Beim Brüten über den Zusammenhängen zwischen Individuen, zwischenmenschlichen Beziehungen und gesellschaftlichen Verhältnissen beziehe ich mich abwechselnd auf strukturelle Erkenntnisse aus der marxschen Gesellschaftstheorie und auf Sichtweisen vom Subjektstandpunkt aus, wie sie die Kritische Psychologie entwickelt.

Dabei geht mir immer noch die Erfahrung von der „Ferienuni Kritische Psychologie“ im Geist herum, wobei deutlich wurde, dass eine umstandslose Verwendung der Kategorien der Kritischen Psychologie für die Thematisierung der politischen Praxis nicht funktioniert.

Während ich versuche, für die Zeitschrift „Contraste“ einen Beitrag über die „Bedeutung der Kritischen Psychologie für emanzipative Bewegungen“ zu schreiben, komme ich auf diese Fragestellung zurück.

Klaus Holzkamp selbst entwickelte die Kritische Psychologie primär als „Versuch, die gesamte Psychologie durch Kritik und Revision ihrer Grundbegriffe und darin eingeschlossenen methodischen Vorstellungen auf eine neue wissenschaftliche Basis zu stellen“ (Holzkamp 1983: 19). Dieser Bezug auf das Fach „Psychologie“ wird vor allem in der „Grundlegung“ auch bei der Thematisierung vieler abgeleiteter Fragestellungen immer wieder deutlich. Allerdings schrieb Holzkamp auch Beiträge mit ziemlich direktem politischen Bezug, z.B. 1980 „Individuum und Organisation“. Auch Ute Osterkamp bekräftigte erst kürzlich (2003) den Anspruch der „Kritische[n] Psychologie als Wissenschaft der Ent-Unterwerfung“. Christina Kaindl schrieb für die Diskussion über linke Bildungsprozesse „Über die Unmöglichkeit, emanzipatorische Ziele für Andere zu setzen“. Allerdings sprach sich M. Markard auf der Ferienuni auch mehrmals gegen eine „›Überdeterminierung‹ der Kritischen Psychologie“ durch politische Interessen aus. Ich wiederhole hier auch kurz eine Erfahrung von der „Ferienuni“:

In Workshop mit Stefan Mz. […] wurde mehrmals vehement kritisch eingeworfen, dass er die kritisch psychologischen Begriffe wie restriktive und verallgemeinerte Handlungsfähigkeit unzulässig „geschichtsphilosophisch auflade“. Er projiziere gesellschaftstheoretische Aussagen in die Kritische Psychologie hinein.

Ich möchte mich jetzt nicht weiter auf diese konkrete Debatte beziehen. Aber sie verdeutlichte, dass es einerseits wohl auf Seiten von Vertreter(_innen?) der Kritischen Psychologie eine gewisse Scheu gibt, ihren wissenschaftlichen Anspruch (um dessen Anerkennung sie schwer genug kämpfen müssen) durch andere, die das eventuell nicht in angemessener Weise verwenden, in Misskredit bringen zu lassen und dass es andererseits wohl doch auch nicht so einfach ist, die Kategorien der Kritischen Psychologie gesellschaftspolitisch zu verwenden.

Eine kleine philosophische Nebenbemerkung zum Thema scheint noch wichtig zu sein: Es gibt nicht bloß die Alternative, dass zwei Themenbereiche entweder ununterscheidbar vermischt werden oder dass sie strikt zu trennen seien – sondern ein dialektisches Vorgehen vollzieht sich in der Analyse ihrer Unterschiede (auch Gegensätze) auf der Basis dessen, was ihr Zusammenhang (ihre Einheit) ist. Es geht dann um „Unterscheidungen“ (die setzen voraus, dass es auch einen Zusammenhang gibt) und nicht um „Trennungen“ (hier werden Zusammenhänge negiert).

Es ist natürlich auch kein Zufall, dass Klaus Holzkamp selbst die dialektische Kategorie der „Vermittlung“ verwendet: Individuelle Existenz ist bei ihm stets gesamtgesellschaftlich „vermittelt“. Das ist einer der wesentlichen Unterscheidungspunkte der Kritischen Psychologie auch gegenüber der üblichen Praxis innerhalb des Fachs Psychologie. In der Kritischen Psychologie wird immer der gesellschaftliche Bezug maßgeblich thematisiert.

