Vorbemerkung
John Holloways Buch aus dem Jahr 2002 trägt den Titel „Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen“. Dieser Titel bezeichnet treffend, worin sich die meisten der neueren Befreiungsbewegungen seit Ende der 90er Jahre von früheren antikapitalistischen Bewegungen und Parteien unterscheiden. (siehe auch mein Text dazu)
Ich lese nun seit einiger Zeit das neue Buch: „Kapitalismus aufbrechen“. Ich werde dabei auf eine eigenartige Weise hin und hergerissen. Das meiste, was als politische Handlungsstrategie beschrieben wird, ist mir überaus sympathisch. Holloway findet für komplexe Zusammenhänge wunderschöne Metaphern. Die gehen runter wie Öl… Aber in meinem Hinterkopf tickert so etwas wie das theoretische Gewissen. Vor allem die Kapitalstudien der letzten Monate haben da Spuren hinterlassen, die sich hartnäckig in Erinnerung rufen, sobald Holloway in den Bereich der Theorie, der Analyse und der begrifflichen Einordnung seiner politischen Haltung innerhalb eines „offenen Marxismus“ kommt. „Das stimmt doch so gar nicht!“ ruft der kleine Teufel von da hinten und sät Zweifel. Soll ich ihn zum Schweigen bringen?
Wer „Ja“ sagt, braucht bloß den 1. Teil zu lesen 😉
Wer „Nein“ sagt, sollte dann noch weiter durchhalten…
Texte zu Holloway:
- Zum Buch „Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen“
- Hier weiter zur Referierung des Inhalts des neuen Buches von Holloway
- Die verkürzte Kritik der abstrakten Arbeit bei Holloway
- …(später vielleicht noch mehr)…
Was ich auf jeden Fall nicht will, ist das übliche Bashing der Besserwisser, das leider gerade in marxistischen Kreisen so üblich ist. Ich habe für meine zweifelnde Kritik begründete Argumente und ich versuche den Unterschieden in den Konzepten so weit nachzugehen, dass ich herausbekommen möchte, was sich bei einer begrifflich veränderten Analyse an den praktischen Handlungsorientierungen verändert. Beim gegenwärtigen Bearbeitungsstand kann ich da noch nichts Perfektes versprechen, aber ich bin auf dem Weg (widersprechend und fragend voran…).
Dass ich mir gerade mit diesem Buch diese Arbeit mache, hängt natürlich damit zusammen, dass es schon sehr nah an dem ist, was ich mir auch vorstelle. (Deshalb finden ja die schlimmsten Polemiken auch dort statt, wo die Gemeinsamkeiten eigentlich schon recht groß sind). Aber sehr häufig entringt sich mir ein Seufzer: „Das ist ja alles richtig – aber nicht die ganze Wahrheit!“
Aufbruchstimmung
John Holloway könnte zum Theoretiker des revolutionären Neuaufbruchs werden; er ist verankert in den antikapitalistischen Kämpfen der Gegenwart, beschreibt deren Praxen und versucht einen Anschluss an traditionelle revolutionäre Konzepte, vor allem den Marxismus.
Sein Konzept richtet sich vor allem gegen jegliche Erstarrung. Alles soll verflüssigt werden und verflüssigt bleiben. Jegliche Erstarrung führt zur Unterdrückung des Lebendigen. Im Buch „Die Welt verändern ohne die Macht zu übernehmen“ thematisiert Holloway vor allem die zur Erstarrung führende Umformung von kreativer Macht („Macht etwas zu tun“) in instrumentelle Macht (Macht über etwas) und kennzeichnet den Kapitalismus als Trennung von Tun und Getanem. Er verweist auf die anwachsende Verweigerungshaltung vieler Menschen dieser verdinglichenden Praxis gegenüber, vor allem in Lateinamerika. Dem protestierenden „Schrei“ möchte er eine gedankliche Verankerung in einer Sichtweise geben, die betont, dass alles in Bewegung ist und Machtpositionen nicht undurchdringlich sind, weil die Macht auf unserem eigenen Tun beruht.
