Der wichtige Unterschied zwischen genauer Festlegung und Richtungsangabe wird häufig außer Acht gelassen, wenn Hegels Geschichts- bzw. Gesellschaftsphilosophie diskutiert wird. Dieser Unterschied steckt auch in dem viel diskutierten Zitat
„Was vernünftig ist, das ist wirklich; An anderer Stelle schreibt Hegel selbst: „[…] wer wäre nicht so klug, um in seiner Umgebung vieles zu sehen, was in der Tat nicht so ist, wie es sein soll?“ (HW 8: 49). Und in der Vorlesung von 1821/22 sagt er noch deutlicher: „Man muß das Unausgebildete und das Überreife nur nicht wirklich nennen.“ (PR 1821/22: 37). |
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Um solche diffizilen Probleme sprachlich präzise zu erfassen, hat Hegel sich viel Mühe bei seinen Begriffsbestimmungen gegeben, die uns so viel Beschwerlichkeit bringen und die es verbieten, einfach irgendwelche Assoziationen hineinzuinterpretieren. Hegel unterscheidet ganz genau zwischen „Existenz“ (=das Erscheinende, unter dem Aspekt betrachtet, dass es aus einem Grund hervorgegangen, d.h. bedingt ist) und „Wirklichkeit“ (=konkrete wesentliche Existenz, die das Mögliche in sich enthält). Daraus ergibt sich für das obige Zitat, dass dasjenige, das dem Trend zur Verwirklichung des Bewusstseins der Freiheit nicht folgt, „nur faule Existenz“ (HW 12: 53) ist und keine Wirklichkeit. Das heißt also, etwas kann auch nur existieren, das heißt durch irgendwelche Bedingungen entstanden sein – aber wenn es keine Möglichkeit zur Vervollkommnung des Ganzen in sich trägt, ist es nicht wirklich. Es kommt aber darauf an, unterscheiden zu lernen zwischen dem Existierenden und dem Wirklichen und dann das Wirkliche als Wirkliches zu begreifen, d.h. es vernünftig zu betrachten.
Es sind inzwischen auch mehrere Mitschriften von Hegels Vorlesungen bekannt, bei denen er den oben genannten Satz öfter variiert und ergänzt. Zum ersten Mal taucht der Satz wohl in einer Vorlesungsmitschrift von 1817/1818 auf. Hier wird formuliert:
„Was vernünftig ist, muss geschehen.“ (VL 17/18: 192)
In der Vorrede zur Vorlesung im Wintersemester 1818/19 erwartete Hegel: „Es ist mit weiteren Verwirklichungsprozessen des an sich schon realisierten vernünftigen Begriff des Rechts zu rechnen.“ Hier haben wir es noch recht offen mit einer auf die Zukunft bezogenen Aussage zu tun.
In der nächsten Formulierung „Was vernünftig ist, wird wirklich und das Wirkliche wird vernünftig“ aus der Vorlesung von 1819/20 (PR 1819/20) könnte das Wort „wird“ historisch, aber auch rein entwicklungslogisch zu verstehen sein. Im veröffentlichten Text der Grundlinien der Philosophie des Rechts von 1820 verschwindet sogar noch dieses entwicklungsbezogene Verbund macht dem feststellenden „ist“ Platz: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (HW 7: 2)4. Dass das „ist“ nicht mehr prozessual zu verstehen ist, verdeutlichte Hegel noch einmal konsequent:
„Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat.“ (ebd.: 27f.)
Fast gleichlautend wurde in seiner Vorlesung von 1821/22 mitgeschrieben: „Das Vernünftige ist wirklich, und das Wirkliche ist vernünftig“ (PR 21/22: 37). Hier machte Hegel aber eine wichtige Ergänzung: „Man muß das Unausgebildete und das Überreife nur nicht wirklich nennen“ (ebd.). Die verweist wiederum auf den Entwicklungskontext, diesmal sogar recht eindeutig im historischen Sinn. In einem späteren Paragraphen sagte er ausdrücklich: „Das Vernünftige soll gelten“ (ebd.: 234) und „das weitere ist der Zeit zu überlassen“ (ebd.: 235).
