Ich besuchte auf dem Kongreß „Make Capitalism History“ zwei Veranstaltungen mit Wolfgang Fritz Haug über die Themen „Kapitalismus und Kultur“ und „Warenästhetik“.

Inhaltlich ging es um eine Theorie, die W.F. Haug zu Anfang der 70er Jahre erarbeitete, die ihn bekannt machte und die er 2006 um die Aktualisierung des Themas „im High-Tech-Kapitalismus“ erweiterte. In meinem folgenden Veranstaltungsbericht gehe ich auch auf sein Buch „Kritik der Warenästhetik“ ein.

Zu Beginn der Veranstaltung war der Seminarraum erst spärlich gefüllt, so dass wir mit einer Vorstellungsrunde beginnen konnten. W. F. Haug erfragte dabei, welchen Bezug wir zum Thema „Kultur“ haben und was wir darunter verstehen. Haug betonte daraufhin, welche Vielfalt an Erfahrungen, Wissen und Positionen wir in diesem Raum verkörpern, der sich nach und nach tatsächlich noch gefüllt hatte. Normalerweise bringt nur das Kapital solch ein Potential zusammen…

Inhaltlich bezog Haug sich dann beim Kulturthema zurück auf die Debatte um Entfremdung und Verdinglichung mit Georg Lukácz, die durch die Kritische Theorie um den Begriff der „Kulturindustrie“ erweitert worden war. Diese Erweiterung litt aber darunter, dass sie elitäre Tendenzen gegen die kulturelle Praxis der „Massen“ bestärken konnte und sich eher dazu eignete, sich überheblich-besserwisserisch zurückzuziehen als politisch handlungsfähig zu werden.

W. F. Haug selbst begann mit einer Allegorie zur Entfremdung: Wie in seinem Buch (S. 168) beschrieb er einen Werbeklassiker: Auf dem Markusplatz von Venedig werden Futterstücke für die Tauben so ausgelegt, dass sie den Schriftzug „Coca Cola“ bilden und dann fotografiert werden.
Dazu kommentiert er:

„Das Arrangement ist den Tauben absolut fremd und äußerlich. Während sie sich das Futter einverleiben, sind sie unters Kapital subsumiert und von ihm einverleibt.“ (S. 168 f.)

Diesem Muster folgen nicht nur Tauben; Haug ergänzt dieses Beispiel durch ein späteres, bei dem sich Menschen nackt für eine Werbekampagne einer Bekleidungsfirma fotografieren lassen. Hinter diesem „Werbegag“ steckt mehr als innovatives Marketing.

Aus kritischer Sicht ist festzuhalten: Produkte werden nicht allein wegen ihrem Nutzen für den Gebrauch gekauft, der ist vor dem Verwenden ja auch gar nicht überprüfbar. Auf dem Markt gilt allein das Versprechen eines Gebrauchswerts und dieses Versprechen wird dargestellt durch die äußere Gestaltung des Produkts und die Art und Weise seiner Präsentation. Das sinnlich Wahrnehmbare, als „schön“ zurecht Gemachte, das Ästhetische wird zum Träger des Gebrauchswertversprechens und dieses steht im Mittelpunkt. In der kapitalistischen Wirtschaft geht es dabei nicht primär tatsächlich um die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, sondern das Erzielen von Profit. Der Gebrauchswert ist nur zugunsten des realisierbaren Tauschwerts da. Deshalb steht auch die Warenästhetik, d.h. das Gebrauchswertversprechen „unter der Herrschaft des Werts“ (S. 328).

Die wachsende Rolle der Warenästhetik und des Gebrauchswertversprechens wird offensichtlich bei jedem Kaufhausbesuch.

„Die Waren stecken in einer Art Gelee aus Prestige, Gesundheit und Schönheit.“ (S. 156) „Diese Dinge sind nicht gewöhnlich, keine gewöhnlichen Lampen, Schuhe, Schirme, Hüte, Vorhänge, sondern Repräsentanten eines vorgestellten Glücks.“ (S. 159)