Im Buch „Kapitalismus aufbrechen“ erweitert Holloway die Kategorienfelder, für die er die Dialektik von Bewegung und Erstarrung aufzeigt und dadurch für das eigene Tun gedanklich öffnet. Dabei geht es Holloway nicht darum, den Kapitalismus als Wand „in ihrer Festigkeit“ zu analysieren, sondern diese Wand „in ihrer Brüchigkeit zu verstehen.“ (15)
Kritik ad hominem
Holloway schreibt:
„[N]ur wenn wir alles Gesellschaftliche auf unser Tätigsein, unser Schaffungsvermögen zurückführen, können wir die Frage nach einer Alternative stellen.“ (125)
Die dabei verwendete Methode ist eine Kritik ad hominem . Dies bedeutet hier keinesfalls, wie im Juristischen, eine Personalisierung oder ähnliches, sondern will einen Bezug „zum Menschen“ herstellen, so wie Marx es andeutete:
„Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem demonstriert, und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.“ (MEW 1: 385)
In der gleichen Zeit zeigte Marx die Bedeutung einer solchen Argumentationsweise auch bei der Frage des Eigentums:
„Denn wenn man von Privateigentum spricht, so glaubt man es mit einer Sache außer dem Menschen zu tun zu haben. Wenn man von der Arbeit spricht, so hat man es unmittelbar mit dem Menschen selbst zu tun. Diese neue Stellung der Frage ist inklusive schon ihre Lösung.“ (MEW 40: 522-523)
Es geht um das Zurückführen gesellschaftlicher Systemhaftigkeit auf das Tun und Handeln von Menschen. Holloway selbst kennzeichnet eine solche Kritik als „eine Kritik, die alle Phänomene zum menschlichen Subjekt zurückführt, dazu, wie menschliche Aktivität organisiert ist“ (99), als „Versuch, durch die Erscheinungsformen einer Welt von Dingen und unkontrollierbaren Kräften hindurchzubrechen und diese Welt aus der Perspektive des Vermögens menschlichen Tätigseins zu verstehen“ (15). Es geht darum, unser eigenes „Fehl-am-Platze-Sein“ theoretisch zu verstehen (ebd.).
Gesellschaftstheoretische Kategorien versteht Holloway deshalb nicht als geschlossene Kategorien, sondern als „Verbegrifflichungen antagonistischer Verhältnisse, Kampfbeziehungen und daher offene Kategorien“ (162).
Dialektik des Tuns (Konkretes Tun und abstrakte Arbeit)
Im Mittelpunkt des Buchs steht diesmal nicht die Dialektik der (kreativen und der instrumentellen) Macht, sondern die des produktiven Tuns. Schon in seinem früheren Buch ging es um das Verhältnis von Getanem und Tun. Jetzt verwendet Holloway für diese Dialektik Kategorien aus dem Marxschen „Kapital“ und zwar die „konkrete Arbeit“ und die „abstrakte Arbeit“.
Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten hatte Marx davon geschrieben, dass die „freie bewußte Tätigkeit“ der „Gattungscharakter des Menschen“ sei (MEW 40: 516). Im Kapitalismus jedoch wird diese Lebenstätigkeit zur „entfremdeten Arbeit“. Solch einen doppelten Begriff findet Holloway wieder im Kapital, wo Marx vom „Doppelcharakter der in den Waren dargestellten Arbeit“ spricht (MEW 23: 56ff.). Marx sieht hier einerseits die „nützliche Arbeit“, welche die Gebrauchswerte der hergestellten Güter bildet. Im Kapitalismus wird die Arbeit jedoch andererseits nicht direkt um der Gebrauchswerte willen ausgeführt, sondern um der Tauschwerte willen. Von der gebrauchswertbildenden „konkreten nützlichen Arbeit“ ist also die „tauschwertsetzende Arbeit“ (MEW 13: 17) zu unterscheiden. Da die tauschwertsetzende Arbeit vom Gebrauchswert abstrahiert, wird diese auch „abstrakte Arbeit“ genannt. Marx verkompliziert die Sachlage erheblich, weil er vor allem über eine weitere Abstraktion schreibt: über die Abstraktion von jeglicher konkreten gesellschaftlichen Form, d.h. über Arbeit im überhistorischen Sinne. Die letztere Abstraktion ist lediglich eine Denkabstraktion. Das Abstrahieren vom Nutzen bei der Tauschwertbildung wird dagegen eine, wirkliche Produktionspraxis im Kapitalismus beschrieben, sie ist eine „Realabstraktion“.