Hegel nahm selbst Bezug auf die „Anfeindungen“, die der Satz gefunden hat. Als Antwort darauf formulierte er noch einmal explizit die Bedeutung der „Wirklichkeit“, die wir oben erläutert hatten:
„Was aber den philosophischen Sinn betrifft, so ist so viel Bildung vorauszusetzen, daß man wisse, nicht nur daß Gott wirklich, – daß er das Wirklichste, daß er allein wahrhaft wirklich ist, sondern auch, in Ansehung des Formellen, daß überhaupt das Dasein zum Teil Erscheinung und nur zum Teil Wirklichkeit ist. Im gemeinen Leben nennt man etwa jeden Einfall, den Irrtum, das Böse und was auf diese Seite gehört, sowie jede noch so verkümmerte und vergängliche Existenz zufälligerweise eine Wirklichkeit. Aber auch schon einem gewöhnlichen Gefühl wird eine zufällige Existenz nicht den emphatischen Namen eines Wirklichen verdienen; – das Zufällige ist eine Existenz, die keinen größeren Wert als den eines Möglichen hat, die so gut nicht sein kann, als sie ist.“ (HW 8: 47f., fett von A.S.)
Auch für das Recht bedeutet das, dass nicht alles Existierende diese Vernunft zeigen muss. Es gibt durchaus Zustände, die sich aus eher historischen Ursachen heraus begründen lassen, die aber nicht entlang der Linie der Entwicklung zu immer mehr Vernunft liegen müssen:
„…eine Rechtsbestimmung kann sich aus den Umständen und vorhandenen Rechtsinstitutionen als vollkommen gegründet und konsequent zeigen lassen und doch an und für sich unrechtlich und unvernünftig sein…“ (HW 7: 37; vgl. auch HW 10: 324)
Aus einem Bericht von Heinrich Heine ist bekannt, dass Hegel nicht grundsätzlich von der zuerst genannten Formulierung, wonach der Satz eher als Aufforderung zum Handeln verstanden werden kann, abgegangen ist.
„Als ich einst unmutig war über das Wort: „Alles, was ist, ist vernünftig“, lächelte er sonderbar und bemerkte: „Es könnte auch heißen: „Alles, was vernünftig ist, muß sein““. (Heine: 208)
- Weiter mit „Prozess- und Strukturordnung begreifen„
- Literatur
November 25, 2019 at 9:25 am
Nee, Nee, Madame! Es geht um “das“, was vernünftig ist. Also um diejenige, was vernünftig ist. Vernünftig ist ein intelligibler Platzhalter, beispielsweise für Kepplers Gesetze. Und das Wirkliche, die Wirklichkeit, sie ist auch ein gedanklicher Platzhalter für etwas, nämlich hier, dass Keppler nicht nur vernünftig gedacht hat, sondern dass die Wirklichkeit ihm seine Gesetze bestätigt hat. Hegel hat Begriffe aus seiner “Logik“ für den Gedankenanstoß aufeinander bezogen. Wer Algebra gelernt, aber nicht wirklich verstanden hat, bleibt im sinnlichen Denken stecken, muss nachlernen. Das sind nicht wenige, die Klimmzugprobleme haben.
Dezember 4, 2019 at 5:54 pm
[…] vernünftig.“ aus der Rechtsphilosophie bedeutet (dazu gibt es im Übrigen hier einen gelungenen Blogbeitrag von Annette Schlemm), denn Hegel gebraucht die Begriffe Wirklichkeit und Vernunft nicht gemäß dem […]
März 11, 2020 at 8:40 am
Erinnerungsweise Kant: „Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis.“ Hegel positioniert rechtsphilosophisch seinen viel gescholtenen Hammersatz, gleichsam den neuen Imperativ:
„Was vernünftig ist, das ist wirklich;
und was wirklich ist, das ist vernünftig.“
Jaja, es kommt auf Präzision und Exaktheit an, um nicht Verständnislücken zu lassen. Also das Ganze der Erläuterung noch einmal. Es geht um zwei Begriffe, die wechselseitig aufeinander bezogen worden sind, eben hier um ‚vernünftig‘ und ‚wirklich‘.
