Dieser Text wartete seit einem halben Jahr auf eine Vervollständigung – einige Gedanken daraus hatte ich inzwischen schon anderweitig verarbeitet. Ich möchte diesen Text jetzt trotzdem in dieser Form vorstellen, weil er schön zeigt, welchen inhaltlichen Anschluss er zu dem Inhalt des neuen Buches von John Holloway („Kapitalismus aufbrechen“), über das ich demnächst mehr schreiben will, bietet.
„Wirklich, wirklich tun“ statt lohnarbeiten
Einst wollte ich das, was ich „wirklich, wirklich tun“ (Bergmann) will, beruflich tun. Ich kannte viele Amateurastronomen, aber ich wollte meine Berufung zum Beruf machen und studierte deshalb Physik/Astronomie und beschäftigte mich später mit philosophischen Problemen der Naturwissenschaften – mit der Aussicht auf eine Stelle an der Universität.
Aber dann kam die „Wende“ und mit einem kleinen Kind und ohne „Vitamin B“ in den neuen Beziehungsnetzwerken war an eine Unikarriere nicht mehr zu denken. Ich musste mich daran gewöhnen, alle möglichen Umschulungen und „Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen“ zu durchlaufen, um zwischendurch immer mal Jobs zum Geldverdienen zu haben. Jobben und das „wirkliche Tun“ (wie das Schreiben dieses Artikels) fielen seitdem radikal auseinander.
Deshalb war für mich schon immer klar, dass ich auch in einer Erwerbsarbeit nur einen Teil meiner menschlichen Arbeitskraft verkaufe – den mir wichtigeren Teil wollte gar niemand. Diese Differenz zwischen dem, was ich als Mensch leisten kann und dem, was der Kapitalist mir davon abkauft, war für mich immer wesentlich. Natürlich kostet es Kraft, das „wirkliche Tun“ in der Freizeit durchzuhalten, wenn der Lohnarbeitstag viel Kraft absaugt. Natürlich fehlt dann wohl auch Regeneration, wenn man nicht aufpasst und wenn man keine Unterstützung erhält. Auch wenn sie nur schwer lebbar ist: Es gibt die Differenz zwischen dem, was ein Mensch zu fühlen, zu denken, zu leben und zu leisten in der Lage ist und dem, was unter kapitalistischen Verhältnissen davon abgerufen wird.
Zwar erscheint es gerade anders herum: Viele Menschen sind im Berufsleben überarbeitet, ausgelaugt – sie schaffen kaum noch das, was gefordert wird. Vielleicht haben sie nie erfahren oder es vergessen, dass sie mit Spaß und Freude und ausreichend selbstbestimmtem Ausgleich eigentlich viel mehr und vor allem sinnvollere Sachen tun könnten, als ihnen der Alltag abverlangt. Wie oft wohl rutscht uns der alte Spruch in den Sinn: „…und wieder ist der Tag vollbracht, und wieder ist nur Mist gemacht…“.
Ein Anzeichen dafür, dass es in besonderer Weise auch anderen ähnlich geht, sehe ich in der sinkenden Arbeitszufriedenheit. Von 2001 bis 2010 sank der Anteil der Menschen, die eine echte Verpflichtung gegenüber ihrer Arbeit spüren von 16% auf 13% und es sind nicht mehr nur 15% der Arbeitenden unzufrieden und unlustig, sondern 21%. (Quelle: Nink 2011)
Insbesondere seit im Kapitalismus nicht mehr wenigstens die Konkurrenz um bessere oder effektiver hergestellte Produkte das Überleben der Firma bestimmt, sondern die Zuckungen der Finanzkapitalmärkte über deren Wohl und Wehe bestimmen, erweist sich sachlich und fachlich orientierte „gute Arbeit“ immer öfter als überflüssig und macht einem anscheinend unbegründeten Umstrukturierungswahn Platz. Dies wird zu noch mehr „inneren Kündigungen“ führen.