Und um es ganz verworren zu machen: konkrete, nützliche Arbeit ist das, was es in jeder Gesellschaftsform gibt. Immer werden Gebrauchsgegenstände mit einem Nutzen hergestellt (wenn auch der „Nutzen“ im Kapitalismus z.B. lediglich mit der Kapitalakkumulation zu tun hat). Wir bilden also für die (überhistorische, also nur als gedankliche Zusammenfassung erzeugte) gebrauchsgutherstellende Arbeit die Denkabstraktion „konkrete, nützliche Arbeit“, die zu allen Zeiten vorhanden ist (manchmal ersetzen wir dann auch das Wort „Arbeit“ durch „Tätigkeit“ oder „Tun“). Um es nicht ganz so wirr zu machen, schreibt Holloway leichter verständlich:
„Nützliche oder konkrete Arbeit gibt es also in jeder Gesellschaft. In der kapitalistischen (oder, allgemeiner, der warenproduzierenden) Gesellschaft, nimmt sie eine bestimmte gesellschaftliche Form an, die der abstrakten Arbeit.“ (95)
Diese Formänderung der Arbeit (von konkreter zu abstrakter) bedeutet, dass das „Tätigsein in einer bestimmten Art und Weise organisiert ist“ (165).
Bei Holloway geht es im Weiteren ausführlich um die Folgen dieser Abstraktion. Abstrakte Arbeit eignet sich unsere Körper an, unseren Geist, unseren Verstand (110); die Abstrahierung des Tätigseins zu Arbeit schafft Personen, Charaktermasken, die Arbeiterklasse (114), den männlichen Arbeiter und die Doppelförmigkeit der Sexualität (119) sowie die Natur als Objekt (125). Sie entäußert unser Handlungsvermögen, schafft Bürgerin und Bürger, schafft die Politik und den Staat (130) und sie bedeutet Homogenisierung der Zeit (135). Außerdem stellt sie Totalität her (141). Letztlich produziert sie auch die Klassengesellschaft (149f.) als einen „Konflikt zweiter Ordnung:“
Die durch die Entzweiung von Tun und Arbeit erzeugten Konflikte verlaufen nicht primär zwischen verschiedenen Menschengruppen, sondern der Konflikt spielt sich in jedem Individuum ab. Immer mehr Menschen leben ein zwiegespaltenes Leben:
„Ich sitze an der Nähmaschine und produziere Jeans, meine Gedanken aber sind abwesend: sie bauen eine neue Hütte für mich und meine Kinder. Ich bin ein Student und arbeite hart, um gute Noten zu bekommen, suche aber auch eine Möglichkeit, meine Studien gegen den Kapitalismus und für die Schaffung einer besseren Welt zu verwenden.“ (103)
Das was hier und an anderen Stellen in Holloways Buch nachdrücklich immer wieder beschrieben wird, ist auch die Grundlage für den Unterscheidungsversuch von „Arbeitskraft“ und „Arbeitsvermögen“ (siehe hier).
