Für das Sterben sind die 5 Phasen nach Elisabeth Kübler-Ross recht bekannt. In ähnlicher Weise versucht Otfried Höffe (2012: 217) für das Altern verschiedene Phasen zu finden und stellt drei Phasen vor. Ich sehe nicht so sehr, dass sie bei je einem Menschen nacheinander folgen, sondern eher unterschiedliche Räume für idealtypisch-mögliches Verhalten beim Alter(n) darstellen. Beim „resignativen Altern“ werden nur die physischen und sozialen Verluste wahrgenommen. Beim „abwägend-integrativen Altern“ wenden sich die Menschen altersgerechten Interessen und Beziehungen zu. Mit Ernst Bloch gesprochen zieht das „Wunschbild Überblick, gegebenenfalls Ernte“ ein. Beim „kreativen Altern“ wird der neuen Lebensphase ihre Eigenart gelassen und ihr Gewinn wird wahrgenommen.

Welcher Gewinn könnte das sein? Welchen Sinn hat das Altwerden?

Die Texte im Buch „Gutes Leben im Alter“ (2012) vermitteln einen guten Überblick über die Bedeutung des Alter(n)s im Leben eines Menschen. Viele Autoren richten ihren Blick – entgegen der üblichen Meinung vom Verfall – auf das Positive, das mit dem Alter(n) verbunden ist. Bloch zitiert Voltaire: Für den Unwissenden sei das Alter wie der Winter, für Gelehrte sei es dagegen Weinlese und Kelter. Nach Jacob Grimm steigt das Gefühl für die Natur und wird vollkommener. Im Alter hat man „heiligen Frieden und Freiheit“, weil die Leidenschaften nachlassen (Platon):

„Doch wie viel bedeutet es, wenn gleichsam die Kämpfe der Wollust, des Ehrgeizes, der Rivalitäten, der Feindschaften und sämtlicher Begierden ausgestanden sind, der Geist für sich ist und, wie man sagt, für sich lebt! Wenn er dann vollends in einer wissenschaftlichen Beschäftigung gleichsam noch Nahrung findet, dann gibt es nichts Angenehmeres als ein Alter voller Muße…“ (Cicero)

Auch bei John Cowper Powys bewahrt uns das nahende Ende „vor allen nichtigen Ablenkungen“ (Powys):

„Die Wahrheit ist, dass es eines höllisch flammenden Blitzschlags bedarf, damit wir armen benebelten und konfusen Trottel, die wir an unseren Gewohnheiten kleben und das Leben als etwas Selbstverständliches nehmen, begreifen, dass jede Sekunde unseres bewussten Lebens ein unvorstellbares, unfassbares Wunder ist.“ (ebd.)

Dies gibt uns die Möglichkeit, die „Grundsubstanz Lebensfreude“, das „reine Lebensgefühl“ zu spüren und zu erfahren.

Das Alter befreit uns von Aufgaben, die wir nicht mehr vollbringen können (Cicero); wir erhalten die „Erlaubnis, erschöpft zu sein“ (Bloch). Aber auch wenn wir noch etwas tun wollen, so zählt die Fähigkeit zur Planung, Geltung und Entscheidung, die im Alter eher zunimmt, für das Vollbringen großer Taten häufig viel mehr als die abnehmende körperliche Kraft, Behendigkeit und Schnelligkeit (Cicero). Manche Arbeiten verlangen gerade „emsig eingeholte Erfahrung… und stillen, ruhigen Abschluss“ (Grimm) und „dem Alter fällt in vielem die Erfüllung zu“ (ebd.).

Weil wir in den späteren Jahren „selbst vollendet und abgeschlossen“ sind, können wir auch „mehr… auf die Welt einwirken“ (Schopenhauer). Dabei weichen frühere „Scheu und Bedenken“ und wir können „die erkannte Wahrheit… auch kühn bekennen“ (Grimm).

Wenn Ernst Bloch von „durchgeformter Reife“ spricht, so meint Schopenhauer:

„Im weitern Sinne kann man auch sagen: die ersten vierzig Jahre unseres Lebens liefern den Text, die folgenden dreißig den Kommentar dazu, der uns den wahren Sinn und Zusammenhang des Textes, nebst der Moral und allen Feinheiten desselben, erst recht verstehn lernt.“ (Schopenhauer)

„Erfüllungsgestalten“ des Selbstwerdungsprozesses (Rentsch 2012) entstehen:

„Vergangne Not wird nicht mehr empfunden, vergangenes Glück windstill, durch Erinnerung erneuert, die Meißelschläge des Lebens haben eine wesentliche Gestalt herausgearbeitet, und Wesentliches ist ihr besser als je erblickbar.“ (Bloch)

Thomas Rentsch spricht davon, dass im Alter „die innige Verschränktheit von Endlichkeit und Sinn, Begrenztheit und Erfüllung erkennbar und einsichtig werden kann“ (Rentsch 2012: 203).

Damit sind vorerst vor allem Bilanzen angesprochen, die die kognitiven Fähigkeiten des Menschen ansprechen. Aber, wie schon erwähnt, hat das menschliche Leben noch andere Qualitäten, die für sich selbst stehen. Andreas Kruse (2012b) berichtet von einem Mann, der angesichts der sich verschärfenden Alzheimerdemenz seiner Frau an gemeinsamen Suizid dachte. Er kam davon ab, als er darauf aufmerksam gemacht wurde, dass gerade nach einer so tollen Ehe diese Gemeinsamkeit nun eine neue Gestalt annehmen kann, „wenn Sie sich gerade in solch einer Grenzsituation zu ihr bekennen“. Was wäre denn die vielbeschworene Liebe „über den Tod hinaus“ wert, wenn sie das Leben der/s Geliebten nicht auch dann annähme und bereicherte, wenn es der unmittelbaren Berührung, Liebkosung und der emotionalen Nähe am meisten bedarf?

Neben den Stimmen, die das Alter als Lebenszeit der erfüllten Reife würdigen, gibt es natürlich auch Gegenstimmen. Es fällt aber durchaus auf, dass jene Aussagen, die die Probleme des Alter(n)s betonen, dies direkt in den Zusammenhang mit der herrschenden gesellschaftlichen Struktur stellen. Jean Amery sieht die Alten als „Geschöpf ohne Potentialität“ in den Blicken der anderen. Dabei ist es eine ganz bestimmte Gesellschaft, in der das geschieht, nämlich eine „Gesellschaft des Habens“, in der das autonome Individuum neutralisiert wird, „das unterm Druck der Habensperspektive dem Blick der anderen keine sich wollende, prospektive Persönlichkeit mehr entgegensetzen kann.“

Der Ruhestand kann häufig nur für Wohlhabende zum Segen werden, anderen eröffnet er jedoch „ keine neuen Möglichkeiten; in dem Augenblick, da der Mensch endlich befreit ist von den Zwängen, nimmt man ihm die Mittel, seine Freiheit zu gebrauchen.“ (de Beauvoir)

Zu meiner schon angesprochenen Kritik der bloßen „warm-satt-sauber“-Perspektive der Heime passt ebenfalls eine Bemerkung von Simone de Beauvoir:

„Damit, dass man ihnen menschenwürdige Altersheime baut, kann man ihnen nicht die Bildung, die Interessen und die Verantwortung vermitteln, die ihrem Leben einen Sinn gäben.“ (ebd.)


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