Erwerbslosigkeit als Bedingung der kapitalistischen Wirtschaftsweise

Wenn bei einer wachsenden organischen Zusammensetzung des Kapitals der Anteil des variablen Kapitals (Lohn, Anzahl der Beschäftigten) relativ gesehen abnimmt, muss das noch nicht bedeuten, dass er auch absolut abnimmt. Trotzdem verschiebt sich ein Ungleichgewicht immer mehr in Richtung des Einsatzes der sog. „toten Arbeit“ (vergegenständlichte frühere Arbeit in den Produktionsmitteln) und der relative Anteil der lebendigen Arbeit sinkt. Diejenigen Arbeitskräfte, die noch aktiv sind, produzieren „die Mittel ihrer Überzähligmachung“ (MEW 23: 660). Das hat auch deutlich erfahrbare Konsequenzen:

  • Der Trend zur Reduzierung des Anteils an lebendiger Arbeit führt zu dem Widerspruch, dass einerseits viele Menschen keine bezahlte Arbeit haben, andererseits die eingestellten Arbeitskräfte häufig besonders intensiv ausgebeutet werden. Erzwungener Müßiggang der einen und Überarbeit der anderen gehören unter kapitalistischen Verhältnissen systematisch zusammen.
  • „In dem Maße, in dem die Arbeiter mehr Reichtum produzieren, wird ihre Funktion als Verwertungsmittel des Kapitals immer prekärer.“ (MEW 23: 669)

Letztlich folgt die Beschäftigung dem Primat der Kapitalakkumulation bei fortschreitendem technischen Ersatz von Arbeitskräfteeinsatz und dies führt erstens zu einem zyklischem Auf- und Ab der Beschäftigten- und damit der Erwerbslosenzahlen und zweitens zu einem tendenziellen Anstieg der sog. „Sockelarbeitslosigkeit“ (siehe auch das Bild oben). Eine „industrielle Reservearmee“, die es ermöglicht, nicht auf demographische Veränderungen warten zu müssen, sondern schnellere wirtschaftliche Zyklen auszugleichen, ist funktional notwendig in diesem System.

In unseren privilegierten hochindustrialisierten Ländern kommt materielles Elend auch bei Erwerbslosen längst nicht mehr so häufig vor, wie es Marx für die frühkapitalistischen Zustände seiner Zeit ausführlich schildert. Aber was vorkommt, ist diese massive Ungleichverteilung von Arbeitsbelastungen. Und was vorkommt, ist der Widersinn von gleichzeitigem irrsinnigen Reichtumswachstum auf der einen Seite und Verunsicherung der Existenzgrundlagen für einen immer größeren Bevölkerungsanteil. Was vorkommt, ist auch der ungeheure Produktivitätsanstieg, ein ungeheuer wachsender Reichtum auf dieser Welt bei gleichzeitig langandauernden sozialen Kürzungen und Zumutungen. Die Zeiten des sog. „Wirtschaftswunders“ in der BRD und anderen hochkapitalistischen Ländern, in denen sich eine breite Mittelschicht einbilden konnte, der Kapitalismus sei die beste Wirtschaftsordnung aller Zeiten, erweist sich als historische Ausnahmesituation, auch wenn beinah alle Welt sich krampfhaft bemüht, sie sich zurück zu wünschen.

Ich wundere mich nach wie vor über den Gleichmut, mit dem fast alle von uns die unverschämten Berichterstattungen über das Luxusleben der „Schönen und Reichen“ hinnehmen, während die kleinbürgerlichen Refugien der DDR-Oberen unter dem Stichwort „Wandlitz“ wahre Haßtiraden zu entfesseln imstande sind.

Zurück zu Arm und Reich

Marx schildert in den Illustrierungen zu seiner Theorie, dass der Kapitalismus bei seiner Einführung keinesfalls eine Verbesserung des Lebensniveaus mit sich brache, sondern der Lebensstandard für die Betroffenen rapide sank (MEW 23: 702f.). Außerdem lässt auch aufhorchen, dass ausgerechnet das insgesamt am weitesten entwickeltste und reichste Land, England, die schlechtesten Lebensbedingungen vorwies (709).

Historisch gesehen wird kaum jemand der heutigen Menschen wirklich in vorkapitalistische Lebensbedingungen zurückkehren wollen. Leider wissen wir nicht, ob es auch andere Möglichkeiten gegeben hätte, den Lebensstandard und die individuellen Lebensmöglichkeiten ohne die Opfer an Lebenskraft und ökologischen Zerstörungen zu steigern. Vielleicht wäre es nicht so schnell gegangen. Auf jeden Fall wird wohl jede Generation in jeder Region dieser Welt für sich entscheiden müssen, ob sie die Opfer weiter trägt, die Augen vor ihnen verschließt – oder nach anderen Entwicklungswegen sucht.

Der Skandal ist seit Marx immer derselbe – er nennt ihn „Absolutes, allgemeines Gesetz der kapitalistischen Akkumulation“.

„Die verhältnismäßige Größe der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums.
Je größer aber diese Reservearmee im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die chronische Überbevölkerung, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer endlich die Armenschicht in der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer die offizielle Zahl der Armen.“ (673f.)

Der aktuelle „Bericht über die menschliche Entwicklung 2010“ des UNDP (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen) nennt erst einmal erschütternde Zahlen über die Folgen der letzten Krise: In der letzten Krise verloren 34 Millionen Menschen ihre Arbeit und 64 Millionen Menschen sind zusätzlich unter die Armutsgrenze von 1,25 US-Dollar am Tag gerutscht (Kurzfassung, S. 18). In diesem Bericht wird versucht, nicht nur die üblichen wirtschaftlichen Erfolgsfaktoren zu berücksichtigen, sondern die menschliche Entwicklung, bei dem ein breiteres Spektrum an menschlichen Lebensbedingungen analysiert wird (u.a. mit Hilfe des HDI: Human Development Index). Die Ungleichheit der Entwicklung wurde in diesem Bericht neu in die Analyse einbezogen (S. 19ff.). Dabei ergab sich u.a.:

„Die Anzahl der Ländern, in denen seit den 1980er Jahren die Ungleichheit des Einkommens gestiegen ist, ist größer als die Zahl der Länder, in denen sie abgenommen hat.“ (Kurzfassung, S. 18).

Insbesondere im Bereich Gesundheits- und Bildungswesen konnte Wirtschaftswachstum häufig nicht ausreichend in Verbesserungen umgesetzt werden (S. 14). Es gibt Zweifel daran, „ob eine Einkommenssteigerung in der gesamten Volkswirtschaft allein dazu angetan ist, in Ländern mit niedrigem und mittlerem HDI-Wert Gesundheit und Bildung voranzubringen“ (ebd.: 15). Es wird angenommen, dass Wohlstand systematisch mit „Einkommen“ verbunden ist und nur an dieses wird der „Zugang zu Lebensmitteln, Unterkunft und Kleidung“ gebunden (ebd.: 15). Dies verleugnet systematisch die Möglichkeit, nicht nur als einkommenserzielender Lohnabhängiger, sondern als Mitglied einer gemeinsam produzierenden und vorsorgenden Wirtschaft (z.B. über Commons) Zugang zu diesen Existenzmitteln zu erlangen. Es musste jedoch erkannt werden, dass wichtige Parameter der menschlichen Entwicklung auch von solch einem Einkommen entkoppelt wachsen und gedeihen.

Eine recht aktuelle Aufschlüsselung der Reichtumsverteilung wird von Wal Buchenberg angegeben.

Neben den schon angesprochenen aktuellen Assoziationen ergeben sich weitergehende Fragen.