Worin besteht nun die Bedeutung dieser Unterscheidung? Für Holloway ist sie der wichtigste „lebendige Antagonismus“, der dazu geeignet ist, den Kapitalismus „aufzubrechen“, wie der Buchtitel andeutet. Holloway geht davon aus, dass „[u]nser Tätigsein […] nicht völlig der abstrakten Arbeit untergeordnet“ ist. (100)
„Von der abstrakten Arbeit können wir nicht sprechen, ohne auch von diesem, was nicht ganz reinpasst, zu sprechen, dem konkret-schaffenden Tätigsein, das in die abstrakte Arbeit hineinpasst und doch nicht hineinpasst, das vom Gefäß der abstrakten Arbeit umschlossen ist und doch aus ihm herausschäumt.“ (152)
John Holloway sieht davon ausgehend den Prozess der Revolution vor allem darin, dass sich der Arbeitsprozess vom Verwertungsprozess und das Tätigsein von der abstrakten Arbeit emanzipiert (172). Der erste Schritt dazu ist Verweigerung:
„Ich weigere mich, zur Arbeit zu gehen und setze mich mit einem Buch in den Park: ein Vergnügen, das keiner Rechtfertigung bedarf; sollten aber alle zugleich denselben Entschluss fassen, bräche der Kapitalismus sofort zusammen.“ (78-79)
Diese Verweigerung muss dann verbunden werden mit einem „anderen Schaffen“ (12). Für die Verbindung zwischen der das Vorhandene verneinenden und das Neue schaffenden Haltung verwendet Holloway häufig die Wortkombination: „in-gegen-und-darüber hinaus“.
In-Gegen-und-Darüber-hinaus Handeln
Antikapitalistisches Handeln konzentriert sich nicht mehr auf die Abschaffung des Kapitalismus, im schlimmsten Fall mit gewalttägigen Methoden oder Weisen, die hierarchisierende, institutionalisierende bzw. anderweitig unterdrückerische Praktiken verewigen, sondern es geht darum, aufzuhören, den Kapitalismus zu reproduzieren und stattdessen etwas anderes zu tun.
„… anstatt uns auf die Zerstörung des Kapitalismus zu konzentrieren, konzentrieren wir uns auf die Schaffung von etwas anderem“ (54)
Es geht darum, „ durch die Welt der Charaktermasken hindurchzubrechen und den darunterliegenden Leidenschaften und Menschenwürden eine Stimme zu verleihen, sie aufzurühren.“ (226) Geeignet sind hierzu neben politischer Theorie auch künstlerische Ausdrucksformen.
Die politische Praxis muss sich der Versuchung verweigern, in symmetrischer Weise auf die Praxen der Abstrahierung, des Kapitalismus einzugehen. Keine Orientierung auf den Staat, der eine „falsche Art und Weise [ist], Dinge zu tun“ (63), keine Politik der Forderungen (243), sondern eine Politik der Menschenwürde wird gebraucht. Die deprimierende Erfahrung mit linken Parteien widerholt sich immer wieder:
„Politische Parteien, wie links oder selbst „revolutionär“ sie auch sein mögen, zeichnen sich durch hierarchische Strukturen und gewisse Sprach- und Verhaltensformen aus, die denen des Staates entsprechen. Die nur äußerliche Beziehung zur Gesellschaft wird im Begriff der „Massen“ reproduziert – eine Anzahl ununterscheidbarer, abstrakter Atome von begrenzten Fähigkeiten, der parteilichen Führung harrend. Diese linken Parteien mögen zwar antikapitalistische Absichten hegen, in ihren Organisations- und Handlungsformen aber neigen sie dazu, die kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen zugrunde liegende Erniedrigung der Person zu einem reinen Gegenstand fortzusetzen.“ (64)
Die Menschen sollen jedoch nicht als Opfer deklariert werden, sondern als handelnde Menschen anerkannt. Anstelle einer auf den Staat gerichteten Parteipolitik geht es um die Entwicklung einer Politik von Räten und Versammlungen. Anstelle von Hierarchien und Effizienz geht es in den eigenen Organisationsformen um Respekt für alle Beteiligten, die Förderung aktiver Teilnahme und direkte Demokratie und Kameradschaft (46). Statt vertikale Strukturen zu entwickeln, die andere zum Objekt machen, soll auf der Subjektivität der Beteiligten bestanden werden, was einen fortwährenden Kampf gegen Vertikalität benötigt (50).
