Wie soll es also werden mit dem Alter(n) und was muss sich in der Gesellschaft dazu verändern?

Kurz nach der „Wende“ beteiligte ich mich an der Gründung eines Gemeinschaftswohnvereins. Ein Grund war, dass ich für die Unterstützung meiner Mutti, die damals erst um die 60 war, gute Bedingungen schaffen wollte. Ich wünschte mir, dass ich mich bereits vorher in meinem Wohnumfeld gemeinsam mit anderen um die gerade anwesenden pflegebedürftigen (alten) Menschen mit kümmern kann, dabei lerne, wie das geht und meine Ängste verliere – und gleichzeitig auch berechtigt darauf hoffen kann, dass ich auch Unterstützung bekomme, wenn es bei meiner Mutti so weit ist.

Heute gibt es nur die fast entgegengesetzte Alternative zwischen der „Familiarisierung“ des Problems (die unmittelbare Betreuung nur innerhalb der betroffenen Familie, insb. durch die Frauen) und der „Vergesellschaftung/Institutionalisierung“ in Heimen. Beides ist alles andere als optimal.

Leider hat es bei uns nicht so wie gewünscht geklappt mit dem Verein, aber ich weiß, dass es durchaus viele erfolgreiche Initiativen in Richtung Mehrgenerationen-Wohnen und ähnliches gibt. Da ist also Vieles auch bereits in unserer Gesellschaftsform möglich. Solange es sich bezahlen lässt, kann man sich organisieren und vielfältige kooperative Lebens- und Betreuungsformen entwickeln. Das freut mich natürlich sehr.

Trotzdem, und das zeigt mir auch die Erfahrung mit unserem Verein und allen Bemühungen, etwas Kooperatives hinzubekommen – machen es die Rahmenbedingungen unserer Gesellschaftsform äußerst schwer, so etwas zu realisieren. Bedürfnisse kommen in der ökonomischen Struktur der herrschenden Gesellschaft nur zur Geltung, wenn sie entweder als „zahlungskräftiger Bedarf“ oder durch den Druck politischer Interessenlobbies auftreten. Beides sind Formen, bei denen der Gestaltwechsel vom Menschlichen zur Geld- oder zur politischen Kampfform das eigentliche Problem nicht unangetastet lässt. Wenn Teilhabe an der Gesellschaft an Geld oder politischen Kampf gebunden ist, bleibt die Menschlichkeit schnell auf der Strecke. Dies ist keine Frage des Wohlverhaltens oder des individuell-menschlichen Versagens, sondern eine strukturelle Frage. Wo es eigentlich um eine sinnvolle gesellschaftliche Organisierung von Mit-Menschlichkeit ginge, wird die Problemlösung entweder ökonomischen „Sachzwängen“ unterstellt oder dem politischen Ringen, bei denen sogar die Siege bitter schmecken, weil sie sich strukturell gesehen immer nur gegen andere, d.h. die jeweils die Unterlegenen richten. Das Einordnen der Problemlösungsstrategie unter diese Rahmenbedingungen führt dazu, dass das eigentliche Anliegen jeweils „gegen den Strom“ durchgefochten werden muss. Gegen die Sachlogik der Ökonomisierung und gegen die Kampflogik der Politik.

Wenn man das verstanden hat, kann man sich auch entlasten von Schuldvorwürfen, die immer wieder aufs Individuum herabprasseln, das es irgendwie nie schafft, allem gerecht zu werden (der Lohnarbeit, der Pflege der Alten, den eigenen Kindern,…vielleicht auch noch den eigenen Bedürfnissen). Man kann dann verstehen, dass es nicht nur die Blödheit anderer Personen ist, die das Leben so schwer macht. Gerade gegen die vielen personalisierenden Vorwürfe, welche die Reformansätze blockieren können, hilft ein Blick auf die Problematik der grundlegenden gesellschaftlichen Strukturen, die heutzutage vorherrschen.