Klaus Holzkamp stellt sich mit der Subjektwissenschaft Kritische Psychologie auf die Seite des Individuums und unterscheidet seinen Gegenstand, die „individuelle Lebenstätigkeit und Entwicklung“ (Holzkamp 1983: 34) durchaus von der „gesellschaftstheoretischen Ebene“ (ebd.: 27). Aber er versteht seine Ergebnisse ebenfalls als „Beitrag in die philosophisch-gesellschaftstheoretische Ebene materialistischer Dialektik hinein“ (ebd.: 33). Schlimm genug, dass das zu damaliger Zeit z.B. in der DDR nicht angenommen oder nur in verfälschender Weise rezipiert wurde – dass es heute immer noch nicht angekommen ist im kategorialen und methodischen Arsenal linker und emanzipativer Bewegungen ist noch viel schlimmer, dann hier kann man sich nicht entschuldigen mit einer Unterdrückung durch andere.

Warum es andere nicht tun, soll und kann hier nicht mein Thema sein (die Gründe dafür können, wie ich ja aus der Kritischen Psychologie gelernt habe, niemals „von außen“ her ergründet werden). Mir geht es um die Berechtigung, auch als Nicht-Fachpsychologin aus den gesellschaftstheoretischen und philosophischen Implikationen der kategorialen Entwicklungen der Kritischen Psychologie einen Nutzen ziehen zu können. Wenn Kritische Psycholog_innen aus besserer Kenntnis heraus dabei fehlerhafte Interpretationen oder Argumente aufdecken, freue ich mich über die Chance zur Weiterentwicklung (Tom P. wollte eigentlich mal mit mir über den „Subjekt“-Begriff sprechen… leider sind wir noch nicht dazu gekommen…). Eine solche Atmosphäre fand ich leider auf der „Ferienuni“ nicht vor, sondern eher Abwehr und dadurch bleiben die inhaltlichen Differenzen unbearbeitet.

Maßgeblich für meine Problemstellung ist die von Morus Markard kritisierte „Vermischung von gesellschaftlicher und personaler Ebene“ (Markard 2010: Fn 24). Ich sehe da einen Zusammenhang mit einer anderen Fußnote: „Außerdem geht es […] darum, dass politische Kämpfe hier und heute nicht nach dem Modus interpersonaler (Subjekt-)Beziehungen gedacht werden können“ (Fn 27). Interpersonale Subjektbeziehungen auf personaler Ebene sind also getrennt von politischen Kämpfen auf der gesellschaftlichen Ebene. Politisch geht es nicht um Intersubjektivität, sondern… (?). Kein Wunder, dass ich mich in linker (vor allem ParteiLINKEr) „Politik“ so fremd fühle. Wenn „Politik“ die Außerkraftsetzung des Subjektstandpunktes bedeutet, mache ich tatsächlich gerne keine Politik mehr, sondern nur noch „Anti-Politik“. Ganz normal scheint wohl im politischen Kontext auch die laxe Bemerkung von Morus Markard, es sei ein „Gemeinplatz, dass Revolutionen Mittel anwenden, die in einem Spannungsverhältnis zu ihren Zielen stehen: Französische Revolution“ (Fn 8). Heißt das, es sei normal in einer Revolution [3] oder eben auch im politischen Kampf den Subjektstandpunkt aufzuheben und Menschen zu instrumentalisieren, zu entsubjektivieren, zu entmündigen und zu bevormunden (von Beherrschen und Unterdrücken will ich gar nicht sprechen)? Natürlich lese ich dies nun nicht so, als würde ich M. Markard „Terror andichten“ (seine Lesart einer Bemerkung von Stefan, vgl. Fußnote 27), aber der Bruch zwischen einer Theorie zur „Förderung subjektiver Verfügungsmöglichkeiten/Lebensqualität unter „unseren“ gesellschaftlichen Lebensverhältnisse“ (Holzkamp 1990b: 45) und der real-politischen Außerkraftsetzung des Subjektstandpunktes verwirrt mich doch einigermaßen.

