Ich komme aus Jena, wo einst Friedrich Schiller in seiner Antrittsrede fragte: „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ Er unterschied bereits damals zwischen den sogenannten Brotgelehrten, denen es nur um kleinliche Ruhmsucht und Belohnung von außen geht und den sogenannten Philosophischen Köpfen, die sich wirklich für ihren Gegenstand interessieren.

Im Jahr 2004 konstatierte der Philosoph Frieder-Otto Wolf, dass es keine inhaltliche Wissen-schaftskritik mehr gäbe.

Nur in einigen Nischen hatte z.B. die feministische Wissenschaftskritik weiter darauf aufmerksam gemacht, dass der Frauenanteil an Physikprofessuren in der Bundesrepublik nur 0,5% beträgt, obwohl wenigstens 10% der Studierenden Frauen sind. Leider reduziert sich die feministische Kritik inzwischen oft auf diese Karriereengpässe. Ursprünglich war die feministische Kritik an Wissenschaft auch von inhaltlichen Fragestellungen geprägt:

  • So ging es darum, dass schon die Fragestellungen und Methoden oft von einer Einseitigkeit geprägt sind, wo der Beherrschungswille stärker ist als das Suchen nach Erklärungen und dem Anspruch, die Zusammenhänge umfassend zu begreifen.
  • So wurde speziell beim Thema Frauengesundheit eine Technikorientierung kritisiert (beispielsweise bei der Frage der Kinderwunschbehandlung) und darauf aufmerksam gemacht, dass die sowieso schon fragwürdigen Rattenversuche wegen der Irritationen durch die weiblichen Hormonänderungen meist nur an männlichen Ratten gemacht werden – aber dann unterschiedslos auch für Frauen gelten sollen. Auch in der Primatenforschung und bei historischen Fragen wurde deutlich, dass Frauen oft typisch andere Fragestellungen und Methoden bevorzugen, die jedoch in der Mainstreamwissenschaft marginalisiert werden.
  • In meiner Erfahrung aber auch in der Literatur sind es erstaunlich oft Frauen, die kritisieren, dass Naturqualitäten durch die vorherrschende Quantifizierung zu oft ausgeblendet werden. Während die Jungs und Männer um mich herum schon von der Berechnung einer Kometenbahn begeistert waren, verwies eine befreundete Amateurastronomin auf einen anderen Aspekt: „Die Kometen sind nicht nur mathematische Objekte – sie sind auch schön!“.

Dieser Verlust des Qualitativen vereint die feministische Wissenschaftskritik auch mit der ökologischen. Ökologische Wissenschaftskritik verweist vor allem auf den dominierenden Standpunkt der Beherrschung und Überlistung der Natur.

Ernst Bloch schrieb dazu:

„Wie an der Ware nur der Preis wichtig ist, so an der Natur nur die quantitative Berechenbarkeit, nicht der qualitative Inhalt.“ (Ernst Bloch)

Es entstehen lediglich „entfärbte Weltbilder“ und Vernunft reduziert sich auf instrumentelle Rationalität ohne wirkliches Be-Greifen der Wirklichkeit.

Damit greift diese Kritik auch tiefer als die bloßen Missbrauchsdebatten. Wissen über physikalische, chemische oder biologische Zusammenhänge in der militärischen Anwendung sind dabei nur eine Seite der Medaille. Die andere entsteht durch die inhaltliche Fehlorientierung wegen der Profitorientierung von Forschung und Entwicklung. Es wird die Gentechnikorientierung gespusht statt ganzheitlicher Ökologieforschung; es wird Kernenergie als forschungsnotwendig dargestellt statt Alternativen als Zukunftsweg zu forcieren und in der Medizin setzen sich die Profitinteressen der Pharmaunternehmen beinah ungebremst durch.

In den Sozialwissenschaften werden bürgerlich-kapitalistische gesellschaftliche Verhältnisse und Verhaltensweisen als die allgemein-menschlichen unterstellt und damit gedanklich verewigt. Gerade in der Psychologie wird durch das übliche Setting für die „Versuchspersonen“ deren Subjektivität methodisch ausgeschaltet. Subjektivität würde darin bestehen, dass die Menschen dieBedingungen ihres Verhaltens selbst bestimmen können, was durch das Setting oder auch die Abfragemethode in den allermeisten Fragebögen systematisch verunmöglicht wird. Menschen werden dann zu Objekten gemacht und ihr objektivhaftes Reagieren auf vorgegebene Bedingungen als „typisch menschlich“ verallgemeinert.

Wir müssen uns eigentlich sogar fragen, was es an den Universitäten noch zu verteidigen gilt. Auch für den Diplomstudiengänge vor dem Bachelor und lange davor galt bereits, was Marx im „Manifest“ konstatierte:

„Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.“ (Marx)

Aus all diesen Gründen geht radikale Wissenschaftskritik so weit zu fragen:

„Ist es überhaupt möglich, Wissenschaften, die offensichtlich so tief mit westlichen, bürgerlichen und männlich dominierten Zielvorstellungen verbunden sind, für emanzipatorische Zwecke einzusetzen?“ (Sandra Harding)

Heute konzentrieren sich die Bildungsproteste erst einmal nur gegen die schlechten Bedingungen der schulischen und universitären Bildung und auf den Verlust der Reste an Bildung, die für „philosophische Köpfe“ geeignet ist und nicht nur als Berufsausbildung. Es sind quasi Rückzugsgefechte, und die eigenen Ansprüche an die Bildungsinhalte werden immer mehr vergessen. Die Frage ist: Welche Bildung wollen und brauchen wir? Gibt es dafür Ansätze?

Ein wichtiger Punkt, der bei der Debatte um die Wissenschaft festgehalten werden sollte, ist die Aufgabe der Wissenschaft, die in der objektiven Erforschung der Veränderbarkeit besteht. Natürlich stellt sich dann sofort die Frage: veränderbar in wessen Interesse? Dies wird sich in der Fragestellung, der Festlegung der Forschungsgegenstände, der Methode und im selektiven Umgang mit den Ergebnissen auswirken.

Wir sollten uns an dieser Stelle auch erinnern an die von Horkheimer genannten Momente einer Kritischen Wissenschaft:

  • Theorien werden als Moment einer gesellschaftlichen Praxis begriffen.
  • Forschung ist Teil des Gegenstandes, den sie untersucht.
  • Zwischen Denken und Handeln besteht keine Kluft.
  • Forschung ist selbstreflexiv und kontextbewußt.

Unsere Aufgabe ist also mindestens doppelt so schwer, als zuerst anzunehmen war. Es geht nicht nur darum, wieder einigermaßen „normale“ Studienbedingungen herzustellen, sondern die Kritik weiter zu treiben bis hinein in die schon früher diskutierten Tiefenschichten von Wissenschaftlichkeit und Wissenschaftskritik. In Zeiten der Turbulenz und des historischen Niedergangs einer Epoche war nie gut Wissenschaft zu treiben – gleichzeitig findet sie hier ihre revolutionärsten Impulse.

  • Dies ist ein Beitrag für den giftgrüner Blitz-und Donnerstag am 10.12.2009 in der „Zwille“.
  • Weitere Texte zur Wissenschaftsphilosophie von mir stehen im Philosophenstübchen.