Wie üblich scheue ich auch vor alten, teilweise wohl auch veralteten Büchern nicht zurück, wenn ich nach Informationen, Analysen oder Antwortversuchen auf altbekannte Probleme suche. Häufig ist vieles schon längst voraus gedacht und es wäre eine maßlose Verschwendung, nicht auf die Leistung unserer Vordenker_innen zurück zu greifen, nur weil manches vielleicht nach mehreren Jahrzehnten verstaubt anmutet oder Aussagen ins Auge springen, die veraltet sind. Im Zusammenhang mit der Frage nach einer kritisch-politökonomischen Analyse der ökologischen und Klimaproblematik erinnerte ich mich nun auch an das Buch „Mensch-Gesellschaftsformation-Biosphäre“ von Karl Hermann Tjaden, das gerade während der „Wende-“ Ereignisse in der DDR fertig wurde. Mit einem Verweis auf dieses Buch bzw. diesen Autoren in einem Blogbeitrag handelte ich mir auch prompt einen Kommentar ein, bei dem auf Kritiken von Tjaden verwiesen wurde.
Also versuche ich mal, auseinanderzuklamüsern, was ich dem Buch dennoch Nützliches entnehmen kann. Das wird aber weder lediglich eine Referierung des Inhalts bei Tjaden, noch eine bewertende Rezension, sondern ich benutze das Gegebene als Vorlage fürs Weiterdenken.
Was war eigentlich die Frage?
Manchmal kann man mit einem Text nicht viel anfangen, weil er Themen behandelt, die einen grad nicht interessieren oder weil er Antworten auf Fragen zu geben versucht, die man selber gar nicht hat. Wahrscheinlich ist dies ein Hauptgrund für Ablehnungen und auch Missverständnisse. Warum hab ich mir nun ausgerechnet den Tjaden auf den Tisch gelegt (sogar noch ein zweites Mal antiquarisch besorgt, weil mein erstes Exemplar aus den 90er Jahren grad nicht auffindbar ist)?
Ich suche nach Theorien bzw. Begriffen, die auf der Höhe der marxschen Kritik der politischen Ökonomie des Kapitalismus die ökologische Krise bzw. die Problematik des Klimawandels begreifen helfen und damit auch deren Negation denkbar machen. Ich würde ungern das Ökologieproblem ohne marxistische Gesellschaftsanalyse behandeln wollen und es bringt auch sicher wenig, dieses irgendwie als äußeres Anhängsel hinzuzufügen.
Auch Arbeiten wie die von Barry Commoner (siehe dazu hier) sind eher phänomenologische Beschreibungen als ausreichend tiefgründige Analysen. Es ist zu fragen, was die Kategorien der marxschen Theorie (jeweils auch in ihren Weiterentwicklungen) für die ökologische Frage bereits hergeben bzw. in welcher weiter entwickelten Form sie das ermöglichen.
Ein Ausgangspunkt für die aktuelle Beschäftigung mit der Thematik war ein Beitrag in einer Theoriezeitschrift, den ich als unzureichend empfand und dessen berichtigende Erweiterung mir zwar vorschwebte, die ich aber nicht auf Anhieb parat habe. Deshalb erinnerte ich mich an Tjaden.
Weiter gehts in den nächsten Tagen mit folgenden Unterpunkten:
- Zum Verhältnis zwischen Menschen und Natur / Arbeit
- Die Potentiale des Möglichen und die wirklichen Kräfte
- Dynamik der menschlichen Geschichte
- Verschiedene Effektivitätsformen in unterschiedlichen Gesellschaftsformen
- Verschiebungen in der Nutzung der Potentiale – insbesondere der Energie
- Die Reproduktionskrise weist über den Kapitalismus hinaus
- Sozialismus, oder was sonst nach dem Kapitalismus kommt…
- Literatur
Februar 14, 2012 at 6:49 pm
„Mit einem Verweis auf dieses Buch bzw. diesen Autoren in einem Blogbeitrag handelte ich mir auch prompt einen Kommentar ein, bei dem auf Kritiken von Tjaden verwiesen wurde“.
