Immerhin können in dieser Gesellschaft solche Bücher geschrieben und gelesen werden. Immerhin könnten wir alle wissen, welchen Blutzoll der real existierende Kapitalismus ständig kostet. Niemand dürfte mehr ruhig schlafen können, solange diese Verhältnisse nicht beseitigt sind. Es ist aber anscheinend leichter, die Aufrüttler als „Verschwörungstheoretiker“ zu bezeichnen, wie es mit Naomi Klein gemacht wird.

Sie schrieb das Buch „Die Schockstrategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus.“ (Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2009) und obwohl ich dachte, einigermaßen informiert zu sein, so beutelte mich die Erinnerung und das tiefere Eindringen in die wahnwitzig-barbarische Logik dieser Gesellschaftsform doch wieder einigermaßen.

Andere machen es sich einfacher, sie schieben die brutale Wirklichkeit weg mit dem Vorwurf der „Verschwörungstheorie“. Naomi Klein weiß jedoch: für viele Millionen Menschen auf der Welt war und ist diese Realität keine Theorie, sondern „es ist ihr Leben“. (Naomi Klein im Interview mit „Kulturzeit“)


Das Wort „Schocktherapie“ wurde nicht von N. Klein erfunden, sondern es wird recht häufig verwendet, so z.B. auch vom SPIEGEL („Schocktherapie für die Bahn“) und im Zusammenhang mit den ökonomischen Problemen in Griechenland.

Naomi Klein gehört zu den Akteuren der Globalisierungskritik und ihr schlägt dieselbe Häme und Hass entgegen wie bisher allen, die sich wagen, die Fundamente der kapitalistischen Realität in Frage zu stellen. Das „Verschwörungstheoretische“ wird gerade dort ausgemacht, wo sie Zusammenhänge herstellt. Genau das ist unüblich: Menschenrechtsverletzungen und Folter, Terror und Barbarei werden als Ereignisse dargestellt, die mit den normalen marktwirtschaftlichen und demokratischen Gang der kapitalistischen Geschichte nichts zu tun haben sollen. Naomi Klein zeigt dagegen auf, dass gerade die „rein marktwirtschaftliche“ Form des Kapitalismus, die in den 70er Jahren in den lateinamerikanischen Diktaturen erste Formen annahm und seit den 80ern den Rest der Welt wie eine unaufhaltsame Welle überrollt, nichts weniger gebrauchen kann als echte Selbstbestimmung der Menschen. Auf den 700 Seiten des Buches wird eine wahre Blutspur des Kapitalismus seit Mitte des 20. Jahrhunderts nachgezeichnet: von den Diktaturen in Südamerika, insbesondere Chile über die neoliberalen Umstrukturierungen in den USA und Europa hin zu den Schockwellentherapien, die über die ehemaligen sozialistischen Länder hereinbrachen und weiter zum Zusammenbruch der asiatischen Tigerstaaten und direkt in die Kriege hinein, Irak und alles, was danach kam.

Wenn man durch die vielen gut nachvollziehbaren Beispiele die Logik, die hinter diesen Raubzügen steckt, begriffen hat, klingen auch die aktuellen Meldungen in den Medien plötzlich anders. Da werden gerade – angesichts der unglaublichen Hungerskatastrophe – afrikanische Länder beschuldigt, wegen Korruption und Missmanagement ihrer Regierungen die Auslandshilfe riskiert zu haben. „Korruption und Missmanagement“? Ist dies nicht der allgemeine Vorwurf, der all jene trifft, die das eigene Land noch nicht dem frei wütenden Weltmarkt überlassen haben?

Im Gebiet der ehemaligen DDR erleben wir das Ganze nur in abgeschwächter Form. Die Entscheidung vieler Menschen bei uns, „keine sozialistischen Experimente“ mehr zu wollen, sondern endlich einen „normalen“ Kapitalismus „wie im Westen“ zu bekommen, war einigermaßen frei gewählt. Es gab zwar Enttäuschungen (Hartz IV…), aber im Vergleich zu allen anderen Regionen der Welt, wo vorher und seitdem die Marktwirtschaft in ihrer neoliberalen Form eingeführt wurde, sind die meisten bei uns doch recht weich gebettet. Deshalb können sich bei uns auch eher Illusionen halten, dass der Kapitalismus normalerweise allen Menschen Wohlstand und Demokratie bringt. Aber so ist es nicht. Über seine gesamte Lebenszeit hinweg und weltweit betrachtet, entstanden nur relativ kurzfristige und nur sehr kleine Wohlstandsinseln. „Normal“ ist der ständige Kampf ums Überleben und das Ausrauben der Armen zugunsten der Reichen. Marx war insofern ein Träumer, als er angenommen hatte, der Kapitalismus würde sich – nach einer Phase der gewaltsamen und brutalen „ursprünglichen Akkumulation“ – im Wesentlichen lediglich mit der Aneignung des Mehrwerts aus der Lohnarbeit zufrieden geben.

Deshalb ist es sinnvoll, sich dieses Buch anzutun, auch wenn es weh tut. Es macht uns wieder bewusst, in welcher Welt wir eigentlich leben. Es macht auch, obwohl das im Buch selbst nicht thematisiert wird, wieder einmal klar, wogegen sich die realsozialistischen Staaten zu stellen hatten und stellen wollten. Es sensibilisiert auch dafür, womit wir rechnen müssen, wenn wir Alternativen zu diesem kapitalistischen Wirtschaftssystem entwickeln. Wir müssen damit rechnen, dass auch eine Strategie des recht sanften „Auskooperieren“ das Kapitalismus durch antikapitalistische „Keimformen“ damit rechnen muss, derartigen Schock-Strategien ausgesetzt zu werden.