Ich bin gerade für eine Woche in Wien. Wahrscheinlich werde ich meine Berichte darüber erst nach der Reise online stellen – insofern bin ich noch altmodisch: Ich will erst offline voll leben und erleben, die Onlinewelt ist sekundär. Aber eine ruhige Morgenstunde bietet sich an, die ersten Impulse weiterzugeben.
Franz Nahrada, einem unermüdlicher Netzwerker, den ich schon einige Jahre kenne, war es wieder einmal gelungen, zum Teil recht spontan ein Treffen von Menschen zu ermöglichen, die sich gegenseitig sehr interessant und anregend empfanden. Das Treffen fand im Karolinenhof statt, einem gemütlichen Hotel „auf der anderen Seite“, ganz in der Nähe zur Donau….
Hier traf sich keine verschworene Gemeinschaft der Immerselben, sondern eine spannende Mischung. Während des Nachmittags am Pfingstdienstag gab es Gelegenheit mit und nach einigen Inputs die Spannweite zwischen Kritik, Vision und Projekten in Richtung auf eine lebenswerte und lebensfähige Welt auszuloten. Dabei ging es auch darum, den häufig erlebten Zustand, dass zwar alle irgendwie dasselbe wollen, aber mit verschiedenen Sprachen reden, etwas zu beheben.
Ich werde mich hüten, meine gesamten Mitschriften hier darzulegen – ich käme einige Zeit zu nichts anderem. Aber einiges möchte ich doch gern als Anregung und Impuls für andere weiter geben.
Der erste Programmpunkt war ein Paradebeispiel dafür, dass Menschen in dieselbe Richtung streben, aber unterschiedlich darüber sprechen. In diesem Fall wurde auch deutlich, dass es keinesfalls darum gehen sollte, diese Unterschiedlichkeit einzuebnen. Es ging um zwei Buchautoren. Wolfgang Hoeschele stellte sein Buch„The Ecnomic of Abundance“ (leider gibt es das noch nicht auf deutsch, der Titel bedeutet: “Die Ökonomie der Fülle“ vor. Er kritisiert die vorherrschende Wirtschaftswissenschaft wegen der Voraussetzungen, die auf der Konstitution von Knappheit beruhen. Es ist nicht wirklich so, dass die gewirtschaftet wird, um tatsächlicher Knappheit abzuhelfen, sondern mittels „knappheitserzeugender Institutionen“ wird Knappheit erzeugt, um die profitorientierte Wirtschaft aufrecht zu erhalten.
Während die herrschende Wirtschaftswelt und ihre Wissenschaft davon ausgehen, dass der Mensch quasi ein „konsumierendes Wesen“, also eigentlich ein Süchtiger ist, sieht Hoeschele die Alternative in der Gestaltung des Lebens als Lebenskunst. Dabei verwies er darauf, dass ein, genauer:mein Kunstwerk anderen etwas über mich mitteilen will und dass es darum geht, dass wir einander gegenseitig und uns miteinander zur Blüte treiben. Das erinnert doch stark an den Begriff der Selbstentfaltung.
Er stellt dann die Frage: Welche Art von Institutionen können dem Einzelnen helfen bzw. auch ihn dazu befähigen, das Leben als Lebenskunst zu leben?
Das zweite vorgestellte Buch von Alexander Boltesée gab eine Antwort darauf: Es beschreibt in klassischer utopischer Literaturform die Reise eines Journalisten durch Jamilanda dem Ort in dem sich die „Laboratorien der alternativen Möglichkeiten“ befinden, wo technische und soziale Innovationen zugunsten menschlicher Bedürfnisse in Allianz mit der Natur ineinander verflochten sind. Alexander stellte ein Puzzle an möglichen Praxen und Gedanken vor, deren Teile alle schon vorhanden sind und die als Quelle der Inspiration wirken sollen. Auch hier gibt es die Idee, diese Wissensressource online zur Verfügung zu stellen, zu nutzen und weiter wachsen zu lassen.
Im Verlauf des Treffens wurde die Idee geboten, aus diesem Buch mehr zu machen als die vorhandenen Seiten zwischen den Buchdeckeln. Wahrscheinlich werden die wichtigsten Inhalte (auch auf deutsch) in einem Wiki vorgestellt, in dem dann gleich weiter daran gearbeitet werden kann: Ergänzungen, Querbeziehungen zu anderem, Fortschreibungen…
Menschen, die ihre Energien nicht absaugen lassen durch den Kampf gegen das System, sollen einfach praktische Projekte der Alternativen beginnen können und sie brauchen ihr Tun nicht durch neue Ideologien absichern, sondern das eigene Tun zeigt ihre Vision.