Meine konkrete Utopie geht davon aus, dass der Strom sich umkehrt: Menschen sind Akteure des gesellschaftlichen Lebens. Sie werden nicht hinterrücks zu Objekten des ökonomischen oder politischen Kampfs aller gegen alle – erst recht nicht im Fall der Schwächung der eigenen Kräfte.

Diese Stromumkehr verlangt, dass nicht mehr die Ökonomie hinter dem Rücken der Menschen die „Sachzwänge“ erzeugt, die dann nur noch politisch um den zustehenden Anteil an Zuwendungen gegeneinander streiten können. Sondern sie geht davon aus, dass wir neue Wege finden, die gesellschaftliche Teilhabe jedes einzelnen Menschen zu organisieren.

Und dies ohne den Umweg über ökonomische oder politische Kämpfe. Wir brauchen andere Formen der Vermittlung des gesellschaftlichen Lebens – ich verbinde damit die Konzepte und Erfahrungen der sog. „Peer-Ökonomie“ auf Basis der „Commons“ (Gemeingüter). Diese Konzepte deuten auch an, dass das Ganze keine utopische Spinnerei ist, sondern auf realen Möglichkeiten beruht. Deshalb ist diese Utopie konkret und nicht abstrakt (Als konkrete beziehen sich diese Utopien, wie der Begründer dieser Bezeichnung, Ernst Bloch, feststellte, auf „Tendenzen und Latenzen in der geschichtlichen Bewegung selbst“).

Aber ich kann mir gut vorstellen, dass mehr Menschen aus eigenen guten Gründen heraus eine längere Zeit in ihrem eigenen Leben gern mit alten Menschen verbringen würden, weil sie dabei an menschlicher Wärme und Reife gewinnen. Ich schrieb zu Anfang über meine Motivation, sich nicht nur im Ernstfall um meine Mutti, sondern vorher schon und sicher auch nachher mit um Andere zu kümmern. In einer Gesellschaft, in der sich der Strom der Lebensziele umgekehrt hätte, würden wir alle uns zusammen setzen und jeweils entsprechend unseren Bedürfnissen entscheiden, wie wir mit allen Lebenslagen umgehen wollen. Ich kann und will hier deshalb keine Blaupause für einen „gesamtgesellschaftlichen Altenpflegeplan“ vorlegen. Wahrscheinlich würden wir insgesamt gemeinschaftlich-kooperativ leben. Nicht in zu kleinen Struktureinheiten, sondern in welchen mit „mittlerer Größe“ (einige hundert Menschen werden meist als günstig beschrieben). Diese sind untereinander vernetzt. In diese Strukturen wären dann auch institutionelle Infrastrukturen insbesondere zugunsten der besonderen Lebenssituation im höheren Alter eingebettet, in die jedes Individuum sich einbringen kann, aber nicht muss. Einige Menschen haben sich vielleicht auf die körperlichen und psychischen Probleme alter Menschen spezialisiert und können jene beraten, die wenigstens zeitweise direkt bei den alten Menschen wohnen. Ich könnte mir z.B. ein Haus in jeder Gemeinde vorstellen, für eine größere Stadt ruhig mehrere, in denen dann die baulichen Einrichtungen (Bad) und auch die medizinische Versorgung für die problematischeren Zustände vorhanden sind, in denen es aber auch Zimmer für die mitpflegenden Angehörigen und Freunde und Bekannte gibt (so wie heute schon für Eltern von Kindern, die wegen schweren Krankheiten lange im Krankenhaus sind). Dafür brauchen wir natürlich- außer in jetzt schon privilegierten Einzelfällen – solche Voraussetzungen wie die Unabhängigkeit der eigenen Versorgung von so etwas wie Lohnarbeit.

Wenn, wie ein Kommentator meines Bloges immer wieder betont, all dies keine Revolution braucht, sondern bereits mit Reformen innerhalb des herrschenden Systems möglich wäre, hätte ich sicher nichts dagegen. Aber ich möchte die Vorstellung dafür, was alles möglich wäre, nicht von vornherein auf das innerhalb dieses Rahmens Machbare einschränken.