Arbeitsvermögen übersteigt Arbeitskraft
Die Marxsche Theorie tut sich nun mit diesem Teil meiner Fähigkeit, etwas Produktives zu tun, der mir persönlich sehr wichtig ist, sehr schwer. Es gibt ihn eigentlich gar nicht. Marx schreibt z.B.:
„Der Gebrauchswert, den der Arbeiter dem Kapital gegenüber anzubieten hat, den er also überhaupt anzubieten hat für andre, ist nicht materialisiert in einem Produkt, existiert überhaupt nicht außer ihm, also nicht wirklich, sondern nur der Möglichkeit nach, als seine Fähigkeit. Wirklichkeit wird er erst, sobald er vom Kapital sollzitiert, in Bewegung gesetzt wird, da Tätigkeit ohne Gegenstand nichts ist oder höchstens Gedankentätigkeit, von der es sich hier nicht handelt.“ (MEW 42: 192-193)
Vorausgesetzt ist hier, dass „die Arbeiter in Proletarier, ihre Arbeitsbedingungen in Kapital verwandelt sind“ (MEW 23: 790). Dann gilt, dass jene Kraft in mir, die ich nicht dem Kapital verkaufe, nur eine abstrakte Möglichkeit darstellt und nicht zur Verwirklichung kommt. Diese Kraft ist nur eine Möglichkeit, d.h. ein Arbeitsvermögen. Insofern dieses Arbeitsvermögen in der kapitalistischen Lohnarbeit verwirklicht wird, wird sie zur wirklichen lebendigen (Lohn-)Arbeit, und erscheint als solche „fremd gegenüber dem lebendigen Arbeitsvermögen“ (MEW 42: 374). Die Trennung und sogar Entfremdung meines Arbeitsvermögens von der lebendigen Lohnarbeit ist eine Folge der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse, bei denen die arbeitsfähigen Menschen von ihren Arbeitsbedingungen getrennt wurden. Ohne selbst über die Arbeitsbedingungen verfügen zu können, also Ressourcen, zu bearbeitende Gegenstände und Produktionsmittel, kann ich nicht wirklich arbeiten. Marx zitiert Sismondi „Das Arbeitsvermögen […] ist nichts, wenn es nicht verkauft wird“ (MEW 23: 187). Da Marx die Verhältnisse im Kapitalismus, also bei vollzogener Trennung von Arbeit und Arbeitsbedingungen untersucht, bezieht er sich später nicht mehr auf diese Differenz, diese Verkehrung.
Jedoch kann gerade diese Verkehrung ein wichtiger Ausgangspunkt dafür werden, dass Menschen aus den kapitalistischen Verhältnissen herausdrängen. Nicht Not und Elend und das Entrinnen von Katastrophen sind Motive für die Abschaffung des Kapitalismus, sondern viel eher in jenen kreativen Potentiale, die über ihre Verwirklichungsformen im Kapitalismus hinausschießen, deren Zurückdrängung weh tut, die nach einer Verwirklichung in neuen gesellschaftlichen Verhältnissen schreien. Letztlich ist es nicht der Mittelaspekt der Produktivkräfte, d.h. die technischen Mittel der menschlichen Natureinwirkung, die über die Produktionsverhältnisse hinausdrängen, sondern die schöpferische Kraft, die produktive Tätigkeit der Individuen (Jaeck 1978: 62).
„Wie wir schon sind, leben wir keineswegs nur dahin. […] Es pocht etwas in uns, dies klopft, hungert, treibt, setzt an.“ (Bloch EM: 253)
Gudrun-Axeli Knapp setzte sich schon vor vielen Jahren aus feministischer Sicht für die eine Unterscheidung der Begriffe „Arbeitsvermögen“, “Arbeitskraft“ und „Ware Arbeitskraft“ ein (Knapp 1989: 270). Im Begriff Arbeitsvermögen wird die subjektive Potentialität angesprochen, also „alles, was ein Mensch in gesellschaftliche Praxis einbringen könnte“ (ebd.: 273). Die Arbeitskraft und die Ware Arbeitskraft stellen besondere ökonomische Formbestimmungen dar, sie sind bestimmt in bezug auf konkrete Anwendungsverhältnisse – so in der Subsistenzproduktion bzw. der vorkapitalistischen und der kapitalistischen Warenproduktion. Die Differenz dieser beiden Begriffe entsteht durch den unterschiedlichen Blickwinkel: einmal wird von den gesellschaftlich gegebenen Bedingungen her aufs Subjekt geschaut, das andere Mal wird vom Subjekt her auf die gesellschaftlichen Realisationsmöglichkeiten geschaut.