Zu diesen Fragestellungen berichtet Holloway leider immer nur kurz von Erfahrungen aus den Kämpfen in Lateinamerika. Die Verbindung von Abwehrkämpfen und der Entwicklung einer neuen Kultur wird z.B. in Erfahrungen aus den Wasserkämpfen in Cochabamba deutlich:
„Wir haben wirklich viel gelernt. Darüber hinaus, dass wir das Wasser für die Leute von Cochabamba erobert haben, haben wir das Leben wiederentdeckt, die Solidarität, Geschwisterlichkeit, und wir haben sehr wertvolle, dauerhafte Freundschaften entwickelt. […] Wir sind wieder Menschen geworden.“ (zit. S. 48-49)
Das wesentliche Moment, das im Menschlichen der Erstarrung widersteht und dagegen kämpft, ist für Holloway die Menschenwürde. Würde wurde spätestens in den Kämpfen der Zapatistas zu einem wesentlichen Motiv des Widerstands und schon Ernst Bloch hatte dies auch erkannt: Es könne nicht nur darum gehen, um wirtschaftlich-sozialen Wohlstand zu ringen, sondern die menschliche Würde des „aufrechten Gangs“ ist mindestens ebenso wichtig (vgl. z.B. Prinzip Hoffnung, S. 632).
„Menschenwürde ist eine Klinge, die das feste, rohe, dichte Gewebe kapitalistischer Herrschaft durchtrennt. Menschenwürde ist ein Eisbrecher, dessen scharfer Bug sich durch eine gewaltige Masse dichten Eisens fräst: das scheinbar undurchdringliche Grauen, das wir Kapitalismus nennen. Menschenwürde ist eine Spitzhacke, mit der wir auf die näher rückenden Wände einschlagen, die die Menschheit zu zermalmen drohen. Menschenwürde ist ein Messer, mit dem wir die Fäden des Spinnennetzes zu zerschneiden versuchen, das uns gefangen hält.“ (53)
Auf dieser Grundlage entstehen auch neue wirtschaftliche Praxen und Beziehungen. Wie für alles gilt auch hier: wir brauchen keine Revolution abzuwarten, sondern wir können an vielen Stellen bereits beginnen. Für die Alternative Ökonomie schlägt Holloway vor, Strukturen der wechselseitigen Unterstützung zu schaffen (75) und vor allem auch die eigene Widerständigkeit nicht aus dem Blick zu verlieren, denn sonst wird die alternative Wirtschaft „einfach zu einer Ergänzung der kapitalistischen Produktion“ (76).
Wenn es schließlich gelingt, den Kapitalismus nicht mehr zu erzeugen, entsteht Platz für eine neue Gesellschaft:
„Eine Welt vieler Welten wäre keine neue Totalität, sondern eine bewegliche Konstellation oder Konföderation von Besonderheiten. Kein Kommunismus, sondern ein Kommunisieren.“ (208)
Offener Marxismus
Um Holloways Position genauer einordnen zu können, ist es vielleicht sinnvoll, sie im Kontrast zum klassischen Marxismus zu betrachten. Dieser Marxismus sieht den wesentlichen Bewegungswiderspruch des Kapitalismus im Konflikt zwischen Kapital und Arbeit. Deshalb bewegt sich der Klassenkampf innerhalb des Horizontes der Arbeit, es gehe lediglich um den Kampf gegen Ausbeutung, um eine bessere Verteilung des Mehrwerts. In diesem Kampf wird der Begriff der Klassen so gebildet, dass er Menschengruppen unterscheidet:
„In dieser Begriffswelt werden Menschen zu Trägern gesellschaftlicher Verhältnisse; Klassen werden definierbare und abgegrenzte Personengruppen. […] Marxismus ist eine positive Wissenschaft geworden, eine Art strukturaler Funktionalismus.“ (162)
Der Grund für diese Sichtweise ist auch darin begründet,dass in diesem traditionellen Marxismus die „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ als historisch abgeschlossener Prozess betrachtet wird und danach (von Marx schwerpunktmäßiog im „Kapital“) nur noch die (erweiterte) Reproduktion des kapitalistischen Systems selbst untersucht wird.