Ohweh, das klingt ja beinahe wie „Ohrfeige eingehandelt“. Ich möchte nicht missverstanden werden. Ich denke, dass es außerordentlich fruchtbar ist, sich mit dem ehrenwerten K.H.Tjaden auseinanderzusetzen und bin dankbar für den Anlass zum Antrieb, dies zu tun.
„Hauptwiderspruch Menschliche Bedürfnisse versus natürliche Lebensbedingungen“ sehe ich allerdings tatsächlich kritisch. Obwohl immerhin nicht „die Erfüllung der Bedürfnisse“ als Vorteil einer nachkapitalistischen Himmelreichs vorgestellt ist.
Februar 15, 2012 at 1:53 pm
Keine Ohrfeige 😉 Aber irgendwie hatte ich schon den Eindruck, dass Tjaden damit „abgebügelt“ werden sollte. Ich werde in den folgenden Texten zum Thema öfter auch meine Kritikpunkte an Tjaden mit erwähnen, aber es gibt genügend Gedanken, an die ich erst mal das Interessante aufgreife.
Februar 15, 2012 at 1:40 pm
„“Hauptwiderspruch Menschliche Bedürfnisse versus natürliche Lebensbedingungen” sehe ich allerdings tatsächlich kritisch.““ (Dazu steht was auf S. 28 bei Tjaden und in meinem nächsten Beitrag wird das auch erwähnt.)
1. Welcher Widerspruch war es dann, der bei den Vor/Frühmenschen zu Aktivitäten wie der Arbeit führte? Wenn die Bedürfnisse in den vorliegenden natürlichen Bedingungen zu befriedigen gewesen wären, hatten sie wohl nicht zu arbeiten begonnen…
2. Warum soll in einer nachkapitalistischen Gesellschaft nicht das Ziel der „Erfüllung von Bedürfnissen“ stehen? Denkst Du bei „Bedürfnissen“ automatisch nur an die im Kapitalismus geweckten „Bedarfe“ (zahlungskräftige Nachfrage), oder kannst Du Dir nicht auch vorstellen, dass die Reproduktion der natürlichen und menschlichen Potentiale, die der Kapitalismus eben nicht realisiert, auch zu den Bedürfnissen gehört, die wir endlich befriedigen wollen?
Februar 15, 2012 at 5:55 pm
„1. Welcher Widerspruch war es dann, der bei den Vor/Frühmenschen zu Aktivitäten wie der Arbeit führte? Wenn die Bedürfnisse in den vorliegenden natürlichen Bedingungen zu befriedigen gewesen wären, hatten sie wohl nicht zu arbeiten begonnen…“
Ich meine, dass das nicht einfach „menschliche Bedürfnisse“ und „natürliche Bedingungen“ gegenber stehen. Die sind ja immer ineinander verwoben.
Die Natur in Gestalt der unter bestimmten Umständen (wohl themperierte Atmosphäre mit ner günstigen Mischung Sauerstoff, Sticksoff usw., ein Stern in der Nähe, Wasser, das nicht allzu sauer oder salzig ist, Böden mit Nährstoffen usw.) in bestimmter Weise miteinander interagierenden Pflanzen und Tiere, die man getrost auch natürliche Produktionsverhältnisse (oder im Hinblick auf die geschichtliche Bewegung natürliche Entwicklungsbeziehungen) nennen kann, verschafft den verschiedenen Lebewesen bzw. Arten sehr spezifische Produktivkräfte in Gestalt wiederum bestimmter Produktions- und Aneignungsvermögen bzw. Fähigkeiten, sich dem Gefressen- oder Verdrängtwerden zu entziehen, sich gegenber der Fortpflanzungskonkurrenz zu behaupten usw..