„Nur unter utopischen Verhältnissen nichtentfremdeter Arbeit oder unter der unwahrscheinlichen Prämisse, daß Menschen Roboter geworden seien, können subjektives Arbeitsvermögen und sich entäußernde Arbeitskraft als identisch oder aneinander angenähert gedacht werden.“ (ebd.: 271)
Dabei gilt:
„Immer aber ist das subjektive Arbeitsvermögen als gesellschaftliches „Reservoir“ reicher und breiter angelegt als seine gesellschaftlich zugestandenen Manifestationen.“ (ebd.: 273)
Als dialektischen Gegenpart zur Warenförmigkeit der Arbeitskraft bestimmt auch Sabine Pfeiffer das Arbeitsvermögen (Pfeiffer 2003, 2005):
„Arbeitsvermögen ist daher nicht nur ein Spiegel der Verhältnisse […] – sondern gleichzeitig und vor allem ein Potenzial, das heisst im wahrsten Sinne „Vermögen“ von etwas angelegtem, Noch-nicht-Verausgabten und somit ein lebendiger Verweis auf das geschichtliche Potenzial des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters.“ (Pfeiffer 2003: 197)
Das Arbeitsvermögen kennzeichnet auf der Ebene der Subjektivität dasjenige, das zwar innerhalb des real existierenden Subjekts liegt, aber eine gegenüber der vorherrschenden kapitalistischen Form widersprechende Strukturlogik enthält (Pfeiffer 2004b). Das Arbeitsvermögen erfasst im Unterschied zur Arbeitskraft lebendiges Arbeitswissen Leib(Erfahrungen), Autonomiestreben und nicht formalisierbare Wissensbestände. Im Widerspruch von Arbeitsvermögen und Arbeitkraft konkretisiert sich der allgemeine Widerspruch zwischen Gebrauchsnutzen und Wertverhältnis.
Gudrun-Axeli Knapp betont, dass besonders für erwerbstätige Frauen durch ihren täglichen Wechsel zwischen Erwerbsarbeit und Haushaltarbeiten sich die Dialektik von Arbeitsvermögen und Arbeitskraft „verschärft“ und „zuspitzt“. (Knapp 1989: 275) Wenn nur die Arbeitskraft betrachtet wird, wird die kapitalistische Formbestimmtheit lediglich gedanklich reproduziert. Nur die Differenz zwischen Arbeitsvermögen und Arbeitskraft „macht Leiden und Aufbegehren möglich“ (ebd.: 298). Und solange diese Differenz nicht auch begriffen wird, steht uns so etwas wie ein „implizites Wissen“ darüber zur Verfügung, „so ein Gefühl“, dafür, dass ich mehr könnte, als ich als Arbeitskraft verwirklichen kann.
Verwandte Beiträge:
- Mehr-als-Wert I
- Mehr-als-Wert II
- „Arbeitsvermögen“ als kritisch-utopische Kategorie
- Den Kaiser Kapitalismus entkleiden – Gemeingüter und Arbeit
September 15, 2011 at 9:42 pm
„Dann gilt, dass jene Kraft in mir, die ich nicht dem Kapital verkaufe, nur eine abstrakte Möglichkeit darstellt und nicht zur Verwirklichung kommt. Diese Kraft ist nur eine Möglichkeit, d.h. ein Arbeitsvermögen.“
Das gilt allerdings auch für den Teil deines Arbeitsvermögens, den du vermieten kannst. Gemietet wird ja stets nur das Vermögen, also die Möglichkeit nicht die Arbeit, also die Anwendiung der Mietsache. So wie man ja auch eine Wohnung mietet und nicht das Wohnen.
Gruß von hh (der fürs erste ganz froh ist, sein geistiges Arbeitsvermögen endlich frei entwickeln zu können und nicht mehr genötigt zu sein, sich auf irgendwelchen Baustellen nützlich zu machen.)
September 18, 2011 at 11:30 am
Der Kapitalist macht aber durch das Zusammenbringen meiner Arbeitskraft mit den sachlichen Arbeitsbedingungen meine mögliche Arbeit zur wirklichen Arbeit, deren Mehrprodukt er sich aneignet.
