Der folgende Text entstand schon vor einigen Jahren für eine „Alternative Uni“ in Jena. Ich stelle ihn jetzt online, weil wir uns in unserem „Fragend-Voran-Heft“ zum Thema Technik darauf beziehen… Er steht unter dem Titel:

Studierst du noch – oder begreifst du schon?
Von Kritik der Wissenschaft und Kritischer Wissenschaft


Vor über 200 Jahren stellte Friedrich Schiller die Frage „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“ Diese Frage gilt für alle Bildungs- und Studienwege und wird immer wieder praktisch beantwortet, auch wenn viel zu selten ernsthaft darüber nachgedacht wird. Wer stellt denn heute noch – wie einst Schiller – in Frage, dass in der akademischen Welt wie in der Wirtschaft Konkurrenzdenken statt Zusammenarbeit vorherrscht. Wer wundert sich noch, dass Belohnungen von außen, wie das Erringen von Scheinen für die Studies und ein excellenter Zitierindex für die Profs statt Interesse und Begeisterung am Gegenstand als Motivation herhalten müssen. Es ist normal geworden, dass manch Wissenschaftler nach seinen ersten Ergebnissen krampfhaft darauf achtet, dass diese nie wieder in Frage gestellt werden anstatt begeistert Neues, das die bisherigen Ergebnisse in Frage stellt, zu fördern. Die Antwort auf die Frage wird in der Praxis gegeben: „Philosophische Köpfe“ – so die Bezeichnungen Schillers für entsprechende Haltungen gegenüber der Wissenschaft – können keine Drittmittel einwerben, nur „Brotgelehrte“ werden einen Job finden.

Diese verschärfte ökonomische Erpressbarkeit in der Zeit des neoliberal entfesselten Kapitalismus ist wohl auch der Grund dafür, dass „der etablierten wissenschaftlichen Praxis… nicht mehr eine Wissenschaftskritik entgegen [tritt], welche mit dem Anspruch auf die „bessere Wissenschaft“ auftritt… Auch wird keine inhaltliche Wissenschaftskritik mehr geübt.“ (Wolf 2004) Wenn wir schon verzweifelt darum kämpfen, für das, was wir angeboten bekommen, nicht auch noch Studiengebühren bezahlen zu müssen, bleibt kein Bedenken mehr gegenüber dem, was wir erhalten möchten. Die neuen Studienbedingungen tun ein Übriges, um alle Zeit- und Kraftressourcen aufzuzehren, die wir bräuchten, um das, was wir beigebracht bekommen, kritisch zu werten und eventuell gar noch ein Gegenkonzept zu entwickeln. Die Bildungsinhalte werden sakrosankt, das einst vorhandene kritische Wissen geht über die Studentengenerationen hinweg verloren. Andererseits wäre es doch auch ein Motiv, die Qualität dessen, für das wir auch noch Geld ausgeben sollen, ganz besonders zu hinterfragen. Aber dabei wird es eine Rolle spielen, ob wir aus der Sicht der Brotgelehrsamkeit oder des philosophischen Kopfes fragen.

Feministische Wissenschaftskritik

Auf jeden Fall brauchen auch philosophische Köpfe eine Lebensgrundlage. Wer die in der akademischen Welt sucht, sollte – vor allem in den „harten“ Naturwissenschaften – in bestimmten Ländern zuerst einmal männlich sein. „In Italien und in der Türkei 25% sind aller Physikstudierenden und aller Physikprofessuren weiblich – der Frauenanteil an Physikprofessuren in der Bundesrepublik beträgt aber nur 0,5% bei 10% Physikstudentinnen“ (Frank 1998). Seit Ende der 70er Jahre geht es aber auch vielen Frauen nicht mehr nur um das brotgelehrte Dabeisein-Dürfen, sondern sie stellen Inhalte, Methoden und Konsequenzen der Wissenschaft kritisch in Frage (Heinsohn 1999: 46).