Deshalb leben wir in einer Welt, die nicht mehr durch direkte Auseinandersetzungen mit der Welt erlebt wird, sondern das Imaginäre, das Bild, das durch Medien Vorgeführte schiebt sich zwischen uns und die Welt und bestimmt unser Weltverhältnis (Haug auf dem MCH-Kongress). Nun gibt es viele weltanschauliche und philosophische Ansätze (wie der von Baudrilliard), die dies beschreiben, oft sogar begeistert feiern. Mit dem Niedergang der marxschen Kapitalismuskritik seit den 80er Jahren geriet das Konzept der „Warenästhetik“ auch eher in Vergessenheit. Aber es ist in der Lage, die Erscheinungen zu erfassen, sie gleichzeitig nicht einfach ableitungstheoretisch aus einer unveränderlichen Substanz abzuleiten, sondern als Erscheinungsform von wirklichen Verhältnissen zu entschlüsseln, die unser Leben hinter allen Simulationen dennoch bestimmen. Die Digitalisierung im High-Tech-Kapitalismus macht da qualitativ keinen Unterschied. Zwar werden das Imaginäre der Marken und deren ästhetische Präsentationsweisen „zu Determinanten des Realitätsverständnisses“ (S. 259), aber das bedeutet nicht, dass die wirklichen Verhältnisse verschwinden, sondern dass ihre analoge Referenz durch eine digitale ersetzt wird (S. 335).

Was uns da bestimmt, ist gar nicht nur etwas uns Äußerliches. Wir werden nicht von außen beherrscht – sondern die neuen Herrschaftsformen nutzen unsere eigenen Begehren und Wünsche, indem sie sie so aufgreifen, dass sie nicht mehr am Tauschwert vorbei können und Profit bringen. Dass auch ich im KaDeWe etwas gefunden habe, was mich anmacht und was ich gern haben möchte, das liegt nicht an einem Kaufbefehl, auch nicht an Manipulation und Suggestion, sondern an meinen eigenen Wünschen.

Dieser eigene Anteil wird gern geleugnet, wenn über „Konsumterror“ geschimpft wird. Das Schimpfen über den „Konsumterror“ macht uns nur hilflos; es stilisiert das Widerstehen gegen die Versuchungen oder ihr Leugnen als elitären Widerstand und stellt sich damit eher gegen die „dummen Massen“, die im Shoppen ihren Lebensinhalt sehen als gegen die Verhältnisse, in denen der Standpunkt des Tauschwert die Produktion beherrscht.

Hier, wo es um den Modus unserer Bedürfnisbefriedigung geht, befinden wir uns an der Schnittstelle zwischen der notwendigen stofflichen und energetischen Reproduktion unserer Leiblichkeit durch wirtschaftliche Tätigkeit und unserer Subjektivität. Wir sind nicht nur in der Produktion erpresserisch darauf verwiesen, unsere Arbeitskraft an das Kapital verkaufen zu müssen – wir entwickeln auch auf der Konsumtionsseite im Selbstlauf gerade jene Praxen, die unsere Wunschbilder, unsere Identitätsbestrebungen und unsere Begierden in den Dienst der Profitmacherei stellen.

„Nennt es nicht Konsum-Terror, wenn Ihr mit Euren Gelüsten nicht zufrieden seid.“ (Haug)

Konsumverweigerung ist nicht möglich, denn wir müssen Güter konsumieren, um zu überleben. Und eine vollständige außerkapitalistische Bedürfnisentwicklung und –befriedigung ist derzeit nicht oder nur sehr beschränkt bzw. illusionär möglich.

Aber natürlich ist mehr möglich als entsagender Verzicht und Rückzug. Dem Buch und den Veranstaltungen mit Haug entnehme ich zwei widerständige Strategien:

1. Die bestimmte Negation: Wenn in den Gebrauchswertversprechen, im Sinnlichen oder Imaginären des Versprochenen etwas ist, das wir begehren und dessen wir bedürftig sind – so können wir den Inhalt dieses Bedürfnisses gegen seine nur tauschwertförmige Befriedigung in Anschlag bringen. Haug neigt in diesem Sinne dazu, „die Energie, die sich in ihnen [den Illusionen] befriedigt, potentiell sozialistisch zu nennen“ (S. 194). Ich möchte meine Interessen in meiner Wohnumwelt zeigen – aber ich kritisiere die Angebote des KaDeWe dafür, dass sie dies in elitär-intellektualistischer Weise und gegen horrende Kaufkraft anbieten und suche nach Alternativen, bzw. entwickle sie.