Dies entspricht dann eher der Analyse der „Wand in ihrer Festigkeit“, während Holloway sie ja „in ihrer Brüchigkeit verstehen“ (15) will.
Entsprechend den Erfahrungen mit dem neoliberalen Globalisierungs- und Raubtierkapitalismus geht Holloway davon aus, dass die „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ ständig weiter geführt wird, dass also immer wieder Menschen, Territorien und Sachgebiete, die vorher nicht den kapitalistischen Reproduktionsgesetzen unterworfen waren, in den kapitalistischen Reproduktionszyklus hineingezogen werden.
Dazu gehört auch der ständige Prozess der Umformung von „bewusster Lebenstätigkeit“, die zu abstrakter Arbeit „abstrahiert“ wird. Für Holloway sind die Auseinandersetzungen um diese Abstrahierung die Wesentlichen, nicht der Kampf der bereits der Abstraktion unterworfenen gegen die Ausbeutung.
Der „neue Marxismus“ ist als „neue revolutionäre Theorie“ nicht die Theorie des Kampfes der Arbeit gegen das Kapital, sondern des Kampfes des Tätigkseins gegen die Arbeit (und damit auch gegen das Kapital) (159).
Bild oben: Gertrud K.
September 19, 2011 at 2:49 pm
Ich habe das Buch von Holloway nicht gelesen, aber was mir auffällt ist, dass bei ihm die »abstrakte Arbeit« eine eigenständige Entität zu sein scheint. Auch in deiner Darstellung kommt das am Anfang so rüber. Bei Marx ist jedoch die »abstrakte Arbeit« eine analystische Fassung des einen Aspekts des Doppelcharakters der Arbeit. »Abstrakte Arbeit« als solche (und auch »konkrete Arbeit« als solche) existiert nicht, sondern warenförmige Arbeit mit den beiden Aspekten/Momenten.
Redet man von »abstrakter Arbeit« im deskriptiven Sinne, ist etwas anderes gemeint, als die analytische Bestimmung von Marx (eher: die Arbeit wird immer unsinnlicher, uneinsichtiger, eintöniger etc.).
Gleichzeitig lautet der letzte Satz, des ginge nicht um
Hier also steht — Gattungsbestimmung (hier: Tätigsein) gegen Formbestimmung (Arbeit, Kapital). Das schließt an unsere Diskussion beim letzten Artikel an.
Logisch widersprüchlich finde ich nun, dass du (oder Holloway) einen Aspekt der doppelt bestimmten Arbeit (konkrete Arbeit), der als solcher gar nicht existiert, zur überhistorischen Arbeit an sich erklärst. Dieses Hinüberfließen der aspektuellen Formbestimmung (»konkrete Arbeit«) in eine Gattungsbestimmung (ewige »konkret-nützliche Arbeit«) findet sich allerdings genauso auch schon bei Marx.
Oder verstehe ich da etwas falsch?
September 21, 2011 at 11:31 am
Dieser erste Teil ist erst mal nur eine Referierung des Inhalts von Holloways Text. Natürlich sehr verkürzt, aber als Grundlage für das, was ich im Weiteren noch schreiben will. Und dazu hab ich nicht umsonst ausdrücklich die zweifelnde Vorrede vorgeschaltet…;-)
September 19, 2011 at 4:06 pm
Interessant, werde dem ein wenig nachgehen. Allerdings eines zum folgenden Marxzitat:
„Die Theorie ist fähig, die Massen zu ergreifen, Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“
Dass dies eine der schwächsten Stellen im MEW ist, machte einst Martin Buchholz deutlich,der seinem Publikum einmal sehr eindrucksvoll „die Ergriffenheit der Massen“ im Angesicht der sie gerade ergreifenden Theorie vor Augen führte. Eine klassische Subjekt-Objekt Umkehr! 🙂 Also wenn schon, dann würde eine Theorie zur materiellen Gewalt indem die Massen zu ihr greifen – um sich z.B. Klarheit über die Bedeutung gegenseitiger Verständigung (als kommende Basis des miteinander Weltwirtschaftens) zu verschaffen.