Der Hinweis „dass politische Kämpfe hier und heute nicht nach dem Modus interpersonaler (Subjekt-)Beziehungen gedacht werden können“ (Markard 2010: 6) bringt mich darauf, zu differenzieren zwischen dem Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen und der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Wenn ich mich jedoch für die Aufhebung aller Verhältnisse, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (Marx MEW 1/KHR: 385), einsetze, kann ich nicht gleichzeitig andere Menschen instrumentalisieren, sie durch Zwang, Abhängigkeit, Druck usw. regulieren usw. Diese von Holzkamp „Instrumentalformen“ genannten zwischenmenschlichen Beziehungen wären die Alternative. Soweit ich es bei der Absicht, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern, mit Menschen zu tun habe, bin ich auf diese Alternativen verwiesen. Ich frage mich, nach welchem anderen Modus diese Kämpfe gedacht werden sollten. Ich erinnere auch an die Bemerkung von Marx in den Feuerbachthesen, wonach in der revolutionären Praxis ein „Zusammenfallen des Ändern[s] der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung“ vorliegt (MEW 3/FT: 6). Dieses Zusammenfallen ist insofern nicht die von M. Markard befürchtete „Vermischung“, als dass sie selbstverständlich auf der von Holzkamp betonten „Differenzierung zwischen gesellschaftlichen Handlungsnotwendigkeiten und subjektiven Handlungsmöglichkeiten“ (Holzkamp 1983: 235f.) beruht. Es bedeutet aber, dass emanzipatives Handeln auch und gerade als politischer Kampf nicht außerhalb der Orientierung am Allgemeininteresse steht, am „Interesse an der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen, d.h. gerichtet auf die Verfügung der Menschen über ihre eigenen Angelegenheiten“ (Holzkamp 1980: 212). Deshalb gilt es gerade für emanzipatives politisches Handeln, dass seine Gesellschaftskritik, wenn sie „nicht über die Erkenntnis der Problematik des eigenen Verhaltens vermittelt ist“, oberflächlich bleibt und „zur „kritischen“ Absicherung eigener Privilegien“ (Forschungsgruppe Lebensführung 2004: 16) gerät.

Es ist deshalb nicht nur im Interesse der kritisch-psychologischen „subjektwissenschaftliche Forschung“, sondern im politischen Interesse, aufdecken, wo wir unser Handeln selbst mystifizieren, d.h. uns weigern zu erkennen, inwieweit unser eigenes Handeln zur Unterdrückung oder der Disziplinierung anderer beiträgt (vgl. Osterkamp 2001). Unter den Bedingungen, die uns gerade von der Real-Politik angetragen werden, müssen wir uns fragen, welche Gründe wir in jeweils welcher Situation haben, unser Handeln in Richtung verallgemeinerter oder in restriktiver Dimension auszurichten. Wie schaden wir uns/unserem Anliegen im restriktiven Modus? Und dann: Wie können wir uns, wenn wir uns sonst schaden, in Richtung einer Verallgemeinerung, also der Intersubjektivität bewegen?

Für mich als ein Individuum, das die Gesellschaft verändern will, spielen diese Frage eine große Rolle und ich vermisse es, wenn andere, die dasselbe wollen, diese Orientierung an der Verallgemeinerung ihres eigenen Handelns gar nicht thematisieren mögen.

All diese Gedanken gelten erst einmal – und dieses Feld ist groß genug – dem Umgang innerhalb von Gleichgesinnten auf dem Weg zur Emanzipation. Mindestens für den Umgang mit den bisher noch an dieser Entwicklung uninteressierten Menschen, mit denen, die sich in den herrschenden Verhältnissen nicht gegen sie engagieren, ist ein Subjektstandpunkt wohl ebenso selbstverständlich. In Richtung von „Nazis“, die Morus Markard in seiner Kritik an Stefan Mz. in der Fußnote 27 erwähnt, würde ich primär auch zuerst danach fragen, welche Gründe für jeden dieser menschlichen Vertreter dieser Haltung gelten (das macht auch klar, dass solche Gründe durchaus kritisierbar sind, aber ich gehe davon aus, dass auch hier die Begründetheit menschlichen Verhaltens gilt) [1]. Selbstverständlich ist „Faschismus keine Meinung, sondern ein Verbrechen“. Aber das gibt mir noch keinen Grund, menschliche Individuen, die faschistische Haltungen vertreten, zu entsubjektivieren.

Wenn politische Kämpfe gegen tatsächlich feindliche Interessenvertreter [2] geführt werden müssen, so muss explizit thematisiert werden, in welcher Beziehung man bezüglich der Partialität bzw. der Allgemeinheit der im Konflikt stehenden Interessen steht. Hier gibt es aber keinen berechtigten Grund anzunehmen, dass die strukturell zumindest wohl notwendige Partialität im Verhältnis nach außen durchschlagen muss auf das Innenverhältnis derjenigen Gruppierungen, die sich im Sinne der Emanzipation engagieren. Im Gegenteil: Es ist m.E. die beste Waffe, selbst die neue Praxis der Aufhebung von Erniedrigung, Unterdrückung, auch wohlwollend gemeinter Bevormundung und Instrumentalisierung zu stärken und anderen Menschen Lust auf die Beteiligung innerhalb alternativer, also intersubjektiver Beziehungen zu machen und damit Motivationen zur Abschaffung von Verhältnissen, die das verhindern, zu entwickeln und zu stärken.