September 18, 2011 at 1:28 pm
„Der Kapitalist macht aber durch das Zusammenbringen meiner Arbeitskraft mit den sachlichen Arbeitsbedingungen meine mögliche Arbeit zur wirklichen Arbeit, deren Mehrprodukt er sich aneignet.“
Ich verstehe das „aber“ nicht, denn ich habe ja nichts Gegenteiliges behauptet. Möchtest du zwischen (für die Produktion von Waren bzw. Warenwerten) nachgefragtem und nicht nachgefragtem Arbeitsvermögen unterscheiden?
September 15, 2011 at 10:40 pm
„Gudrun-Axeli Knapp setzte sich schon vor vielen Jahren aus feministischer Sicht für die eine Unterscheidung der Begriffe „Arbeitsvermögen“, “Arbeitskraft“ und „Ware Arbeitskraft“ ein (Knapp 1989: 270). Im Begriff Arbeitsvermögen wird die subjektive Potentialität angesprochen, also „alles, was ein Mensch in gesellschaftliche Praxis einbringen könnte“ (ebd.: 273). Die Arbeitskraft und die Ware Arbeitskraft stellen besondere ökonomische Formbestimmungen dar, sie sind bestimmt in bezug auf konkrete Anwendungsverhältnisse“
Ich kann keinen Sinn darin entdecken, zwischen den beiden einander synonymen Begriffen „Arbeitskraft“ und Arbeitsvermögen“ zu unterscheiden. Die Formbestimmung ist durch den Warencharakter des Arbeitsvermögens gegeben als „Ware Arbeitskraft“ die ebenso auch „Ware Arbeitsvermögen“ benamst werden könnte. Der Unterschied ist der zwischen (Geld-)Erwerbsarbeit und Arbeit im sozialen bzw. ökologischem Sinn.
Das nur der Teil an Arbeitsvermögen gekauft bzw. gemietet wird, der sich gewinnbringend anwenden lässt, mit dem das Unternehmen also einen (unter kapitalistischen Bedingungen) nachgefragten Gebrauchswert zu einem vom Kunden akzeptierten Preis herstellen (lassen) kann, ist eine Tatsache. Und es scheint so, dass die augenblicklich zu Tage tretenden „Widersprüche zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen“ in der Tat immer mehr auch Widersprüche zwischen dem individuellem Vermögen, sich mit etwas nützlich zu machen und der Möglichkeit, dies kapitalistisch zur Entfaltung zu bringen sind.
Ein für alle bedingungslos (also ohne Arbeitspflicht) zur Verfügung gestelltes Aneignungsvermögen würde das die Möglichkeit erhöhen, ganz ohne Kapital bereichernd tätig zu sein.
September 18, 2011 at 11:34 am
Du schreibst „Ich kann keinen Sinn darin entdecken, zwischen den beiden einander synonymen Begriffen „Arbeitskraft“ und Arbeitsvermögen“ zu unterscheiden. … Der Unterschied ist der zwischen (Geld-)Erwerbsarbeit und Arbeit im sozialen bzw. ökologischem Sinn.“ Zwischen Arbeitskraft/Arbeitsvermögen und dieser oder jener Arbeit gibt es noch mal einen Unterschied. Das eine ist im Modus der Möglichkeit gedacht, das andere im Modus der Wirklichkeit . Arbeit ist immer wirklich, das Arbeitsvermögen, die Arbeitskraft ist ein notwendiger Faktor für wirkliche Arbeit, aber kein ausreichender – es werden noch die sachlichen Faktoren benötigt,diese müssen zusammenwirken, dann geschieht wirkliche Arbeit. Das mag zwar nach Krümelkackerei klingen, macht aber das Denken exakter.
September 18, 2011 at 1:20 pm
„Arbeit ist immer wirklich, das Arbeitsvermögen, die Arbeitskraft ist ein notwendiger Faktor für wirkliche Arbeit“
Anderes würde ich auch nie behaupten.
September 15, 2011 at 10:52 pm
Gelderwerbsarbeitsvermögen < Nutzenherstellungsvermögen
=
Geldwerwerbsarbeitskraft < Nutzenherstellungskraft
Produktionsverhältnisse = Verhältnisse zwischen verschiedenen Produktions- und Aneignungskräften.