😉 Gruß hh
September 21, 2011 at 11:40 am
Was hältst Du denn vom „ad hominem“-Kritik-Prinzip?
September 21, 2011 at 2:42 pm
Von und zu den konkret handelnden Menschen? Der Zugewinn an Möglchkeiten zur gemeinschaftlichen (und sozial bzw. ökologisch bewussten) Bestimmung der wesentlichen Produktionsparameter ist für mich entscheidend. Diskursethik geht m.E.eine solche Richtung. Aber die Vorstellung. alles müsste „Lebenswelt“ werden und dann bräuchte man keine „Systemwelt“ mehr halte ich für ein Entfremdungsphänomen. Da ist der Begriff der Spontanität fetischisiert.
September 19, 2011 at 5:13 pm
Zur Veranschaulichung von „abstrakter Arbeit“:
Abstrakte und nicht konkret geleistete Arbeit ist die wertbildende Substanz von Waren in zweierlei Hinsicht: einmal, weil innerhalb privateigentümlicher Produktionsverhältnisse überhaupt Arbeit ohne seinen konkreten Inhalt zur Basis der Aneignung von Aneignungsvermögen wird und zum zweiten, weil nicht die wirklich erbrachte Arbeitsleistung wertbildend ist, sondern die, die als zur Reproduktion der Ware (waren-)gesellschaft notwendig erweist.
Als sehr irritierend empfinde ich es, wenn „abstrakte Arbeit“ mit „entfremdeter“ Arbeit ineins gesetzt wird, was manchmal gar mit einer moralischen Empörung.dagegen gekoppelt ist. Dabei wird z.B. übersehen, dass die Realabstraktion über den Markt eben auch Bedingung des Produktivitäötsfortschritts und damit des (fatales) Erfolgsgeheimnises des Kapitalismus ist.
Zwar sehe ich in der Ententfremung von Arbeit, d.h. positiv formuliert, die (Verallgemeinerung der Möglichkeit zur) Aneignung der Möglichkeit zur Mitgestaltung der Ziele, Mittel, Voraussetzungen und Folgen menschlicher Produktion durch – am Ende – freie Assoziationen der sich als Mitmenschen (an-)erkennenden Menschen das Wesen einer den Kapitalismus überwindenden Emanzipation, aber Beschwerden über die „Gemeinheit der abstrakten Arbeit“ sind da oft wohl mehr Ausdruck von Entfremdung als Teil ihrer Aufhebung.
Aber sorry, ich sollte diese ganzen Sachen hier ersteinmal in Ruhe lesen.
Nichts für Ungut.
Gruß hh.
September 19, 2011 at 8:58 pm
„Es geht um das Zurückführen gesellschaftlicher Systemhaftigkeit auf das Tun und Handeln von Menschen.“
Muss es erwähnt werden, dass es um das Tun und Handeln von Menschen geht wenn vom systemhaften Miteinandertun die Rede ist? Eine andere Systemhaftigkeit des menschlichen Tuns und Handelns ist nötig! Es sollte natürlich eine sein, die notfalls korrigiert werden kann.
September 21, 2011 at 11:29 am
Die Notwendigkeit einer „anderen Systemhaftigkeit“ würde Holloway kritisieren. Er kritisiert Gesellschaftlichkeit als „Totalität“, und es geht ihm darum, „für das Besondere zu kämpfen, das Besondere, das sich weigert, reinzupassen. […] Wir beschmeißen die Totalität mit Besonderem.“ (57)
Und:
„Immer und immer wieder werden wir aufgefordert, unsere Kämpfe aus der Perspektive der als positiv verstandenen Totalität zu beschreiben und zu planen, sie also der Logik einzuverleiben, die wir ablehnen.“ (145)
September 21, 2011 at 2:20 pm
„Die Notwendigkeit einer „anderen Systemhaftigkeit“ würde Holloway kritisieren.“
Ja, genau das sehe ich als Problem :-).