Ich gehe dabei davon aus, dass der Satz, Subjektbeziehungen seien „Kampfbeziehungen gegen Unterdrückung, damit für ihre volle Verallgemeinerbarkeit“ (Holzkamp 1979: 14) gerade auch so zu lesen ist, dass Kampfbeziehungen im Sinne des Kampfs um Verallgemeinerbarkeit selbst möglichst auch Subjektbeziehungen sein sollen. Natürlich ist diese Kennzeichnung kein „Label“ der Perfektion, sondern (wie schon gezeigt) innerhalb des stets vorhandenen Spannungsfeldes zwischen Intersubjektivität und Instrumentalisierung unter herrschaftsförmigen, vereinzelnden gesellschaftlichen Verhältnissen kann es um Subjektbeziehungen nur insofern gehen als „der Subjektaspekt innerhalb des widersprüchlichen Verhältnisses zum Instrumentalaspekt der bestimmende ist“ (Holzkamp 1979: 19).

Innerhalb emanzipativer Bewegungen, die auf diese Weise agieren, wären Befürchtungen, es könne zu „Überdeterminierungen“ oder politischen Instrumentalisierungen der Theorie für politische Interessen kommen, völlig fehl am Platze.

Endnoten:

[1]
Selbstverständlich bedeutet die Anerkennung der Begründheit nicht automatisch eine Übernahme oder gar Rechtfertigung des Inhalts. Jedenfalls bedeutet die Anerkennung der Begründetheit die Chance, dass das Individuum auch anders denken und handeln kann. Und es ist ebenfalls selbstverständlich, dass ich mich gegenüber einer Nazidemo an den Antifa-Blockaden beteilige, statt mit jedem einzelnen Nazi ein intersubjektives Gespräch anfangen zu wollen. Politische Strategien sind nicht auf intersubjektive Kommunikation beschränkt – werden aber kontraproduktiv, wenn sie selbst dem Allgemeininteresse, der Aufhebung von Ausbeutung und Unterdrückung, zuwiderhandeln.

[2]
Regierungspolitischer (Hartz-IV-Gesetzgebung) bzw. institutioneller Gewalt kann ich ebenfalls kaum mit intersubjektiver Gesprächsführung zu Leibe rücken. Mit „ökonomischen Sachzwängen“ ist auch schlecht zu verhandeln. Aber solange ich mich in meinem Politikverständnis am „Interesse an der Überwindung der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen, d.h. gerichtet auf die Verfügung der Menschen über ihre eigenen Angelegenheiten“ (Holzkamp 1980: 212) orientiere, kann ich die Subjektivität der jeweils beteiligten Menschen nicht suspendieren. Was der Subjektstandpunkt für eine emanzipative politische Strategie bedeutet, ist also – wenn sie schon nicht Thema der Kritischen Theorie selbst ist – insgesamt noch ein ziemlich unbearbeitetes Thema.

[3]
Nach 1990 zogen viele die Lehre, dass die Art Revolution, der es nicht nur um die Ersetzung einer Ausbeutungsordnung durch eine andere geht, sondern im Marxschen Sinne um eine Aufhebung aller Verhältnisse, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, selbst das andere Prinzip, das sie in die Welt bringen will, verkörpern muss. Ansatzweise steckte das sogar schon in der Ideologie, die bis dahin verbreitet wurde. So lese ich in einem alten Lehrbuch: „Das entscheidende neue Merkmal des sozialistischen Typus der sozialen Revolution besteht darin, daß in ihrem Verlauf nicht mehr die eine Form der Ausbeutung durch eine andere ersetzt, sondern die Ausbeutung insgesamt und in allen ihren Formen beseitigt wird… dass der Übergang der Menschheit von der klassengespaltenen in die klassenlose Gesellschaft eingeleitet wird.“ (Einführung…1987: 396) Es kann also kaum ernsthaft angenommen werden, die Revolution zur Abschaffung des Kapitalismus und Schaffung einer neuen Gesellschaftsordnung müsse selbstverständlich auch ein „Spannungsverhältnis“ zwischen Zielen und Mitteln wie bei der Französischen Revolution hervorbringen. Es kann m.E. nur darum gehen, den angeführten Anspruch, die Ausbeutung abschaffen zu wollen zu erweitern um den Anspruch, auch im eigenen Handeln Erniedrigung, Knechtung, Verächtlichmachung usw. aufzuheben.