In einem Gespräch mit einem Soziologiestudenten kamen wir auf die Frage, ob soziologische Forschung „wertfrei“ sein könne bzw. soll. Kann die Untersuchung der „Voraussetzungen, Abläufe und Folgen des Zusammenlebens von Menschen“ (Wikipedia) überhaupt wertfrei vorgehen? Sie soll neben den Strukturen auch den Sinn des sozialen Handelns und die die Handlungen regulierenden Werte und Normen erforschen. Methodisch bewegt sich diese Wissenschaft innerhalb der „Dualität der Untersuchungsansätze: hermeneutisch interpretierende einerseits und kausalanalytische Verfahren andererseits, wobei erstere die Teilnehmerperspektive, letztere die Beobachterperspektive einnehmen.“ (ebd.).
Diese Dualität zeigt sich insb. im “Methodenstreit“, bei der zugunsten oder gegen eine sog. „qualitative Sozialforschung“ gestritten wird. Ich erinnerte mich in diesem Gespräch an einen Bericht, den ich in den frühen 90er Jahren las und der mich stark beeindruckt hatte. Es handelt sich um Frigga Haugs „Lafontaine-Projekt“ von 1988. Sie führt hier (ab S. 19) eine besondere qualitative Methode vor, die sie in Anlehnung an Brechts Gedanken vom „eingreifenden Denken“ „eingreifende Sozialforschung“ nennt.
Eingreifende Sozialforschung
Wenn Menschen beforscht werden, ist ihre Besonderheit zu berücksichtigen: Menschen sind lernende und ihr Leben gestaltende Subjekte. Dann können sie nicht „objektiv beforscht“ werden, sondern müssen als Subjekte agieren können. Deshalb muss sich eine empirische Forschung, die die Menschen als Subjekte ernst nimmt, auf die Veränderung der Bedingungen durch Menschen einstellen. Es geht gerade nicht darum, Menschen in einer passiven Rolle, als die vorgegebenen Bedingungen hinnehmend, abzubilden und zu beschreiben, sondern als diejenigen, die alles Vorgegebene in Frage stellen und verändern können. Die Forschenden können nur dann etwas erkennen, wenn sie diese Prozesse mit den „Beforschten“ gemeinsam reflektieren. Diese Methode ist „kritisch“ gegenüber der Akzeptanz des Gegebenen im Leben der Menschen wie auch der die Vorgaben lediglich affirmierenden Forschungsmethode (vgl. Haug 1997).
Oskar Lafontaine hatte 1988 die Perestroika in der UdSSR zum Anlass genommen, auch die gegebenen Strukturen der Arbeitswelt in der Bundesrepublik kritisch ins Visier zu nehmen. Zwar gab es an diesem Text vieles zu bemängeln, aber es eröffnete eine Debatte, insbesondere über das Verhältnis von Erwerbsarbeit und der unbezahlten Arbeit vor allem von Frauen. Frigga Haug reihte sich hier nicht in den Chor der üblichen linken Besserwisserei ein, sondern sie wollte „prüfen, ob nicht auch eine Offensive möglich wäre, Änderungswillen und die Lust zum Eingreifen in der Bevölkerung freigesetzt werden könnten“. Dies geschah in einem Projekt des 54. Jahrgangs an der Hochschule für Wirtschaft und Politik. Das Ziel des Projekts bestand darin, die „Verwerfungen, die die Vorstöße Lafontaines und der Presse in der Bevölkerung ausgelöst hatten in einigen qualitativen Gruppendiskussionen und Einzelinterview[s] exemplarisch zu untersuchen“. Dabei ging es auch darum, „uns selber […] als auch die Gruppe der Befragten in einen politischen Lernschub einzubeziehen“. 4 unterschiedliche Fragestellungen wurden in jeweils unterschiedlichen Menschengruppen diskutiert.
Methodisch kam es vor allem darauf an, dass „Widersprüche in die Methode der Erhebung eingebaut“ wurden.