Für das, was im Keimform-Kontext gern das „Auskooperieren“ des Systems genannt wird, fand Wolfgang ein interessantes Bild: Der Koloss „System“, der Kapitalismus braucht feste Erde unter sich –dies sind wir, die wir das System tragen. Wenn wir dagegen neue Netzwerke bilden, die sich als „weicher Boden“ ausbreiten, so versackt der Koloss darin und kann sich nicht mehr halten.
Jetzt werde ich für den heutigen Bericht erst mal Schluss machen und schauen, was ich vom Weiteren noch schaffe, aufzuschreiben für die nächsten Tage
Mai 31, 2012 at 10:03 am
Lebenskunst und Selbstentfaltung mit der gesellschaftlichen Zielbestimmung „lebenswerte und lebensfähige Welt“? Das zeigt mir, dass der Begriff einer „nachhaltigen Entwicklung“ die darauf zielt, dass weltweit alle gut leben können ohne dass dies die Grundlagen eines guten Lebens aller zerstört, (was hinreichende Entwicklungsgerechtigkeit und Möglchkeiten einer ökologisch bewussten Steurung von Verknappung oder Wachstum logisch voraussetzt) doch ein vergleichbar brauchbarer sprachlicher Kathalysator moderner Vergemeinschaftungsprozesse in Richtung einer als solche tatsächlich handlungsfähigen „Menschheit“ sein könnte..
Bei „Lebenskunst“ und „Selbstentfaltung“ stellt sich ja immer auch die Frage nach dem Verhältnis eines gegebenen „Selbst“ zur Art des sozialen „Fürenanders (bzw. „Miteinanders“). Vielleicht ein guter Anlasszum lauten Nachdenken darüber, was den Unterschied zwischen einem bürgerlichen und einem kommunistischen Individualismus ausmacht und wie sich evt ersteres in letzteres aufheben ließe.
Gruß hh
Mai 31, 2012 at 10:15 am
Wobei ja immer auch die Frage interessant bleibt, wie eine gegebene Art des Füreinanders die Parameter eines subjektiven Willens zur künsterischen Selbstentfaltung konstruiert.
Mai 31, 2012 at 10:42 am
Menschen, die ihre Energien nicht absaugen lassen durch den Kampf gegen das System, sollen einfach praktische Projekte der Alternativen beginnen können
Die Vorstellung eines „Kampfes gegen das System“ ist ja selbst eine (bei der Marx fernen Linken häufig anzutreffenden) systemtypische Mystifikation, d.h. eine Illusion, die die privateigentümlich-bürgerlichen (Re-)Produktionsverhältnisse systematisch, d.h. unabhängig vom Willen und vom Selbstverständnis der Subjekte, hervorbringen, und die mehr Ausdruck von deren Entfremdung (zu den Voraussetzungen und -wirkungen des eigenen Wirkens) sind als ein Mittel, sie – weltkommunistisch – zu überwinden. Eine andere Systematik in der Organisation des weltweiten Füreinanders bedarf halt eine entsprechende Änderung der Behauptungsbedingungen mit ihren Regeln, (Un-)Rechtsansprüchen usw.
Wenn Menschen das unter diesen Umständen menschenmögliche versuchen, ist das natürlich auch dann erst einmal nicht schlecht, wenn dies auf der Illusion beruht, man würde damit so mir nix die nix Weltkommunismus den „Koloss Kapitalismus“ zum Versinken zu bringen. Da stellt sich natürlich immer auch die Frage, zu verhindern wäre, dass mögliche Illusionen über die Wirkmächtigkeit von Inseln des Mitmenschentums am Ende nicht vor allem eigene Versumpfung bewirken.
Mai 31, 2012 at 6:12 pm
Danke für den kurzen Bericht! Bin gespannt auf mehr 🙂
Juni 4, 2012 at 10:11 pm
Klingt ein wenig wie: „Projektemachen statt Kommunismus“.
Der Mensch? Die Frage was das für ein Wesen sein könnte, erinnert irgendwie an Gottesbeweise. Und es macht wohl auch keinen großen Unterschied ob nun an „Gott“ oder „den Menschen“ geglaubt werden soll.
Herrschende Wirtschaftswelt? Wüste ich jetzt auch nicht so genau, was dass ein soll.
Lebenskunst? Ohne Bezug zum ultimativen Kunstwerk: „Herstellung einer als solche handlungsfähigen Menschheit“, d.h. ohne Bewusstsein der Notwendigkeit, ein globales Miteinander zu etablieren, das ein rationales Weltressourcenmanagement erlaubt, ist „Lebenskust“ doch eher ein wenig fad. Wäre es das nicht wirklich ein interessanter Anlass, um über den Unterschied von bürgerlichem und kommunistischem Individualismus :zu philosophieren 🙂 ? Und wie sich ersteres in letzterem aufheben ließe?
Juni 10, 2012 at 10:32 am
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Dezember 31, 2012 at 12:10 am
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