Vielleicht ist der Beitrag von Ingo Elbe hier hilfreich. Komme selbst erst später dazu, den zu lesen.
http://www.rote-ruhr-uni.com/cms/Holloways-Open-Marxism.html
Gruß hh
September 19, 2011 at 9:14 pm
„Und um es ganz verworren zu machen: konkrete, nützliche Arbeit ist das, was es in jeder Gesellschaftsform gibt“
Aber das ist doch klar und gar nicht verworren.
September 21, 2011 at 11:41 am
Naja, verworren finde ich, dass auf diese Weise die „konkrete, nützliche Arbeit“ das Gedanken-Abstrakte ist.
September 21, 2011 at 2:13 pm
Sind zwei verschiedene Ebenen. Der Mais ist wie die Arbeit (als überhistorische Bestimmung einer Tätgkeit zur Herstellung eines als solchen definierten Nutzeffektes) die allgemeine Form, der Gen-Mais ist wie die (waren-)wertproduktive Arbeit die spezielle Form. (Das könnte man auch zum Apfel oder Bio-Apfel sagen).
Unabhängig von der historischen Form der Arbeit kann sie (nach obiger Bestimmung) immer nur als konkret nützliche geleistet werden. Nur produziert diese konkret nützliche Arbeit in der kapitalistischen Epoche auch (!) Warenwerte, an die Aneignungsrechte geknüpft sind und die eine Steuerfunktion haben – diese allerdings nicht als konkret nützliche Arbeit sondern als zur Erlangung des – über den Verkauf bzw. Kauf des Gutes oder der Dienstleistung – erzielen Nutzeffektes im gesellschaftlichen Durchschnitt (!) aufzubringende Arbeitszeit. Dem Warenwert ist es egal welche Arbeit da konkret geleistet wurde und ob einzelne Unternehmen über oder unter dem – durch den Markt ermittelten – Nützlichkeitslevel produzierten.
September 19, 2011 at 9:37 pm
„Antikapitalistisches Handeln konzentriert sich nicht mehr auf die Abschaffung des Kapitalismus…“
Ja, das ist und bleibt der Unterschied, zwischen (hilflosem) Antikapitalismus und Weltkommunismus. Die Fetischisierung und in Folge Dämonisierung des Begriffs „abstrakte Arbeit“ frisst ihre Kinder. H. ahnt vielleicht, dass Prozesse der sozialen Emanzipation (als z.B. bewusste Entwicklung und bestimmter Gebrauchswerte mitsamt einer gesellschaftlichen Refektion des Ganzen) auch unter der Hülle der von der Natur, dem Arbeitsgegenstand und der Menschheitsentwicklung entfremdenden Tätigkeit (Lohn- und Gehaltsarbeit) stattfindet, aber da nicht sein kann was nicht sein darf heißt die Parole: Blaumachen statt Sozialismus!
Oder habe ich das komplett missverstanden?
September 21, 2011 at 11:26 am
Bei ihm scheint (u.a.) Blaumachen zur antikapitalistischen Gesellschaft (die er nicht Sozialismus nennt) zu führen. Das hast Du schon richtig verstanden.
„u.a.“, weil auch das „anders-Schaffen“ neben der Verweigerung als Aufgabe genannt wird.
September 21, 2011 at 2:30 pm
Tscha, wie käme man mit individuellem Blaumachen zum weltgemeinschaftlichen Rotmachen das auch noch ein ebenso weltgemeinschaftliches Grün- Lila- und Rosamachen ist. Ok, durch die Thematisierung des sozialen Nutzens und der ökologischen Verantwortbarkeit von Arbeitsaufwand und einer Debatte, wie die Frage des Arbeitsaufwands in ein zu elablierendes Welt-Ressourcenmanagement eingeordnet werden könnte.
Aber genau ider Gedanke st dem Holloway anscheinend unheimlich.
September 23, 2011 at 8:00 pm
[…] den Kommentaren zum letzten Beitrag, in dem ich die Ansichten von John Holloway referiert habe, wurde schon auf die Fragwürdigkeit von […]