„In dieser Weise wollten wir erreichen, dass Gehörtes und Gelesenes nicht einfach nachgesprochen, sondern in den Widersprüchen ein eigener Standpunkt herausgearbeitet wurde.“
Zum Thema des Mindesteinkommens wurde z.B. als Vorgabe folgende widersprüchliche Information gegeben: „ein Mindesteinkommen ermögliche ein Leben auf Kosten anderer; zugleich böte es eine größere Unabhängigkeit und also Handlungsfähigkeit insbesondere für Hausfrauen.“ Es ist spannend, wie unterschiedlich in den verschiedenen Gruppen darüber diskutiert wird, wie also Lebenslage und Position die Meinung beeinflussen.
In vielen Beispielen zeigt Frigga Haug, wie sich angesichts der Widersprüche bestimmte Denkweisen „zurechtbiegen“, aber auch, dass in vielen Runden von konkreten Beispielen und Meinungen ausgehend Fragen aufgeworfen wurden, „wie unsere Gesellschaft überhaupt funktioniert“.
„Die von uns angezettelte Diskussion verwickelte die meisten Beteiligten in ein zunehmend politisches Gespräch. Das geht bis zum Vorschlag, die Politikformen selbst zu ändern, bis zur basisdemokratischen Erneuerung.“
Trotzdem wird insbesondere beim Thema „Utopien“ die Erwartung, „dass solche zu Gesellschaftsbildern geronnen Wünsche, wie man leben will, in den Köpfen der Menschen in großer Vielzahl vorhanden wären“, meist enttäuscht.
„Utopisches Denken scheint auch durch langes Nichtgebrauchtwerden zu verschleißen.“
Das gilt für Autonome beinah ebenso gut wie für Gewerkschaftsfunktionäre, wenn auch jeweils mit anderen Begründungsmustern des Verharrens. So gilt bei den Arbeitslosen:
„Da soll Volksherrschaft sein, das Volk bestimmen und alles von unten nach oben umkrempeln. Aber alle Formen bleiben ihnen gleich: es gibt Arbeitslose, aber die Behörden handeln nach deren Bedürfnissen; es gibt Chefs, Vorgesetzte, auch sie handeln im Interesse der Untergebenen.“
Wer gedacht hätte, die Autonomen hätten weitergehende Vorstellungen, wird jäh enttäuscht: „Eine riesengroße Mauer soll um St. Pauli gezogen werden, alle Häuser besetzt, und dann sagen, leck mich am Arsch.“
Lediglich, und dies lässt aufmerken, die Normalerwerbstätigen entwickeln umfassende gesellschaftliche Utopien: „zunächst muss der überflüssige Konsum weg; das geschieht durch Produzentendemokratie und –entscheidung… Da sich in solcher Demokratie die Bedürfnisse vom Kaufen weg ins Kreative, Lernen, Weiterentwickeln verlagern, braucht jeder nur noch 15 Stunden verantwortlich für alle anderen zu arbeiten. Die wechselseitige Abhängigkeit basiert auf wechselseitigem Vertrauen… man kann heute Dolmetscher, morgen Altenpfleger sein“.
„Es ist offensichtlich der Standpunkt der Arbeit, von dem aus hier utopische Kraft entfaltet wird.“
Angesichts des Bedeutungsverlusts solcher Arbeit lässt sich heutzutage Schlimmes befürchten…
Ich bin offensichtlich nicht die Einzigste, der dieser alte Artikel gerade wieder einfällt. Nicht umsonst wird derzeit auf LINKEn Webseiten darauf verwiesen, wie aktuell die Studie von Frigga Haug auch heute noch ist. Ich würde mir sehr wünschen, dass das LINKE Selbstverständnis in Zukunft weniger von der üblichen Interessenstellvertretung getragen wird, das in den Menschen vorwiegend passive Opfer sieht, die lediglich in Wahlzeiten für das „richtige“ Kreuzchen aktiviert werden müssten. Es sollte gerade nicht um Belehrung und Aufklärung gehen, sondern die Menschen müssen ernst genommen werden als Gestalter ihres eigenen Lebens, als selbstständig Denkende, als bewusste Partner in gegenseitig ergreifenden politischen Praxen. Von der Rosa-Luxemburg-Stiftung würde ich mir weniger Kampagnen für die Konzepte ihrer Vordenker_innen wünschen, als Dutzende oder gar Hunderte derartiger Gespräche, wie sie Frigga Haug schildert. Sie selbst setzte einst die Hoffnung noch auf die Sozialdemokratie, von denen sie sich wünschte, „das Land mit Diskussionszirkeln [zu]überziehen“.