Die jeweilgen Fertigkeiten bedürfen wiederum bestimmter Reproduktionsbedingungen.
Überlebensbedürfnisse und -fähigkeiten bedingen sich also.
Und natürlich verschaffte dieses Naturgewusel auch den Mensch werdenden Affen spezifische Fähigkeiten. Auch deren Reproduktion bzw. Weiterentwicklung bedarf bestimmte Reproduktions- bzw. Entwicklungsbedingungen, und auch hier entwickeln sich Bedürfnisse und Fähigkeiten (Produktivkräfte) miteinander im Wechselspiel.
Die Emanziation der Vorderfüße verschaffte den Mensch werdenden Affen Handlungsfreiheit, Mutationen der Augen die Fähigkeit drei Farben zu unterscheiden, was die Möglichkeit der Erkenntnis guter (roter, gelber usw.) Früchte (im grünen Blättereinerlei) steigerte. Was die Natur wiederum anspornte, das Bedürfniss und die Fähigkeit der werdenden Menschen, sich gute Futterplätze zu merken, zu entwickeln, und zwar wiederum im Wechselspiel von Bedürfnissen und Fähigkeiten. Was im Übrigen auch als Entwicklung der spezifisch menschliche Natur in Richtung Kultürlichkeit gesehen werden die zur Basis kommender Vergesellschaftungsweisen werden könnte.
Die Erfolgsgeschichte des Mensch werdenden Affen ist in der Tat, sich von der Sorge um die natürlichen Reproduktonsbedingungen zu entledigen, die mit wachsender Arbeitsteilung zunehmend aus dem Blick gerieten. Was natürlich Teil des Problems der gegenwärtigen Vergesellschaftungsweise ist. Wir brauchen bekanntlich neue Produktionsverhältnisse, die uns in die Lage versetzen, die überhand nehmenden Produktivkräfte (die immer auch Destruktivkräfte sind) und die mit dem wachsenden Aneignungsvermögen steigenden Aneignungsbedürfnisse ins benehmen mit den Reproduktionsbedingungen der anderen Lebewesen, künftiger Generationen Menschen usw. zu setzen – und sich damit gegenseitig zur Vernunft – zu bringen.
November 16, 2020 at 1:51 pm
„Ich meine, dass das nicht einfach „menschliche Bedürfnisse“ und „natürliche Bedingungen“ gegenber stehen. Die sind ja immer ineinander verwoben. “
Tjaden bezeichnete dies als Widerspruch. Und wer weiß, was Widersprüche in einer auf Hegel basierende dialektischen Betrachtung sind, weiß auch, dass damit gerade nicht nur der Gegensatz zwischen Getrenntem gemeint ist, sondern die Einheit des Gegensatzes UND ihrer Einheit, ihres „ineinander-Verwoben-Seins“.
Februar 15, 2012 at 4:29 pm
„2. Warum soll in einer nachkapitalistischen Gesellschaft nicht das Ziel der “Erfüllung von Bedürfnissen” stehen?“
Das wäre ja noch unbestimmter, als das – offenbar als ein über allem schwebender heiliger Geist vorgestellte – Fantasiegeschöpf „die Bedürfnisse“.
Irgendwelche Bedürfnisse werden immer, das heißt unter allen Umständen erfüllt oder halt nicht erfüllt. (Öko-)Kommunistisch gestellt wären die entscheidenden Fragen aber: in einer welchen Weise entwickeln sich unter welchen Umständen im Hinblick auf welche oder auch wessen sozialen Qualitäten, Ziele usw. welche Bedürfnisse, und was würde es unter welchen Umständen wen kosten, sie zu erfülllen.
Februar 15, 2012 at 4:42 pm
Ich bin ja nun nicht dagegen, dass Menschen sich auch gegenüber ihren Bedürfnissen bewusst verhalten können und sollen (das haben sie schon immer, und dass das Nachdenken und Entscheidungen innerhalb von Zielkonflikten bei verschiedenen Bedürfnissen auch in angemessener Weise erfolgen muss, statt über „zahlungskräftige Nachfrage“ organisiert zu werden, ist auch klar).