Das bezieht sich auf die Inhalte der jeweiligen Wissenschaft, die durch geschlechtsspezifische Fragestellungen bestimmt werden sowie auf die Methoden, die den forschenden Menschen mehr oder weniger von seinem Untersuchungsgegenstand isolieren. Für die eher „weiche“ Wissenschaft Biologie ist es mittlerweile in vielen Fälle nachgewiesen, dass sogar bessere Ergebnisse erreicht werden, wenn vom eigentlich vorgeschriebenen Weg abgewichen wird. Die Arbeit der Nobelpreisträgerin Barbara McClintock ist so ein prominenter Fall. Sie legt Wert darauf, ein „Gefühl für den Organismus“ zu entwickeln und „das Material sprechen lassen“, ihm erlauben „einem zu sagen, was als nächstes zu tun sei“ (nach Fox Keller 1989: 293f.). Im Bereich der Medizin entwickelten sich aus den kritischen Ansätzen Bewegungen für ein alternatives Herangehen an Themen der Frauengesundheit; Frauengesundheitszentren wurden verwirklicht. In der Geschichtswissenschaft melden sich vermehrt Frauen zu Wort, die die männliche Deutungsdominanz kritisieren und beispielsweise feststellen, dass in der Geschichte der Frauen eine andere Periodisierung erforderlich ist als in der gängigen politische Geschichte. (Lerner 1989: 344; Harding 1989: 429)

Ökologische orientierte Wissenschaftskritik

Die inhaltliche und methodische Wissenschaftskritik, die vom Verhältnis von Gender (soziales Geschlecht) und Wissenschaft ausgeht, trifft sich in vielen Punkten mit der ökologisch orientierten Wissenschaftskritik. Aus ökologischer Sicht steht vor allem der Standpunkt des Beherrschen-Wollens unter Kritik. Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass der Standpunkt der Objektivität das erkennende Subjekt zu radikal von den zu untersuchenden natürlichen Zusammenhängen isoliert. Auch der Verlust an Naturqualitäten durch die Quantifizierung der messenden und rechnenden Naturwissenschaften wird beklagt. So schreibt beispielsweise Karen Gloy: „Aus der Fülle der Wesensbestimmungen, die nicht nur quantitative Merkmale, sondern auch qualitative, nicht nur äußere, sondern auch innere umfaßt, wird eine bestimmte Klasse ausgesondert, die der quantitativen, welche der Messung, Zählung und dem Wägen zugänglich sind.“ (Gloy 1995: 174) Die Beziehung zur Natur wird auf den instrumentellen Aspekt reduziert, Natur wird nicht in ihren Eigenarten erforscht, sondern bereits im Erkenntnisprozess im Labor so zugerichtet, dass sie durchweg nur als von Menschen beherrscht auftritt. Die Patentierbarkeit neuer Lebensformen ist nur ein Ausdruck dieser Herangehensweise: „Wir kennen doch die Herangehensweise, Leben nur als chemische Verbindung oder Informationscode anzusehen. Deswegen ist die Entscheidung des Patentamtes eigentlich keine Abweichung von der Sichtweise des Lebens, welche Wissenschaft und Industrie entwickelt haben.“ (Rifkin 1987: 52)

Politische Wissenschaftskritik

Herrschaft ist vor allem eine politische Kategorie. Sie löst sofort Gedanken zur Rolle politischer Herrschaft für die Wissenschaft aus. Auffallend ist auf den ersten Blick, dass ca. 60% aller Forschungsaufwendungen im Militärbereich anfallen. (BICC-Jahrbuch 2004) Wieweit auch die im kommerziellen Bereich tätigen WissenschaftlerInnen immer mehr destruktive Kräfte stärken statt fortschrittlich wirkende Erkenntnisse zu gewinnen, wird noch weitgehend verdrängt. Hier, im Bereich der realen militär-ökonomisch-politischen Macht, erhalten wir auch die Erklärung des erstaunlich unterschiedlichen Frauenanteils in der BRD und der Türkei. Elisabeth Frank erklärt: „Gerade in hochtechnisierten Ländern sind diese Wissenschaften eng mit Macht verknüpft, wirtschaftlicher Macht, militärischer Macht, politischer Macht, Männermacht.“ (Frank 1998)

Leider beschränkt sich der Einfluss der herrschenden kapitalistischen Gesellschaftsform auf die Wissenschaft nicht nur auf ihren missbräuchliche Nutzung und eine einseitige Steuerung der Ziele wissenschaftlichen Forschens. Dass auch die Methoden und Inhalte von gesellschaftspolitisch einseitigen Interessen bestimmt sind, zeigt sich in den Sozialwissenschaften noch am deutlichsten. Typisch für eine inhaltliche Deformierung ist hier die Naturalisierung gesellschaftlicher Bestimmtheiten als anthropologische Konstanten. Bürgerlich-kapitalistische Formen der Arbeit, der Kommunikation, der gesellschaftlichen Beziehungen, des Verhaltens und der Individualitätsformen werden als „allgemein-menschliche“ dargestellt. „Kritik“ wird nur zugelassen unter der Voraussetzung, die Bedingungssetzung durch die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mit zu hinterfragen.

