„Was Utopie ist, als was Utopie vorgestellt werden kann, das ist die Veränderung des Ganzen. […]. Mir will es doch so vorkommen, als ob das, was subjektiv, dem Bewußtsein nach, dem Menschen abhanden gekommen ist, die Fähigkeit ist, ganz einfach das Ganze sich vorzustellen als etwas, das völlig anders sein könnte.
Daß die Menschen vereidigt sind auf die Welt, wie sie ist, und dieses abgesperrte Bewußtsein der Möglichkeit gegenüber, das hat nun allerdings einen sehr tiefen Grund, einen Grund, von dem ich denken würde, daß er gerade mit der Nähe der Utopie […] sehr zusammenhängt. Meine These dazu würde lauten, daß im Innersten alle Menschen, ob sie es sichzugestehen oder nicht, wissen: Es wäre möglich, es könnte anders sein. Sie könnten nicht nur ohne Hunger und wahrscheinlich ohne Angst leben, sondern auch als Freie leben. Gleichzeitig hat ihnen gegenüber, und zwar auf der ganzen Erde, die gesellschaftliche Apparatur sich so verhärtet, daß das, was als greifbare Möglichkeit, als die offenbare Möglichkeit der Erfüllung ihnen vor Augen steht, ihnen sich als radikal unmöglich präsentiert. Und wenn nun heute die Menschen universal das sagen, was in harmloseren Zeiten nur den ausgepichten Spießbürgern vorbehalten war: „Ach, das sind ja Utopien, ach, das ist ja nur im Schlaraffenland möglich, im Grunde soll das auch überhaupt gar nicht sein“, dann würde ich sagen: das kommt davon, daß die Menschen den Widerspruch zwischen der offenbaren Möglichkeit der Erfüllung und der ebenso offenbaren Unmöglichkeit der Erfüllung nur auf die Weise zu bemeistern vermögen, daß sie sich mit dieser Unmöglichkeit identifizieren und diese Unmöglichkeit zu ihrer eigenen Sache machen und daß sie also, um mit Freud zu reden, sich „mit dem Angreifer identifizieren“ und daß sie sagen, daß das nicht sein soll, von dem sie fühlen, daß es gerade ja sein sollte, aber daß es durch eine Verhexung der Welt ihnen vorenthalten wird.“ (S. 61)
(aus: Adorno, Theodor W. (1964): Etwas fehlt… Über die Widersprüche der utopischen Sehnsucht. Ein Gespräch mit Theodor W. Adorno. Gesprächsleiter: Horst Krüger. In: Gespräche mit Ernst Bloch. Hrsg. von Rainer Traub und Harald Wieser. Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1980, S.58-77. S. 61)
Januar 3, 2010 at 4:02 pm
Das Problem der Utopie besteht in ihrer Entstehung aus der Gegenwart, deren Extrapolation sie darstellt. Einer radikalen, „echten“ Utopie fehlt dieser Bezug.
Januar 4, 2010 at 11:55 am
Bei Ernst Bloch wird das anders diskutiert: Natürlich haben Utopien mit der Gegenwart zu tun. Wir wünschen uns das Utopische aus dem jeweils Gegebenen heraus, das als kritik-, veränder- bzw. verbesserungsfähig angesehen wird. Dass wir das Gegebene überschreiten, ist wesentlich für Menschen. Menschen leben nicht einfach ihren vorgegebenen Alltag, sondern sie orientieren sich immer auf Zukünftiges (sogar in der Verweigerung beziehen sie sich darauf, dann eben negativ). Dieses Überschreiten kann dann zwei Formen annehmen: 1. die abstrakte Utopie: Eine abstrakte Utopie löst sich tatsächlich vom Wirklichen, sie „erfaßt die Bedingungen ihrer Zeit nicht“.
2. In der „konkreten Utopie“ dagegen gibt es „kein Überschlagen von Geschichte, Gesellschaft und Welt“. Sie basiert darauf, dass die Welt selbst ein sich dauernd verändernder Prozess ist und sie bewegt sich mit möglichen Tendenzentwicklungen der Welt.
Für Bloch gibt es also kein Entweder (die Utopie entsteht aus der Gegenwart) – Oder (sie hat keinen Gegenwartsbezug). Sie hat entweder keinen Gegenwartsbezug (Ihre „radikale, echte“ Utopie wäre nach Bloch also die „abstrakte“) – Oder: sie überschreitet die Gegenwart so, dass die Bedingungen der Gegenwart mit bedacht werden. Der „Trick“ ist die Möglichkeit des Veränderns von Bedingungen. Die menschliche Praxis, im günstigsten Fall von guten konkreten Utopien geleitet, kann von dem, was ausgehend von dem, was in der Gegenwart als ablehnenswert erlebt wird und den veränderbaren Bedingungen, den Weltprozess verändern in Richtung des jeweils Besseren, „konkret Utopischen“. Kritik, konkrete Utopie, Bedingungsanalyse und Praxis gehören also zusammen.
November 20, 2010 at 10:11 am
[…] „konkret“ genannt wird, meint nicht, dass wir sie sinnlich wahrnehmbar vorzufinden erwarten. Nach Ernst Bloch ist von einer konkreten Utopie zu fordern, dass sie nicht nur Wunschbilder sind, die keine […]
Juni 16, 2016 at 11:29 am
Ich würde sehr gerne wissen, ob die Transkription des Gesprächs zwischen Adorno und Bloch zu finden ist. Ich habe es mir angehört, aber da Deutsch nicht meine Muttersprache ist, bleiben mir einige Teile -sozusagen- einigermaßen dunkel!
Vielen Dank
Viele freundliche Grüße aus dem Iran
Juni 16, 2016 at 6:13 pm
Viele Grüße in den Iran! Schön, dass Sie sich dort für Bloch und Adorno interessieren und die schwere Sprache Deutsch versuchen zu verstehen.
Den Text des Gespräches gibt es in dem am Ende meines Beitrags genannten Buches.
Es ist auch enthalten in der Sammlung der Blochschen Werke bei Suhrkamp, und zwar im Band: „Tendenz – Latenz – Utopie“ von Seite 350-368. Ich hoffe, Sie können sich das besorgen und wünsche Ihnen dann viele Erkenntnisse und auch Freude beim Lesen. Wenn ich Ihnen noch helfen kann beim Verständnis, so schreiben Sie mir ruhig auch eine persönliche Mail (contactATzw-jena.de, dabei statt dem AT das Zeichen @ eingeben).