2. Beim Kongress skizzierte Haug einen weiteren Ansatz der Widerständigkeit: die „Politik des Kulturellen“ (schon von 1988) . Hier geht es um alltägliche Fragen der Lebensweise und der Repräsentation dieser Lebensweise in allen unseren Beziehungen. Der Kampf um eine neue Kultur umfasst damit wie bei Gramsci ein „neues Lebensgefühl“ und auch „eine neue Weise des Empfindens und Sehens der Wirklichkeit“. Es geht nicht nur um eine neue Produktionsweise, sondern eine neue gesellschaftliche Klasse (bei Gramsci: gruppo) wird auch eine eigene Ausdrucksweise entwickeln.

„Wenn sich keine alternative Kultur der Selbstbestimmung der Vielen herausbildet, bleiben sie subaltern – in unsern privilegierten Bereichen zu zwei Dritteln mit dem Zusatz: Konsumenten.“ (Haug 1988: 25)

Als Politiken des Kulturellen nennt Haug den Feminismus, die Friedensbewegung, die Instandbesetzer, Geschichtswerkstätten usw. Es geht letztlich um das „Sich-Herausarbeiten der subaltern Gehaltenen aus ihrer Unmündigkeit“ (ebd.).

Die so verstandene Kultur ist auf jeden Fall das Vermittlungsfeld zwischen gesamtgesellschaftlichen Bedingungen, in ihrer jeweiligen für die Menschen erlebbaren Weise und der sich in diesem Feld entwickelnden und auf sie einwirkenden Subjektivität.

Auf dem „Make Capitalism History“-Kongress wurden als Beispiele diskutiert die Turnschuhe, mit denen sich einst Joschka Fischer im Bundestag vereidigen ließ. Andere Beispiele waren auf dem Kongress in anderen Workshops direkt Gegenstand des Interesses: Adbusting oder Culture Jamming.

„Das was nicht niet- und nagelfest ist wird schnell eingesackt.
Ein jeder herrenlose Stein zu Scheinen kleingehackt.
Du sahst die blaue Blume und du hast sie doch verschont.
Nur das und nichts weiter mein Sohn ist heut schon Revolution…“
(Gundermann)

Für mich ist dies immer noch sehr unbefriedigend. Die Frage wäre: Inwieweit konnten die oben genannten Frauen-, Friedens-, Öko-, etc.-Bewegungen wirklich eine „neue Weise des Empfindens und Sehens der Wirklichkeit“, ein „neues Lebensgefühl“ etablieren, das zu mehr in der Lage wäre, als wiederum warenförmig befriedigt zu werden und sich damit integrieren zu lassen?

Und: Inwieweit tragen neue Bewegungen und Projekte dazu bei, die auf den Erfahrungen der internetbasierten Vernetzung basieren, wie die Freie Software, die Praxen von Peer-Economy, oder auch die Praxen und Debatten um die Commons …? Bei ihnen geht es nicht nur um eine neue Weise des Produzierens, sondern um die in ihnen erlebte neue Praxis und Kultur. Vielleicht müssen wir das noch stärker herausarbeiten.

Gleichzeitig wehen uns dabei Stürme ins Gesicht. Die wachsende Krisenhaftigkeit auf allen Gebieten befördert auch im Widerstand eher eine „Kultur des Notstands“ als eine Kultur freier Kreativität. Als Bewegung, in der trotz aller Not und allem Ernst die Lebensfreude und Kreativität geradezu zelebriert und damit als Gegenentwurf erlebbar wird, kenne ich eigentlich nur die Anti-Castor-Bewegung direkt im Wendland. Dort agieren auch nicht nur linke Kampagnen, sondern die Menschen vor Ort leben seit Jahrzehnten eine Widerstandskultur, die ansteckend sein könnte. Die Anti-Hartz-IV-Initiativen dagegen zelebrieren bevorzugt, z.B. bei den Montagsdemos, eine Klagemauer-Mentalität, die in zornigen Anrufen an die Herrschenden stecken bleibt und auch deshalb immer weniger Menschen erreicht. Es sollte dabei aber nicht nur um „mehr Geld“ gehen, sondern um ein „Anderes Leben“. Was könnten wir denn alles machen, wenn wir „mehr Geld“ hätten, also genug, um nicht mehr zu Lohnarbeit gezwungen zu werden? Wie wäre es, wenn wir statt der Klagemauer-Demos künftig Montagsfeten organisieren, auf denen dieses mögliche gute Leben ausprobiert wird, wo ein Fest der Lebensfreude und Kreativität, der Ideensuche und Gemeinschaftsentwicklung stattfindet – das wär doch mal was!