Für die Naturwissenschaften ist die Analyse des Einflusses der kapitalistischen Gesellschaft schwerer. In den eher „weichen“ Wissenschaften wie Biologie und Medizin wurden dazu bereits wichtige Arbeite geleistet. Für die „harten“ Wissenschaften wie Physik oder auch Mathematik fällt das schwerer. Der Ausgangspunkt vieler Kritiken ist die Überlegung Alfred Sohn-Rethels, dass sich die abstrakte Tauschlogik der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Methode der Naturwissenschaft übertragen habe. (Sohn-Rethel 1972) Die „soziale Konstruiertheit“ der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse wird gegenwärtig vor allem durch die „Science Studies“ untersucht (vgl. Scharping 2001).

Für Gernot Böhme ist das „Ende des Baconschen Zeitalters“ gekommen, weil nicht mehr auf einen Zusammenhang zwischen wissenschaftlichem und gesellschaftlichem Fortschritt vertraut werden kann (Böhme 1993). Noch skeptischer fragt Sandra Harding: „Ist es überhaupt möglich, Wissenschaften, die offensichtlich so tief mit westlichen, bürgerlichen und männlich do-minierten Zielvorstellungen verbunden sind, für emanzipatorische Zwecke einzusetzen?“ (Harding 1990, S. 7)

Kritisches Unterscheiden

Unter „Kritik“ kann das Beurteilen einer Sache oder Ansicht verstanden werden. Das griechi-sche Verb „kritein“ verbindet das Beurteilen mit dem (Unter-)Scheiden. Seit Kant bezieht sich diese Unterscheidung vor allem darauf, zwischen dem Erkennen und den die Erkenntnis ermöglichenden Bedingungen zu unterscheiden. Erkennen ist nicht voraussetzungslos – die Voraussetzungen selbst müssen thematisiert werden.

Für eine Kritik der Wissenschaften ist die Aufzählung missbräuchlicher und deformierender Erscheinungen und der Nachweis der Verursachung dieser Deformierung durch die kapitalistische Gesellschaft nicht hinreichend. Erforderlich ist auch eine grundlegende Bestimmung des Inhalts und der Aufgabe von Wissenschaft.

Unterscheidung von Wissenschaft und Weltbild

Zum Erbe der Aufklärung gehört es, dass das Weltbild wissenschaftlich fundiert sein soll. Aber damit ist keine Identifizierung von Wissenschaft und Weltbild gerechtfertigt. Der Gegenstand jeder Wissenschaft ist eingeschränkt, Aussagen über „die Welt als Ganzes“ können nie durch die Wissenschaft vollständig gebildet werden. Beispielsweise beschreibt die Newtonsche Physik von vornherein lediglich die Bewegungsmöglichkeiten bestimmter physikalischer Körper unter bestimmten Bedingungen. Aussagen über eine mögliche „Welt als Mechanismus“ gehören nicht in ihren Gegenstandsbereich und sind kurzschlüssig auf weltanschauliche Fragen übertragen worden. Die vielzitierte „Mechanisierung der Welt“ geschah nicht durch Newton, der die Grenzen seiner wissenschaftlichen Aussagen wohl sah – es war Voltaire, der aus der wissen-schaftlichen Theorie ein umfassendes Weltbild ableitete (Borzeszkowski, Wahsner 1980). Auch die modernsten physikalischen Theorien, die sich als „Theory of Everything“ darstellen, überziehen ihre methodisch bestimmten Grenzen.

