Ich war beim „Symbiosium. Tage der außerordentlichen Psychologien“ natürlich auch nicht bei allen Veranstaltungen und kann hier sowieso nicht die ganze Fülle der Informationen und Eindrücke wiedergeben. Weil ich weiß, dass andere, die besonders an der Kritischen Psychologie interessiert sind, diesen Blog lesen ;-), möchte ich zum Beitrag von Daniel Sanin mehr berichten.
Er begann mit einer Erläuterungen der Fallstricke der Mainstreampsychologie. Indem dort die Ursachen für Probleme einseitig nur „in der Krankheit“ gesehen werden, entsteht die Pathologisierung. Wenn die Ursachen nur im Individuum gesehen werden, geschieht Psychologisierung und das Ausblenden der Gesellschaft führt zur Individualisierung.
Für die Sucht werden üblicherweise folgende Ursachen angenommen:
- Suchtpotential: die Substanz wird zum Subjekt erklärt (die „macht das mit dem Menschen“)
- Genetisch: blendet die Subjektivität völlig aus
- Persönlichkeit als feste Gegebenheit, ohne die Subjektivität des „Verhaltens-zu…“ zu berücksichtigen
- Krankheit: die Krankheit wird zum Subjekt mit einer Eigendynamik
- Trauma: betont eine intrapsychische Dynamik, wobei das traumatisierende Erlebnis zum Subjekt wird.
Interessant fand ich folgendes Beispiel, das zeigt, wie problematisch die üblichen Definitionen von „Sucht“ bzw. des „Abhängigkeitssyndroms“ sind. Das „Abhängigkeitssyndrom“ wird durch das Vorliegen von mindestens 3 Kriterien während des letzten Jahres aus folgendem Kriterienkatalog: starkes Verlangen/Zwang zu konsumieren, verminderte Kontrolle bzw. Kontrollgefühl, körperliches Entzugssyndrom bei Reduktion ober Absetzung, Toleranzentwicklung (Dosissteigerung), eingeengtes Verhaltensmuster (Konzentration auf Substanz/Verhalten) und anhaltender Konsum trotz eindeutig schädlicher Folgen. Daniel Sanin zeigte recht deutlich, dass diese Kriterien z.B. auch angesichts des Verhaltens eines Säuglings gegenüber seinem Schnuller angewandt werden könnten.
Historisch gesehen war noch im Mittelalter „das kollektive Betrinken eine normale und daher unauffällige Tätigkeit“. Erst mit der Reformation wurde „Mäßigkeit“ zu einer Tugend deklariert und „Trunkenheit“ wurde dann im 17./18.Jahrhundert zu einem Problem für die Medizin erklärt. Auf diese Weise wurde eine Krankheit „gemacht“.
Dass so etwas wie die Sucht als Krankheit behandelt wird, hat Vorteile (Akzeptanz, z.T. Verständnis, Zugang zu entsprechenden Leistungen), bringt aber auch das Ausblenden anderer Zusammenhänge, die Individualisierung, die Abgabe von Verantwortung, eine Entmächtigung und Entsubjektivierung mit sich.
Viele Modelle, die in der Suchttheorie eine Rolle spielen, basieren auf scheinbar offensichtlichen Grundannahmen (z.B. die Unterscheidung von Normalität und Anormalität) und Mechanismen („Es beginnt mit einer Einstiegsdroge“, „Es führt in eine immer einengendere Spirale bis hin zum Tod“…).
All diese Modelle legen sich als Schema auf das Verhalten der betroffenen Menschen und sie selbst werden gar nicht mehr gefragt. Sie negieren ihre Subjektivität und fragen weder nach Prämissen ihres Verhaltens noch nach ihren Gründen.
Wie dies ginge, erläuterte Daniel Sanin dann kurz anhand der von der Kritischen Psychologie bereit gestellten Methoden und Kategorien. Demnach kann es bei der Betrachtung und dem Umgang mit Menschen nicht darum gehen, einen Bedingtheitsdiskurs zu führen („wenn X, dann Y“), sondern einen Begründungsdiskurs. (Mehr davon z.B. auch von mir).
Für den Konsum von Substanzen, die als süchtigmachend gelten, gilt demnach entgegen den üblichen Konzepten:
- Konsum hat eine Bedeutung (Konsum ist gesellschaftlich vermittelt und individuell angeeignet)
- Konsum ist aktives Handeln (Konsum ist nicht passiv und willenlos, sondern eine aktiv gesetzte Handlung)
- Konsum ist Auseinandersetzung (mit sich, der Gruppe, der Gesellschaft und reicht von Spaß, Neugier bis hin zur Selbstmedikation)
- Konsum ist subjektiv sinnvoll (Konsum ist eingebettet in subjektive Zusammenhänge und Prämissen)
Letztlich lässt sich das, was normalerweise als Problem der Sucht thematisiert wird, als Potenzial der Bindung behandeln. Sanin zitiert Peter Cohen:
Abhängigkeit ist ein „normales menschliches Potenzial […], nämlich das einer starken Bindung. Diese Bindung ist ein emotionaler Prozess, der ein Band schafft, das sich nicht einfach durch den Willen wieder lösen lässt. Die menschliche Bindung kann sich auf eine […] Vielzahl von […] Objekten beziehen, von Nahrung, Drogen, Ideen, Personen, Orten bis hin zu Musikinstrumenten und Tieren.
Je stärker eine Bindung ist, desto mehr bedeutet sie dem Individuum und wird verteidigt, auch unter Bedingungen, die […] negative Konsequenzen nach sich ziehen. Bindungen […] sollten generell respektiert und nicht für illegitim erklärt werden.
Bindung ist ein grundlegender und unausweichlicher menschlicher Hang, aber die Bezeichnung einiger Intensitäten […] oder von Objekten als abweichend oder als Abhängigkeit ist kulturspezifisch.“
Irgendwo an dieser Stelle endete der Vortrag (mir liegen die weiterführenden Präsentationsfolien vor), und ich denke, an dieser Stelle zeigt sich die Bedeutsamkeit des Subjektstandpunkts der Kritischen Psychologie gegenüber den Fallstricken der Mainstreampsychologie recht deutlich.
Den gängigen Vorstellungen über den quasi automatischen Verlauf von bestimmten Konsumverhalten muss eine Thematisierung der jeweiligen Umfeldbedingungen entgegen gehalten werden. Der Verlauf einer Heroinabhängigkeit ist beispielsweise sehr stark davon bestimmt, ob er im illegalisierten Milieu ablaufen muss oder nicht.
Einige Konsequenzen für den praktischen Umgang mit entsprechenden Verhaltensweisen lassen sich sicher leicht ableiten. Leider war die Zeit im Workshop natürlich begrenzt, aber er hat mich neugierig darauf gemacht, mehr dazu zu erfahren.
Soweit ich es mir gemerkt habe, geht es einerseits darum, die Vorstellung von einer Einstiegsdroge und dem vorherbestimmten Einengungsverlauf aufzugeben und als Alternativbild einen Korridor mit vielen Aus- und Eingängen zu verwenden und andererseits auf die konkrete Gestaltung des Konsums so einzuwirken, dass Menschen die Kontrolle über ihre Situation selbst bestimmen können.
Als ein Projekt, das sich mit diesem Thema beschäftigt, wurde das Berliner Projekt „Subjektorientierte Drogenhilfe e.V.“ genannt.
Juni 17, 2012 at 11:57 am
Liebe annette, vielen dank für deine gute und wohlwollende zusammenfassung! 🙂