Für meinen soziologie-studierenden Freund zitiere ich hier noch die Abschlusspassage von Frigga Haug:
„Die »eingreifende Sozialforschung« zeigte in unserem Beispiel eine andere Möglichkeit politischen Handelns für die Intellektuellen. Der lange Streit, inwiefern und ob Aufklärung eine mögliche Aufgabe für sie wäre und wie mit den alltäglichen Ideologien in den Köpfen der Menschen umzugehen sei, erfährt eine Wendung. Tatsächlich fehlt in der Bevölkerung eine Menge Wissen — Zahlen, Fakten über die Taten von Kapital und Staat und die Lage in der Bundesrepublik und der Welt — welches zur politischen Handlungsfähigkeit unerlässlich ist. Hier fiele Aufklärung, verstanden als solche Bereitstellung von Wissen, auf fruchtbaren Boden. Dagegen war die Bestimmung der Meinungen durch die realen Verhältnisse, in denen die einzelnen leben, größer als ihre Befangenheit durch verbreitete »Ideologien«. Sobald es den diskutierenden Gruppen gelang, sich selbst vom Standpunkt von Untertanen in den von Gesellschaftsveränderern zu begeben, änderten sich häufig auch ihre Urteile. In dieser Weise erhält Marxens Satz, dass die Selbstveränderung und das Verändern der Umstände zusammengehören, eine neue Aktualität.“
Dass die heutigen Universitäten sich solchen kritischen Absichten kaum noch verschrieben haben, sondern sich bereitwillig ihrem Auftrag zur Vermittlung von Herrschaftswissen unterwerfen, wird sich auch an den von ihnen bevorzugten Methoden zeigen. Umso wichtiger ist es, die dagegen widerständige Theorie und Praxis aufrecht zu erhalten und weiter zu befördern.
Literatur:
Haug, Frigga (1989): Das Lafontaine-Projekt. Perestrojka auf sozialdemokratisch? Das Argument 174, 31. Jg. 1989, H.2, S. 175-208).
Haug, Frigga (1997): eingreifende Sozialforschung. InkriTpedia.
Morgen geht es weiter mit dem „Kritisch-psychologischen Begründungsdiskurs“
November 21, 2011 at 12:14 pm
[…] vorigen Beitrag über eingreifende Sozialforschung wurde bereits davon ausgegangen, dass Studien über menschliches Verhalten unbedingt die […]
Dezember 5, 2011 at 3:50 pm
[…] („wertfreie“ Soziologie, Psychologie als „Kontrollwissenschaft“) versus Subjektstandpunkt (Eingreifende Sozialforschung, Kritische Psychologie). Beziehung Individuum-Gesellschaft verändert sich historisch: während […]
Januar 1, 2012 at 5:57 pm
Ich danke für den Hinweis vom 28. Dez. 2011 auf diese Auseinandersetzung mit dem „Begründungsdiskurs“ und greife zunächst eine relevante Aussage heraus. Hier steht:
„Zum Thema des Mindesteinkommens wurde z.B. als Vorgabe folgende widersprüchliche Information gegeben: „ein Mindesteinkommen ermögliche ein Leben auf Kosten anderer; zugleich böte es eine größere Unabhängigkeit und also Handlungsfähigkeit insbesondere für Hausfrauen.““
In einer Gesellschaft, die wie jede menschliche Gesellschaft notwendig auf der Kooperation ihrer ihrer Mitglieder beruht, lebt jeder Mensch „ein Leben auf Kosten anderer“, jedenfalls aber durch das Zusammenwirken aller Mitglieder der Gesellschaft. Daraus folgt z. B.: Jede Art (unterschiedliches) „Einkommen“ beruht auf der Illusion, man könnte die grundsätzlich gesamtgesellschaftlich „geleistete“ (?) Arbeit „aufteilen“, oder gar äquivalent nach der „Arbeitsleistung“ oder „gerecht“ „verteilen“.
Eine Lösung dieses alten Problems habe ich unter anderem in einem Vortrag versucht, der über die folgende Url auf meiner Internetseite zugänglich ist: http://www.osnanet.de/alfred.flacke/Eigentum-und-Ich.html