Besonderheit wissenschaftlicher Tätigkeit

Eine weitere Unterscheidung bezieht sich auf die Besonderheit der wissenschaftlichen Arbeit im Gesamtkontext gesellschaftlicher Arbeit. Arbeit im Allgemeinen verändert die Welt im Interesse der menschlichen Lebensbedürfnisse. Wissenschaft hat in diesem Kontext die Funktion, die objektive Veränderbarkeit zu erkunden (Laitko 1979: 84). Mit dieser Bestimmung der Wissenschaften ist auch die angebliche Wertfreiheit der Wissenschaft zurück zu weisen. Wenn nach Veränderbarkeit gefragt wird, sind Interessen an bestimmten Veränderungen vorausgesetzt. Derzeit werden interessebestimmte Entscheidungen über Machtverhältnisse reguliert und bestimmt – in einer menschlichen, freien Gesellschaftsform werden diese Interessen in freien Vereinbarungen der Menschen untereinander abgestimmt werden.

Die Rolle von Erkenntnismitteln

Zum Verständnis der Wirkungsweise von Wissenschaft ist eine weitere Unterscheidung notwendig: Wissenschaftliche Erkenntnis ist nicht ein unmittelbarer Zugriff der Erkenntnissubjekte auf Erkenntnisobjekte – auch kein unvermittelter „Dialog“, bzw. ein Ineinander-Verschwimmen. Wie in allen Arbeits- bzw. menschlichen Tätigkeitsformen werden theoretische und gegenständliche Mittel entwickelt und verwendet. Solche Erkenntnismittel sind beispielsweise die jeweils verwendeten physikalischen Raum- und Zeitvorstellungen (auch im gekrümmten Raum der Allgemeinen Relativitätstheorie wird die Krümmung am Maßstab eines messtheoretisch vorausgesetzten ebenen Minkowskiraumes bestimmt). Gerade die Untersuchung der jeweils verwendeten Erkenntnismittel kann wissenschaftskritische Untersuchungen fundieren, denn sie begründet die Begrenztheit des Anwendungsbereiches jeder möglichen wissenschaftlichen Theorie.

Unterschiedliche Erkenntnistypen

Wissenschaftliche Erkenntnis befindet sich im Spannungsfeld zwischen Tatsachenfeststellung und Spekulation. Sie bezieht sich auf die Tatsachen der gegebenen Realität, bildet sie aber nicht einfach verdoppelnd ab. Sie erfasst die Tatsachen nach Maßgabe theoretischer Vorüberlegungen, aber konstruiert sie nicht willkürlich. Der bereits genannten Aufgabe der Wissenschaft, die Veränderbarkeit zu untersuchen, wird sie nur gerecht, wenn sie nicht nur das Gegebene sieht, sondern das Gegebene nach Maßgabe seiner Veränderbarkeit untersucht. Die Veränderbarkeit hat dabei zwei Horizonte: Wir unterscheiden dabei zwischen (Veränderungs-)Möglichkeiten innerhalb gegebener Rahmenbedingungen und zwischen der Möglichkeit, die Rahmenbedingungen selbst zu verändern.

Alle Beziehungen in Natur bzw. Gesellschaft beruhen auf qualitativ bestimmten Verhältnissen, deren Existenz unter Bedingungen steht. Wenn diese Bedingungen nicht gegeben wären, würden nicht diese Verhältnisse (mit bestimmten Gesetzmäßigkeiten) existieren, sondern andere. Zusätzlich gibt es innerhalb dieser bestimmten Verhältnisse ein Feld möglicher Zustände, bei denen die grundsätzlichen Existenzbedingungen vorausgesetzt, aber nicht verändert werden. Die Einzelwissenschaften, welche Theorien auf Grundlage von gesetzmäßigen Beziehungen behandeln, thematisieren lediglich die Möglichkeiten innerhalb vorgegebener Rahmenbedingungen (vgl. den Gesetzesbegriff nach Hörz 1974: 365/366). Wissenschaftliche Gesetze haben zum Inhalt nicht die Bewegung eines bestimmten konkreten Gegenstands, sondern erfassen die unter den gegebenen Rahmenbedingungen notwendigen Verhaltensmöglichkeiten aller Gegenstände eines bestimmten Gegenstandsbereiches (vgl. Schlemm 2005a: 232). Bezüglich der Rahmenbedingungen ist das Möglichkeitsfeld notwendigerweise festgelegt. Aber immerhin gibt es ein Möglichkeitsfeld innerhalb der Rahmenbedingungen. Zur Kenntnis wissenschaftlicher Gesetze gehört jedoch auch die Kenntnis der Bedingungen für ihre Existenz und Wirkung. Auch solche Bedingungen sind veränderbar, bzw. verändern sich im Verlaufe der Zeit, so dass andere Gesetze zur Wirksamkeit gelangen als vorher. Das Erkennen von wissenschaftlichen Gesetzen beinhaltet also 1. das Feststellen von verwirklichten Möglichkeiten („Tatsachen“), 2. die Erkundung des Möglichkeitsfeldes innerhalb fester Rahmenbedingungen und 3. die Angabe der Rahmenbedingungen, wodurch wir wissen können, welche Rahmenbedingungen verändert werden müssen, wenn andere als die gerade wirkenden Gesetze zur Wirkung gelangen sollen. Auf diese Weise enthält wissenschaftliche Erkenntnis verschiedene Horizonte für Handlungsorientierungen:

  1. „Sei realistisch!“ – Anerkennung der faktischen „Realität“
  2. „Erkenne das Mögliche!“ (innerhalb der gegebenen Bedingungen)
  3. „Verändere die Rahmenbedingungen“

Diese verschiedenen Typen von Erkenntnishorizonten beziehen sich nicht nur negativ aufeinander, sondern ergänzen sich. Wenn ich etwas verändern will, muss ich die zu verändernden Tatsachen kennen. Die Wahrnehmung der Tatsachen ist jedoch bereits abhängig vom Erkenntnisinteresse und den verwendeten Erkenntnismitteln. Wenn der 1. Erkenntnistyp verabsolutiert wird, entsteht ein empiristisch-positivistisches Wissenschaftsverständnis. Der 2. Erkenntnistyp ermöglicht die Erkenntnis statischer oder prozessualer gesetzmäßiger Zusammenhänge, d.h. die Erfassung von Möglichkeiten innerhalb fester Rahmen (z.B. die möglichen Bahnen von Planeten in einem Gravitationsfeld). Erst der 3. Erkenntnistyp interessiert sich auch für Entwicklungszusammenhänge, die qualitative Umbrüche in den Rahmenbedingungen mit erfassen, bei denen sich die wesentlichen Beziehungen grundlegend verändern.

Kritische Wissenschaft

Die einzelnen Natur- und Gesellschaftswissenschaften haben ihren Kernbereich im zweiten Erkenntnistyp. Sie fußen auf der Erkenntnis von allgemein-notwendigen Gesetzmäßigkeiten für bestimmte Gegenstandsbereiche unter gegebenen Bedingungen. Sie machen deshalb Aussagen über Verhaltensmöglichkeiten, die unter den gegebenen Bedingungen notwendigerweise vorhanden sind. Einzelne Tatsachen realisieren dadurch gegebene Möglichkeiten. Da die Kenntnis von Gesetzen auch die Kenntnis ihrer einschränkenden Bedingungen einschließt, ist speziell in den Gesellschaftswissenschaften damit auch das Wissen über die Veränderbarkeit dieser Rahmenbedingungen gegeben.

Wissenschaft wird dann kritisch, wenn sie ihre Beschränkungen selbst mit reflektiert (vgl. Horkheimer 1937/1992: 216). Dies bezieht sich einerseits auf die Gesellschaftlichkeit aller Erkenntnistätigkeit und die daraus folgende Historizität und Interessebezogenheit aller Wissenschaft (z.B. als „situiertes Wissen“ nach Haraway 1995: 80). Andererseits sind aber auch die epistemischen Beschränkungen wie die Verwendung von Erkenntnismitteln zu thematisieren. Politisch interessierte Wissenschaftskritik würde sehr viel gewinnen, die epistemologische Wissenschaftsanalyse ernst zu nehmen und Wissenschaften nicht pauschal zu verurteilen. Die Aufgabe besteht eher darin, die Wirkung gesellschaftlicher Einflüsse auf die Erkenntnismittel in sehr differenzierter Weise zu analysieren.