Trotzdem erscheint es mir vernünftig, z.B. bei der Geschichte darauf zu schauen, wie der Fortgang auch dadurch bestimmt wurde, dass bestimmte, historisch entstandene Bedürfnisse jeweils durch die bestimmten, gegebenen bzw. bis dahin entwickelten Bedingungen nicht (mehr) befriedigt werden konnten und deswegen neue Produktions- und Lebensweisen entstanden. Tjaden diskutiert und untersucht das mehrfach z.B. in Bezug auf den Übergang von der Urgesellschaft zur frühen Klassengesellschaft in Südmesopotamien (entsprechende Literatur zitiert er z.B. in: Tjaden, Karl Hermann: Gesellschaftliche Produktivkraft und ökonomische Gesellschaftsformation. Thesen zur Genese und Perspektive kapitalistischer Mensch-Natur-Beziehungen. In: DIALEKTIK. Beiträge zu Philosophie und Wissenschaften 9. Ökologie – Naturaneignung und Naturtheorie. Köln: Pahl-Rugenstein 1984. S. 60-72.)
Es geht da nicht um „irgendwelche Bedürfnisse“, auch um keine „Phantasiegeschöpfe“, sondern jeweils historisch ganz konkrete – genau wie in der Gegenwart und der Zukunft.
Februar 15, 2012 at 6:01 pm
„Gesellschaftliche Produktivkraft und ökonomische Gesellschaftsformation. Thesen zur Genese und Perspektive kapitalistischer Mensch-Natur-Beziehungen.“
Ok, dann werde ich mein Hintern gleich morgen mal in die Bibliothek bewegen.
März 1, 2012 at 12:29 pm
[…] gesellschaftlichen Verhältnissen genutzten produktiven Kräften zu unterscheiden, siehe die Beiträge zum Buch „Mensch-Gesellschaftsformation-Biosphäre“ von Karl Hermann Tjaden. […]
Mai 5, 2012 at 2:34 pm
Ein Text über einen „dialektischen Begriff von Arbeit“ verweist auf diesen Beitrag und so kommentiere ich das mal hier:
Ich meine, dass ein Gutteil Zwecksetzung von Arbeit (gerade) auch in nachkapitalistischen Zeiten von „den gesellschaftlichen Verhältnissen vorgegeben“ sein wird, nur dass „die Verhältnisse“ den sich dann weltkommunistisch zueinander verhaltenden, (füreinander arbeitenden) Menschen nicht als eine ihnen fremde Naturgewalt gegenübertritt, sondern Ergebnis miteinander abgesprochener Setzungen von Zielen, Methoden usw. ist. Kommunistische Transformation des Kapitalismus heißt, dass die Erfüllung der Bedürfnse anderer auf einer (mteinander) bestimmten Weise und in einem (miteinander) bestimmten Umfang die eigenen werden.
Ohne diese Realabstraktion von der konkreten Arbeit (mittels z.B. der Konkurrenz ums billigste Angebot) hätten sich die Produktivkräfte nicht in einem so ungeheurem Ausmaß entwickeln können – auch die, die uns nun hoffentlich bald mal in die Lage versetzen, unser weltweites Füreinander (Wirtschaften) auf Basis eines – am Ende weltgemeinschaftlichen – Nachhaltigkeitsmanagement zu regeln.
Gruß hh
Dezember 31, 2012 at 12:10 am
[…] geschafft, wenigstens eine Zwischenbilanz dazu zu schreiben. Nur begonnen habe ich auch das Thema „Mensch-Gesellschaftsformation-Biosphäre“. Leider viel zu wenig konnte ich meine philosophischen Studien weiter verfolgen. „Den Verstand […]