Zunächst für dasjenige, was alles gedacht werden kann und als vernünftig behauptet werden kann. ‚Vernünftig‘ ist vorerst nur ein Platzhalter auf diesen Anspruch, es mit einem Vernünftigen zu tun zu haben. Die sich Utopien ausdenken, sind der Überzeugung, dass diese vernünftig seien. Die Frage ist jedoch, ob sie es auch wirklich sind.
In der Logik des Denkens gibt es eine Prüfinstanz, ob das Vernünftige auch vernünftig ist, nämlich zum bloßen ‚Gedankenfeld‘ den zugehörigen Komplementärbegriff auch vom ‚Anwendungsfeld‘ her wirklich zu prüfen..
Diese Prüfinstanz ist darauf aus, ob die Behauptung, was da vernünftig sein soll, auch wirklich bestätigt wird und der Beweis der Wirklichkeit dafür erbracht werden kann. Anders ausgedrückt: Theorie hat das Tauglichkeitskriterium durch und für die Praxis. Auch für das Wirkliche besteht in der Umkehrung die Prüfsituation, ob das als Wirkliches Behauptete (der Praktiken) wirklich wahr ist und sich bestätigt. Es muss nicht die Vernunft das „Zuerst Denken, dann Handeln“ an den Anfang stellen. Es gibt auch jene, die sogleich probieren und durch Versuch und Irrtum auf Lösungen aus sind und zu einem vernünftigen Gedankenkristall zu kommen hoffen. Ist der Gedanke für gesetzmäßige Wiederholbarkeit gefunden, ist dieses Wirkliche vernünftig. Insofern: Vernunft und Wirkliches bedingen einander, getrennt voneinander sind sie unwirkliche bzw. unvernünftige Größen oder als solche noch zu entdecken.
Hegel hatte wohl Keppler vor Augen. Die Anstrengungen der intelligiblen Vernunft in seiner Studierstube vorab, Konstruktion und Berechnung der planetarischen Umlaufbahn, alsdann das Arrangement für die tatsächliche Beobachtung des Himmels, die Ermittlung des Starttermins und der zu lokalisierenden Himmelsstelle wie auch des berechneten Endtermins für den ganzen Durchlauf auf der Planetenbahn bis hin zum Wiedereintreffen am Ausgangspunkt. Das Bestätigte und Bewährte findet sich als Vernünftiges und Wirkliches in kurzschriftlichen Formeln für den Gebrauch wieder.
Was die ‚Wissenschaft der Logik‘ angeht, ist es Hegel darum zu tun, der Mathematik vergleichbar ein begriffliches Instrumentarium auf der sprachlichen Ebene für das Denken überhaupt zu erschließen. Und das muttersprachlich zugänglich: deutsch. Das bedeutet in der Konsequenz, dass eine Einmischung sinnlicher Vorstellungsweisen leicht Gefahr läuft, das Relationale, Funktionale und Konstellative zu unterlaufen und die gegenseitige Erschließung des Vernünftigen und Wirklichen zu verfehlen und sich abwegig zu verlieren, an Vorstellungen haften zu bleiben.
Grundschüler brauchen in Mathematik noch Vorstellungshilfen, führen Rechenoperationen mit Äpfeln, Birnen, anderen Früchten, Dingen und Gegenständen durch, arbeiten vielleicht als Erstklässler mit einem Abakus. In höheren Klassen steht Algebra, ein Rechnen mit Buchstaben an, spielt das Diagramm X und Y und Kurvenberechnung ein. Und so wie Hegel Vernünftiges und Wirkliches fürs Begreifen aufeinander bezieht, geschieht das auch mit X und Y, ob in Gleichungen oder Diagrammen, rein abstrakt und formell als Gedankenexerzitium, inhaltlich und konkret mit Blick auf viele Anwendungsfelder in der Praxis.
Summa Summarum: Viel Aufwand für einen einfachen Sachverhalt der Logik und wiederum ahnungsweise im Überflug ein Unbehagen, ob das Gedankliche, die andere Denkebene, von Gedanken erfasst, gehalten und geführt zu werden, explikativ am Beispiel nachvollziehbar geworden ist.