Dieser Text wartete seit einem halben Jahr auf eine Vervollständigung – einige Gedanken daraus hatte ich inzwischen schon anderweitig verarbeitet. Ich möchte diesen Text jetzt trotzdem in dieser Form vorstellen, weil er schön zeigt, welchen inhaltlichen Anschluss er zu dem Inhalt des neuen Buches von John Holloway („Kapitalismus aufbrechen“), über das ich demnächst mehr schreiben will, bietet.


„Wirklich, wirklich tun“ statt lohnarbeiten

Einst wollte ich das, was ich „wirklich, wirklich tun“ (Bergmann) will, beruflich tun. Ich kannte viele Amateurastronomen, aber ich wollte meine Berufung zum Beruf machen und studierte deshalb Physik/Astronomie und beschäftigte mich später mit philosophischen Problemen der Naturwissenschaften – mit der Aussicht auf eine Stelle an der Universität.

Aber dann kam die „Wende“ und mit einem kleinen Kind und ohne „Vitamin B“ in den neuen Beziehungsnetzwerken war an eine Unikarriere nicht mehr zu denken. Ich musste mich daran gewöhnen, alle möglichen Umschulungen und „Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen“ zu durchlaufen, um zwischendurch immer mal Jobs zum Geldverdienen zu haben. Jobben und das „wirkliche Tun“ (wie das Schreiben dieses Artikels) fielen seitdem radikal auseinander.

Deshalb war für mich schon immer klar, dass ich auch in einer Erwerbsarbeit nur einen Teil meiner menschlichen Arbeitskraft verkaufe – den mir wichtigeren Teil wollte gar niemand. Diese Differenz zwischen dem, was ich als Mensch leisten kann und dem, was der Kapitalist mir davon abkauft, war für mich immer wesentlich. Natürlich kostet es Kraft, das „wirkliche Tun“ in der Freizeit durchzuhalten, wenn der Lohnarbeitstag viel Kraft absaugt. Natürlich fehlt dann wohl auch Regeneration, wenn man nicht aufpasst und wenn man keine Unterstützung erhält. Auch wenn sie nur schwer lebbar ist: Es gibt die Differenz zwischen dem, was ein Mensch zu fühlen, zu denken, zu leben und zu leisten in der Lage ist und dem, was unter kapitalistischen Verhältnissen davon abgerufen wird.

Zwar erscheint es gerade anders herum: Viele Menschen sind im Berufsleben überarbeitet, ausgelaugt – sie schaffen kaum noch das, was gefordert wird. Vielleicht haben sie nie erfahren oder es vergessen, dass sie mit Spaß und Freude und ausreichend selbstbestimmtem Ausgleich eigentlich viel mehr und vor allem sinnvollere Sachen tun könnten, als ihnen der Alltag abverlangt. Wie oft wohl rutscht uns der alte Spruch in den Sinn: „…und wieder ist der Tag vollbracht, und wieder ist nur Mist gemacht…“.

Ein Anzeichen dafür, dass es in besonderer Weise auch anderen ähnlich geht, sehe ich in der sinkenden Arbeitszufriedenheit. Von 2001 bis 2010 sank der Anteil der Menschen, die eine echte Verpflichtung gegenüber ihrer Arbeit spüren von 16% auf 13% und es sind nicht mehr nur 15% der Arbeitenden unzufrieden und unlustig, sondern 21%. (Quelle: Nink 2011)

Insbesondere seit im Kapitalismus nicht mehr wenigstens die Konkurrenz um bessere oder effektiver hergestellte Produkte das Überleben der Firma bestimmt, sondern die Zuckungen der Finanzkapitalmärkte über deren Wohl und Wehe bestimmen, erweist sich sachlich und fachlich orientierte „gute Arbeit“ immer öfter als überflüssig und macht einem anscheinend unbegründeten Umstrukturierungswahn Platz. Dies wird zu noch mehr „inneren Kündigungen“ führen.

Arbeitsvermögen übersteigt Arbeitskraft

Die Marxsche Theorie tut sich nun mit diesem Teil meiner Fähigkeit, etwas Produktives zu tun, der mir persönlich sehr wichtig ist, sehr schwer. Es gibt ihn eigentlich gar nicht. Marx schreibt z.B.:

„Der Gebrauchswert, den der Arbeiter dem Kapital gegenüber anzubieten hat, den er also überhaupt anzubieten hat für andre, ist nicht materialisiert in einem Produkt, existiert überhaupt nicht außer ihm, also nicht wirklich, sondern nur der Möglichkeit nach, als seine Fähigkeit. Wirklichkeit wird er erst, sobald er vom Kapital sollzitiert, in Bewegung gesetzt wird, da Tätigkeit ohne Gegenstand nichts ist oder höchstens Gedankentätigkeit, von der es sich hier nicht handelt.“ (MEW 42: 192-193)

Vorausgesetzt ist hier, dass „die Arbeiter in Proletarier, ihre Arbeitsbedingungen in Kapital verwandelt sind“ (MEW 23: 790). Dann gilt, dass jene Kraft in mir, die ich nicht dem Kapital verkaufe, nur eine abstrakte Möglichkeit darstellt und nicht zur Verwirklichung kommt. Diese Kraft ist nur eine Möglichkeit, d.h. ein Arbeitsvermögen. Insofern dieses Arbeitsvermögen in der kapitalistischen Lohnarbeit verwirklicht wird, wird sie zur wirklichen lebendigen (Lohn-)Arbeit, und erscheint als solche „fremd gegenüber dem lebendigen Arbeitsvermögen“ (MEW 42: 374). Die Trennung und sogar Entfremdung meines Arbeitsvermögens von der lebendigen Lohnarbeit ist eine Folge der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse, bei denen die arbeitsfähigen Menschen von ihren Arbeitsbedingungen getrennt wurden. Ohne selbst über die Arbeitsbedingungen verfügen zu können, also Ressourcen, zu bearbeitende Gegenstände und Produktionsmittel, kann ich nicht wirklich arbeiten. Marx zitiert Sismondi „Das Arbeitsvermögen […] ist nichts, wenn es nicht verkauft wird“ (MEW 23: 187). Da Marx die Verhältnisse im Kapitalismus, also bei vollzogener Trennung von Arbeit und Arbeitsbedingungen untersucht, bezieht er sich später nicht mehr auf diese Differenz, diese Verkehrung.