Kritische Wissenschaft kann die oben gegebene allgemeine Bestimmung von Wissenschaft, nämlich die Veränderbarkeit zu erkunden, übernehmen. In diesem Sinne ist auch gewährleistet, dass sie als Wissenschaft von vornherein kritisch gegenüber der Vorstellung ist, etwas sei unveränderbar. Diese Kritik bezieht sich aber nicht nur auf die Tatsachen der realen Welt, sondern auch auf die jeweilige Funktionsweise der Wissenschaft selbst. „„Unkritische Wissenschaften“ – das ist ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. Jede Wissenschaft beansprucht für sich, indem sie sich mit anderen Ansätzen, Ergebnissen und Methoden auseinander setzt, kritisch zu sein.“ (Kaindl 2004: 7) Diese Kritik wiederum orientiert sich an zwei verschiedenen Fragestellungen: die eine ist die nach dem Einfluss der jeweiligen Gesellschaftsformbestimmtheit der wissenschaftlichen Arbeit in einer bestimmten Zeit, die andere reflektiert die Entwicklung der jeweiligen Erkenntnismittel und ihrer jeweiligen Sachangemessenheit.
Kritik gegenüber den als unveränderbar angenommenen Tatsachen und gegenüber den gesellschaftlichen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen (sowie deren Zusammenhängen) ist keine freiwillige zusätzliche Aufgabe, sondern gehört unabdingbar zum Wesen wissenschaftlicher Erkenntnis. Was die Brotgelehrten treiben, wenn sie ihren Job tun, ist alles mögliche, aber nicht wirklich Wissenschaft.

Literatur

BICC-Jahrbuch 2004: Bonn International Center for Conversion (BICC): Verschiebung der Prioritäten bedroht die menschliche Sicherheit. http://www.interconnections.de/id_6496.html (Zugriff 6.August.06)

Böhme, Gernot (1993): Am Ende des Baconschen Zeitalters. Frankfurt: Suhrkamp.

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Fox Keller, Evelyn (1989): Feminismus und Wissenschaft. In: Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik. (Hrsg. v. Elisabeth List und Herlinde Studer.) Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 281-300.

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Harding, Sandra (1989): Geschlechtsidentität und Rationalitätskonzeptionen. Eine Problemübersicht. In: Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik. Hrsg. v. Elisabeth List und Herlinde Studer. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 425-453.

Harding, Sandra (1990): Feministische Wissenschaftstheorie. Zum Verhältnis von Wissenschaft und sozialem Geschlecht. Hamburg: Argument-Verlag 1990.

Heinsohn Dorit (1999): Feministische Naturwissenschaftskritik. In: FORUM Wissenschaft. Nr. 2. Apri 1999. S. 46-51.

Hörz, Herbert (1976): Marxistische Philosophie und Naturwissenschaften. (2. Auflage) Berlin: Akademie-Verlag.

Horkheimer, Max (1937/1992): Traditionelle und kritische Theorie. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.

Kaindl, Christina (2004): Vorwort: Kritische Wissenschaften im Neoliberalismus. Marburg: BdWi-Verlag. Forum Wissenschaft Studien 49. 2005. S. 7-10.

Laitko, Hubert (1979): Wissenschaft als allgemeine Arbeit Zur begrifflichen Grundlegung der Wissenschaftswissenschaft. Berlin: Akademie-Verlag.

Lerner, Gerda (1989): Welchen Platz nehmen Frauen in der Geschichte ein? Alte Definitionen und neue Aufgaben. In: Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik. Hrsg. v. Elisabeth List und Herlinde Studer. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 334-352.

Rifkin, Jeremy (1987): Von Schweinen, Toastern und Genen. Ein Interview mit Jeremy Rifkin. In: FORUM Wissenschaft. Nr. 2, 1987. S. 52-54.

Schiller, Friedrich (1789): Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Reprint des Erstdr. der Jenaer akademischen Antrittsrede aus dem Jahre 1789. Jena: Bussert 1996.

Scharping, Michael (Hrsg.) (2001): Wissenschaftsfeinde? „Science Wars“ und die Provokation der Wissenschaftsforschung. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Schlemm, Annette (2005a): Wie wirklich sind Naturgesetze? Auf Grundlage einer an Hegel orientierten Wissenschaftsphilosophie. Münster: LIT-Verlag.

Schlemm, Annette (2005b): Um welches Wissen geht es? Von radikaler Wissenschaftskritik und der Suche nach neuen Weisheiten. In: Wissen und Bildung in der modernen Gesellschaft. Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen e.V. Leipzig 2005. S. 167-179.

Sohn-Rethel, Alfred (1972): Geistige und körperliche Arbeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

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