) gegen Lohn (G – entspricht der notwendigen Arbeitszeit zu ihrer Reproduktion) getauscht, aber ihre Besonderheit zeigt sich darin, dass bei ihrer Anwendung MEHR Wert erzeugt wird, als sie kostet. Menschen können mehr produzieren als sie zu ihrer Reproduktion bedürfen (nur dies wird im Lohn erfasst) – und unter kapitalistischen Bedingungen wird der Kapitalist diese Mehrproduktion in Form von Mehrwert abpressen und abschöpfen.

Diese Mehrwertproduktion unterliegt jedoch nicht mehr dem Wertgesetz. In welcher Weise, wie lange und wie intensiv gearbeitet wird, wird nicht durch das Wertgesetz bestimmt, sondern unterliegt sozialen Kämpfen. Es ist der Mehrwert, der sich aus der Besonderheit der Ware Arbeitskraft ergibt, der aus dem Teufelskreis des sich lediglich entsprechend der Wert-Selbstverwertung heraushebt.

Der Arbeiterbewegungsmarxismus führte diesen Gedanken weiter in die Richtung, dass deshalb die Mehrwertproduzenten, also das Proletariat, quasi bereits mit einem Bein außerhalb des Kapitalismus stünden und erklärten damit dessen „historische Mission“ zur Überwindung des Kapitalismus. Dieses Konzept ist heute obsolet, damit braucht aber nicht die besondere Rolle der mehrwertproduzierenden Arbeit negiert zu werden, wie es in der Wertkritik erfolgt. „Wer bloß vom „automatischen Subjekt“ (MEW 23: 169) und dem Wertgesetz spricht, versucht mit einer Schwarz-Weiß Kamera, Farbbilder aufzunehmen. Aber das Argument, die Bilder der Kamera würden beweisen, dass Rot und Grün bloße Grautöne seien, überzeugt nicht wirklich.“ (Reitter 2006: 19)

Franz Schandl hatte schon 2004 einen Artikel geschrieben, in dem er darauf insistiert, dass auch der Mehrwert nichts außerhalb des Werts ist, sondern vom Wert gesetzt ist (Schandl 2004: 5). Zwar erläutert er dann die Besonderheit des Mehrwerts, dass er auf der „Differenz zwischen dem Wert und der Verwertung des Arbeitsvermögens“ (Marx MEW 26.1: 13-14) beruht, aber politisch soll das keine Auswirkungen haben. Schandl gibt sich viel Mühe, weiterhin die alte Vorstellung vom Klassenkampf als Kampf um einen höheren Anteil am Mehrwert zurückzuweisen. Damit hat er Recht und Unrecht. Er hat Recht, darauf zu verweisen, dass es in einer wertfreien Gesellschaft auch keinen Mehrwert mehr gibt (sondern höchstens ein Mehrprodukt) und dass es nicht ausreicht, nur um die Verteilung des Mehrwerts zu kämpfen. Er übersieht aber, dass die Differenz zwischen Wert und Verwertung des Arbeitsvermögens zur Quelle wesentlicher Widersprüche werden kann, auf deren Grundlage soziale Kämpfe ausgefochten werden können und müssen, die dann nicht mehr immanent sind.

Karl Reitter betont in seinem Beitrag, dass es der soziale Klassenkampf ist, der den Teufelskreis durchbricht, welcher von vornherein nicht alle Momente des kapitalistischen Systems umklammern kann. Als entscheidenden Inhalt des Klassenkampfes sieht er den „Widerstand gegen das zur Klasse gemacht werden, die Opposition gegen die lebenslange Einpressung in das Lohnarbeitsverhältnis.“ (ebd.: 20)

Auch eine objektive Tendenz, die diesen Kämpfen entgegen kommt, erwähnt Reitter. Er setzt auch hier mit einer Unterscheidung an: Die Produktivkraft der Arbeit hängt direkt mit der Wertbildung zusammen. Sinkt die notwendige Arbeitszeit, sinkt der produzierte Wert und umgekehrt. Faktoren wie Technik, Wissenschaft, Arbeitsorganisation, allgemeine Infrastruktur usw. sind nicht direkt Produktivkräfte, sondern Faktoren, die die Produktivität beeinflussen. Sie bilden nicht selbst Wert. Sie „bestimmen zwar die gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit, gehen aber als solche nicht in den Wert der produzierten Waren ein“ (ebd.: 29).

Bereits Marx erkannte, dass der Kapitalismus eine Voraussetzung hat: die „Masse unmittelbarer Arbeitszeit, das Quantum angewandter Arbeit als der entscheidende Faktor der Produktion des Reichtums.“ (Marx MEW 42: 600) Diese Voraussetzung löst sich auf, wenn die Menge an aufgewandter Arbeit nicht mehr der entscheidende Faktor für die Produktion des Reichtums ist! „In dem Maße aber, wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und die selbst wieder – deren powerful effectiveness – selbst wieder in keinem Verhältnis steht zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie, oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Produktion.“ (ebd.)

Reitter schreibt: „Die allgemeinen gesellschaftlichen Voraussetzungen und Verhältnisse für die Produktivkraft der Arbeit sind so bedeutend, dass die tatsächlich benötigte Arbeitszeit dagegen unwesentlich wird.“ (Reitter 2006: 25).

Dies trifft sich dann fast wieder mit der Analyse der Wertkritik, wonach der Zuwachs an Wert durch das Abschmelzen der Quelle seiner Vermehrung (Mehrwert), der lebendigen Arbeit, immer geringer wird.

Beide Hinweise deuten darauf hin, dass die Voraussetzungen des Kapitalismus sich aufheben – allerdings bricht damit nicht automatisch eine bessere Welt an. In den sozialen Kämpfen geht es nicht mehr nur um eine Erhöhung des den Arbeitern zugemessenen Anteils am Mehrwert, es geht darum, den Kapitalismus, der alle möglichen und unmöglichen Quellen für neue Akkumulationsschübe aufsaugen möchte, daran zu hindern, die Lebensbedingungen auf unserem Planeten noch mehr zu zerstören auf diesem Weg.

Also, auf in die sozialen Kämpfe…!!!


Literatur:

Behrens, Roger (o.J.): Postmoderne. Edition: wissen 3000. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt.

Haug, Frigga (2001): Erinnerungsarbeit. Hamburg: Argument-Verlag. (Erstausgabe 1990)

Haug, Frigga (1999): Vorlesungen zur Einführung in die Erinnerungsarbeit. The Duke Lectures. Hamburg: Argument-Verlag.

egel, (HW 16): Vorlesungen über die Ästhetik. In G.W.F. Hegel Werke in 20 Bänden. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1970.

Kurz, Robert (2000): Marx lesen. Die wichtigsten Texte von Karl Marx für das 21. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Eichborn.

Marx, Karl (MEW 42): Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie. In Marx, Engels: Werke. Band 42. Berlin: Dietz 1983.

Reitter, Karl (2006): Das Kapital wieder lesen. Eine Alternative zur wertkritischen Interpretation. grundrisse 17/2006, S. 13-27.

Schandl, Franz (2004): Mehrwert und Verwertung. Ausführungen zum Okkultismus der Ware Arbeitskraft. Streifzüge Nr. 230/ April 2004, S. 5-8.

Warnke, Camilla (1979): Lenins Dialektik-Konzept und linksradikale Imperialismus-Deutungen. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 27 (1979) Heft 3, S. 288-300.

Willis, Paul (1990): Erziehung im Spannungsfeld zwischen Reproduktion und kultureller Produktion. Das Argument 179/1990, S, 9-28.