September 16, 2011 at 7:26 am
@hh: Ich finde es schon sinnvoll, überhistorische Gattungsbestimmung und historisch-spezifische ökonomische Formbestmmung zu unterscheiden. Allerdings empfinde ich die Wortdifferenz von »Arbeitsvermögen« und »Arbeitskraft« als zu gering. Ich würde beide Wörter als Synonyme benutzen, erst recht, wenn man sie ins Englische übersetzt. Dein Vorschlag »Erwerbsarbeit« und »Sozial/Öko-Arbeit« erfasst hingegen den Gattungs- und Formunterschied nicht.
Der Marx der Ök-phil. Manuskripte hatte zwar die Gattungs- und Formunterscheidung noch nicht, aber dafür hat er die Produktivität des »Gattungslebens«, des »produktiven Lebens«, also aller Lebenstätigkeit hervorgehoben (was später eher unter den Tisch fiel). Im Anschluss daran wäre mein Vorschlag, die Gattungsbestimmung »produktive Lebenstätigkeit« zu nennen. Dabei muss man sich immer wieder klar machen, dass tatsächlich nur etwas mehr als ein Drittel der produktiven Lebenstätigkeit als Arbeitskraft verkauft wird.
September 18, 2011 at 11:37 am
Ich weiß gar nicht, ob ich das, was ich mit Arbeitsvermögen einbringe und was Du als „produktive Lebenstätigkeit“ fasst, als „überhistorische Gattungsbestimmung“ sehen will….
Ich weiß, dass das im Hegelschen Denken so sein will, aber habe meine üblichen Bedenken dagegen, obwohl ich auch immer wieder reinrutsche in diese Denkweise.
September 18, 2011 at 1:16 pm
Heißt, dir wärs momentan schon ganz recht, wenn jemand dein Arbeitsvermögen anmieten würde? Wäre natürlich mehr als legetim.
September 19, 2011 at 8:40 am
Was sind denn deine üblichen Bedenken? Bzw. wogegen richten sich deine Bedenken: gegen die begriffliche Trennung von Form- und Gattungsbestimmung oder generell gegen die Behauptung einer überhistorischen Gattungspotenz?
September 19, 2011 at 10:57 am
Das sollte aus meinen Anmerkungen eigentlich deutlich hervorgegangen sein. Dass zwischen der jeweiligen historischen Form von Arbeitsvermögen/-kraft bzw. Arbeit und einem überhistorischen Gattungsbegriff von Arbeitsvermögen/-kraft bzw. Arbeit zu unterscheiden ist, ist doch selbstverständlich. Ich bezweifle nur, dass es sinnvoll ist, für die beiden Gattungen die Wörter „Arbeitskraft“ und „Arbeitsvermögen“ zu wählen.
September 19, 2011 at 11:01 am
Sorry, sehe jetzt erst, dass die Frage nicht an mich gerichtet war.
September 16, 2011 at 11:31 am
„Ich finde es schon sinnvoll, überhistorische Gattungsbestimmung und historisch-spezifische ökonomische Formbestmmung zu unterscheiden. Allerdings empfinde ich die Wortdifferenz von »Arbeitsvermögen« und »Arbeitskraft« als zu gering. Ich würde beide Wörter als Synonyme benutzen, erst recht, wenn man sie ins Englische übersetzt.“
Ok, das sind wir uns also einmal einig.
„Dein Vorschlag »Erwerbsarbeit« und »Sozial/Öko-Arbeit« erfasst hingegen den Gattungs- und Formunterschied nicht.“
Soso! Ich hatte übrigens „Gelderwerbsarbeitsvermögen“ geschrieben. Das beschreibt selbstverändlich eine andere Gattung als ein überhistorisches Arbeitsvermögen, das unabhängig von der Form seiner Bildung und Anwendung existiert. Auch das soziale bzw. ökologische Vermögen zur Bestimmung, Herstellung und Aneignung eines sozialen bzw. ökologischen Nutzeffektes ist ebenso selbstverständlich eine andere Gattung als das – als eine Ware existierende – Vermögen zur Herstellug von Warenwerten. Das mag alles nicht griffig sein, aber mann muss ja auch nicht alles mit einem einzigen Wort auf den Begriff bringen. Man könnte auch das Vermögen zur wertproduktiven bzw. mehrwertproduktiven Arbeit und dem Vermögen zur Herstellung eines Nutzens bzw. zur Befriedigung eines entsprechenden sozialen Bedürfnisses unterscheiden.