Jedoch kann gerade diese Verkehrung ein wichtiger Ausgangspunkt dafür werden, dass Menschen aus den kapitalistischen Verhältnissen herausdrängen. Nicht Not und Elend und das Entrinnen von Katastrophen sind Motive für die Abschaffung des Kapitalismus, sondern viel eher in jenen kreativen Potentiale, die über ihre Verwirklichungsformen im Kapitalismus hinausschießen, deren Zurückdrängung weh tut, die nach einer Verwirklichung in neuen gesellschaftlichen Verhältnissen schreien. Letztlich ist es nicht der Mittelaspekt der Produktivkräfte, d.h. die technischen Mittel der menschlichen Natureinwirkung, die über die Produktionsverhältnisse hinausdrängen, sondern die schöpferische Kraft, die produktive Tätigkeit der Individuen (Jaeck 1978: 62).

„Wie wir schon sind, leben wir keineswegs nur dahin. […] Es pocht etwas in uns, dies klopft, hungert, treibt, setzt an.“ (Bloch EM: 253)

Gudrun-Axeli Knapp setzte sich schon vor vielen Jahren aus feministischer Sicht für die eine Unterscheidung der Begriffe „Arbeitsvermögen“, “Arbeitskraft“ und „Ware Arbeitskraft“ ein (Knapp 1989: 270). Im Begriff Arbeitsvermögen wird die subjektive Potentialität angesprochen, also „alles, was ein Mensch in gesellschaftliche Praxis einbringen könnte“ (ebd.: 273). Die Arbeitskraft und die Ware Arbeitskraft stellen besondere ökonomische Formbestimmungen dar, sie sind bestimmt in bezug auf konkrete Anwendungsverhältnisse – so in der Subsistenzproduktion bzw. der vorkapitalistischen und der kapitalistischen Warenproduktion. Die Differenz dieser beiden Begriffe entsteht durch den unterschiedlichen Blickwinkel: einmal wird von den gesellschaftlich gegebenen Bedingungen her aufs Subjekt geschaut, das andere Mal wird vom Subjekt her auf die gesellschaftlichen Realisationsmöglichkeiten geschaut.

„Nur unter utopischen Verhältnissen nichtentfremdeter Arbeit oder unter der unwahrscheinlichen Prämisse, daß Menschen Roboter geworden seien, können subjektives Arbeitsvermögen und sich entäußernde Arbeitskraft als identisch oder aneinander angenähert gedacht werden.“ (ebd.: 271)

Dabei gilt:

„Immer aber ist das subjektive Arbeitsvermögen als gesellschaftliches „Reservoir“ reicher und breiter angelegt als seine gesellschaftlich zugestandenen Manifestationen.“ (ebd.: 273)

Als dialektischen Gegenpart zur Warenförmigkeit der Arbeitskraft bestimmt auch Sabine Pfeiffer das Arbeitsvermögen (Pfeiffer 2003, 2005):

„Arbeitsvermögen ist daher nicht nur ein Spiegel der Verhältnisse […] – sondern gleichzeitig und vor allem ein Potenzial, das heisst im wahrsten Sinne „Vermögen“ von etwas angelegtem, Noch-nicht-Verausgabten und somit ein lebendiger Verweis auf das geschichtliche Potenzial des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters.“ (Pfeiffer 2003: 197)

Das Arbeitsvermögen kennzeichnet auf der Ebene der Subjektivität dasjenige, das zwar innerhalb des real existierenden Subjekts liegt, aber eine gegenüber der vorherrschenden kapitalistischen Form widersprechende Strukturlogik enthält (Pfeiffer 2004b). Das Arbeitsvermögen erfasst im Unterschied zur Arbeitskraft lebendiges Arbeitswissen Leib(Erfahrungen), Autonomiestreben und nicht formalisierbare Wissensbestände. Im Widerspruch von Arbeitsvermögen und Arbeitkraft konkretisiert sich der allgemeine Widerspruch zwischen Gebrauchsnutzen und Wertverhältnis.

Gudrun-Axeli Knapp betont, dass besonders für erwerbstätige Frauen durch ihren täglichen Wechsel zwischen Erwerbsarbeit und Haushaltarbeiten sich die Dialektik von Arbeitsvermögen und Arbeitskraft „verschärft“ und „zuspitzt“. (Knapp 1989: 275) Wenn nur die Arbeitskraft betrachtet wird, wird die kapitalistische Formbestimmtheit lediglich gedanklich reproduziert. Nur die Differenz zwischen Arbeitsvermögen und Arbeitskraft „macht Leiden und Aufbegehren möglich“ (ebd.: 298). Und solange diese Differenz nicht auch begriffen wird, steht uns so etwas wie ein „implizites Wissen“ darüber zur Verfügung, „so ein Gefühl“, dafür, dass ich mehr könnte, als ich als Arbeitskraft verwirklichen kann.

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