Die Zeitvorstellung von Bloch

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Ernst Bloch schildert als Grundgedanken seiner Philosophie die Überlegung:

„Was sehr nah ist, was unmittelbar vor meinem Auge aufragt, kann ich nicht sehen. Es muß ein Abstand da sein. […]
Was er webt, weiß kein Weber – Am Fuß des Leuchtturms ist kein Licht –“ (Bloch 1964: 16).


Dieses „unmittelbaren Ansich von Allem“ nennt Bloch das „Dunkel des gelebten Augenblicks“ (Bloch TE: 14). Dieses „Dunkel“ ist kein verschlingender Abgrund, sondern das nach Erhellung Strebende. Es ist der Quell, der es „nicht bei sich aushält“ (ebd.), aus dem der „Hunger und Anstoß ganz unten darauf hintreibt […], mit allem bisher Erreichten weiter unzufrieden, sein Nein dialektisch wühlen lassend.“ (EM 69-70)

Im Augenblick treffen Ruhe und Bewegung aufeinander, für das Subjekt, wie auch das Sein als Ganzes. Von diesem Jetzt aus entfaltet sich alle Bewegung und damit alle Zeit. In der Gegenwart erhält das Vergangene seine Bedeutung und das Zukünftige seine Bewertung. Als Gegenwart ist der Augenblick bereits durch die Beziehung zu den anderen Zeitdimensionen erhellt, nicht mehr isoliert in der augenblicklichen Unmittelbarkeit verhaftet. Da als Gegenwart auch längere Zeiträume betrachtet werden können (gegenwärtiges Jahrhundert etc.), bezeichnet Bloch die gerade stattfindende Zeit als „Jetzt“.

Die Reihenfolge der Zeitmodi, also des Jetzt, der Vergangenheit und der Zukunft, wird von Bloch in einer auf den ersten Blick ungewöhnlichen Weise geordnet:

Jetzt – Zukunft – Vergangenheit.

„… in dem Jetzt-Beginn direkt sich anschließend, das eigentliche Pulsieren in der Zeit bezeichnend, läuft noch lange keine Gegenwart, sondern lauter Kommen, Heraufkommen, also Zukünftiges, so wie dann einzig aus diesem wieder Vergangenes folgt, als das, was nicht bleiben kann, weil es meist mehr schlecht als recht geworden ist, freilich in seinem Besten immer noch Zukunft enthält und sie braucht.“ (EM: 89).

Dies setzt voraus, dass „Vergehen und Entstehen […] nicht nur angeblickt“ werden, „sondern zunächst besonders nahe und beteiligt am eigenen Leib und Sein erfahren“ werden (PH: 59) Ernst Bloch zitiert dazu auch Georg Lukács:

„Solange der Mensch sein Interesse – anschauend kontemplativ – auf Vergangenheit oder Zukunft richtet, erstarren beide zu einem fremden Sein […]
Erst wenn der Mensch die Gegenwart als Werden zu erfassen fähig ist, indem er in ihr jene Tendenz erkennt, aus deren dialektischen Gegensatz er die Zukunft zu schaffen fähig ist, wird die Gegenwart, die Gegenwart als Werden, zu seiner Gegenwart.“ (Lukács 1923, zitiert nach Bloch EM: 89)

Zukunft ist dabei „nicht das, was auf den Menschen zukommt, sondern dasjenige, wohin er sich, worin er sich wendet.“ (EM: 90) Bloch unterscheidet zwischen unechter und echter Zukunft:

„In unechter Zukunft wartet das regelmäßige Schlafzimmer. […] In echter Zukunft liegt dagegen alles Neue kraft Veränderung, als das noch nicht Erschienene, freilich Erscheinungsmögliche, das heißt in der Tendenz Angelegte.“ (ebd.)

Vergangenheit dagegen ist „Zukunft, welche ihr Resultat […] geliefert hat, […] aus der die Spannung heraus und ans Dasein des Alten abgegeben worden ist“ (ebd.: 91). Für Bloch gehört es zur marxistischen Sichtweise, auch die anscheinend abgeschlossene, verdinglichte Vergangenheitsvorstellung abzulegen und die Zukunft in der Vergangenheit, „jene revolutionären Antriebe in ihr, die damals nicht zum Zug kamen“ zu enthüllen (ebd.: 91 f.).

Auf diese Weise entwickelt Bloch eine Zeit-Vorstellung, bei der Zeit „nirgends ein abstraktes Schema der Veränderung [ist], sondern deren konkret-elastisches Wegfeld, sich mit der Art und dem Inhalt der Veränderung selber ändernd.“ (ebd.: 106)

Mit dieser Zeitvorstellung Ernst Blochs, die nach Wüstehube (Wüstehube 1989: 62) durch folgende drei Aspekte gekennzeichnet ist,

  • Einheit von Geschichtsphilosophie und Zeittheorie,
  • Primat der Zukunft vor Vergangenheit und Gegenwart,
  • Moment des Willenshaften, der „Entscheidung“, wodurch erst Zeit konstituiert wird,

befindet er sich im Gegensatz zu Kant und Hegel, jedoch in großer Nähe zu Schelling.