„Der Marx der Ök-phil. Manuskripte hatte zwar die Gattungs- und Formunterscheidung noch nicht, aber dafür hat er die Produktivität des »Gattungslebens«, des »produktiven Lebens«, also aller Lebenstätigkeit hervorgehoben (was später eher unter den Tisch fiel).“
Das stimmt so nicht. Nicht Marx hat die (Waren-)Wertproduktivität zum regelnden Mechanismus gemacht sondern die kapitalistischen Produktionsbezehungen. Das „Unglück der produktiven Arbeit“ (Marx meinte damit natürlich das Unglück warenwertproduktiver Arbeit) besteht vor allem in der Unmöglichkeit einer sozalen Steuerung des Produktivvermögens.
Im Anschluss daran wäre mein Vorschlag, die Gattungsbestimmung »produktive Lebenstätigkeit« zu nennen. Dabei muss man sich immer wieder klar machen, dass tatsächlich nur etwas mehr als ein Drittel der produktiven Lebenstätigkeit als Arbeitskraft verkauft wird.
Wobei man die Möglichkeit zur ökologisch gesehen produktiven Tätigkeit (die setzt ja immer Leben voraus) vor allem nach Möglichkeiten zur sozial (gesellschaftlich) produktiven Tätigkeit hin betrachten sollte, die dann wiederum unterteilt werden kann, in z.B. Probemlembestimmungs- oder -lösungskompetenzen, soziales Mitgestaltungsvermögen, Refektionsvermögen usw. je weiter wir uns vom Kapitalismus emanzipieren desto differenzierter und konkreter werden auch die Bestimmungen.
September 19, 2011 at 9:13 am
@hh „Heißt, dir wärs momentan schon ganz recht, wenn jemand dein Arbeitsvermögen anmieten würde? Wäre natürlich mehr als legetim.“
Nun ja, ich muss damit leben, dass ich einen Teil meines Arbeitsvermögens als Arbeitskraft verkaufen muss (wenn ich nicht auf Kosten von jemandem anders leben kann). Ob es stimmt, dass ich das so unterscheide: dass das Arbeitsvermögen mehr ist als das, was ich verkaufen muss, ist die entscheidende Frage. Bei Marx scheint es da keine Differenz zu geben. Unser ganzes Konzept mit den „Keimformen“ braucht aber diese Differenz, denn den nicht verkauften „Rest“ des Arbeitsvermögens setzen wir für das Schaffen des Neuen ein.
September 19, 2011 at 9:15 am
@StMz.:“Was sind denn deine üblichen Bedenken? Bzw. wogegen richten sich deine Bedenken: gegen die begriffliche Trennung von Form- und Gattungsbestimmung oder generell gegen die Behauptung einer überhistorischen Gattungspotenz?“
Meine üblichen Bedenken betreffen die Verwendung der Gattungsbestimmung als Grund für die Höherentwicklung. Ich weiß, dass das bei Hegel systematisch so ist. Marx folgte dem in seinen frühen Schriften bzgl. „Entfremdung“ – und ich tendiere immer mehr dazu, seine spätere Selbstkritik (scheinbar nur gegen die anderen gerichtet) Ernst zu nehmen.
September 19, 2011 at 9:23 am
@hh „Anderes würde ich auch nie behaupten.“ Du hattest aber nach dem Unterschied von „AV“ und „AK“ gefragt. Mir geht es darum, noch mal eine Ebene der Differenzierung reinzuziehen. Im Bereich des Wirklichen (der Arbeit) ist die Entscheidung schon vorgetroffen: Arbeit zur Kapitalakkumulation oder nicht. Beim Vermögen wird der lebendige Faktor der Arbeit unabhängig von den sachlichen Bedingungen gedacht und dann kann noch mal differenziert werden: Woher kommen die sachlichen Bedingungen? Vom Kapitalisten? Dann hat er damit auch den (seinen) Zweck der Arbeit vorgegeben. Wenn wir wirklich nichts anderes haben, dann bleibt uns nichts übrig, als alles dem Kapitalismus wieder wegzunehmen (Expropriation der Expropriateure).
Aber es gibt vielleicht noch einen anderen Weg: Auch das „Kapital“, die kapitalistischen Produktionsmittel etc. sind ja nicht ein für allemal da, sondern sie werden ständig neu erzeugt. Jetzt können wir drüber nachdenken, eine andere Art von Ausweg aus dem Kapitalismus zu schaffen: Mit wenigstens dem übrig gebliebenen Teil meines AV kann ich was schaffen, was am kapitalistischen Reproduktionszyklus vorbei das Neue mit in die Welt setzt.
Da entsteht dann die Frage: Woher kriege ich dafür die sachlichen Bedingungen? Antwort: Kollektiv selber (am Kapitalismus vorbei) erzeugen und nicht als Privateigentum aneignen (lassen). Ankurbeln eines nichtkapitalistischen gesellschaftlichen Reproduktionszyklus.
September 19, 2011 at 1:17 pm
[…] Das was hier und an anderen Stellen in Holloways Buch nachdrücklich immer wieder beschrieben wird, ist auch die Grundlage für den Unterscheidungsversuch von „Arbeitskraft“ und „Arbeitsvermögen“ (siehe hier). […]
Oktober 5, 2011 at 1:58 pm
[…] Kapitalismus hinausweisen. Also genau das Thema, das bei Holloway im Zentrum steht, und auf das die Unterscheidung von Arbeitskraft und Arbeitsvermögen bzw. die von Selbstverwertung und Selbstentfaltung hinaus […]
Februar 18, 2012 at 12:04 pm
[…] die Arbeit habe ich schon früher eine Unterscheidung von Arbeitsvermögen und Arbeitskraft vorgeschlagen. Dieser Vorschlag wird bestärkt durch die Verallgemeinerung dieser Unterscheidung auf alle […]
April 13, 2016 at 6:04 pm
[…] die mehr sind als ihre Funktion in der Arbeit. Wir haben im theoretischen Teil (siehe z.B. hier) auf die Unterscheidungen von Ruben sowie Knapp und Pfeiffer verwiesen. Auch die autonomen […]
August 19, 2017 at 9:32 am
neue Info:
Es gibt in der Managementliteratur ein „Transformationsproblem“, nämlich das Problem der Transformation von gekaufter Arbeitskraft in tatsächlich verausgabte Arbeit (erwähnt in einem aktuellen Text über „Kybernetik und Kontrolle“). Es gibt also doch einen Unterschied zwischen dem, was der Kapitalist bezahlt hat (er meint, das gesamte Arbeitsvermögen gekauft zu haben) und dem, was er dafür bekommt (nur bestimmte Äußerungen des Arbeitsvermögens, die „tatsächlich verausgabte Arbeit“).
Februar 5, 2019 at 2:05 pm
[…] Bei der Verwendung des Gebrauchswerts der Ware Arbeitskraft durch die kapitalistische Seite wird die Sphäre des Austauschs verlassen und muss sie verlassen werden (ebd.: 209). Die „wesentlich andre Kategorie“ darf über der Austausch-Gleichmacherei nicht vergessen werden: Das über den Austausch Hinausgehende am arbeitenden Menschen ist „seine Lebendigkeit“ (ebd.: 208) (vgl. zum Unterschied Arbeitsvermögen und Arbeitskraft). […]
Oktober 27, 2020 at 1:57 am
[…] Arbeitsvermögen über dieses Verhältnis wenigstens potentiell „hinausschießt“ (vgl. Schlemm 2011a). Bleibt man jedoch bei der (Vor-)Entscheidung, bei den Momenten des kapitalistischen Systems nur […]
September 9, 2021 at 8:43 am
[…] Wenn wir über Geschichte, das heißt Entwicklung sprechen, entsteht immer wieder die Frage, welche „Triebkräfte“ sie voranbringen bzw. aus welchem Potential heraus das Neue entstehen kann. Dass etwas im Widerspruch steht, muss ja noch nicht zu einer qualitativen Höherentwicklungen führen.[6] Ich bin bei Karl Hermann Tjaden auf eine wichtige Unterscheidung gestoßen, die ich schon einmal für die Unterscheidung zwischen „Arbeitskraft“ und „Arbeitsvermögen“ stark gemacht hatte (Schlemm 2011). […]