In den folgenden beiden Blog-Beiträgen gehe ich direkt auf Fragestellungen aus den Kommentaren zum letzten Beitrag „Das Einüben der Ent-Unterwerfung“ ein.
Die Kommentatorin „ich“ meinte z.B.:
„Diese Problematik stellt sich meiner Meinung nach immer, wenn eine Gruppe eine Aktion für viele Teilnehmer_innen als “Konsumangebot” organisiert, also prinzipiell immer bei Demonstrationen.
Für mich offen bleibt die Frage, wie man das verhindern kann, wie man einen wirklich gleichberechtigten Vorbereitungsprozess mit mehreren hundert bis tausend Teilnehmer_innen gestalten kann.“
Diese konkrete politische Problemstellung zeigt, dass man nicht alles, was mit emanzipativer Politik zu tun hat, direkt mit Kritischer Psychologie „erschlagen“ kann. In der Politik, die auf gesamtgesellschaftliche Wirkungsfähigkeit geht, gibt es schon „emergente Effekte“. Trotzdem ist es meine (gesellschaftspolitische) Überzeugung, dass Mittel, die den Zielen im Grundprinzip widersprechen, kontraproduktiv wirken. Damit bin ich dann auch bei entsprechenden gesellschaftstheoretischen und -politischen Konzepten. Ich befinde mich hier in großer Nähe zu anarchistischen Konzepten (eine von deren Grundprinzipien ist ja, dass die Mittel dem Ziel nicht widersprechen dürfen) und häufig kooperiere ich explizit mit antihierarchisch-autonom orientierten Praktiken, die z.B. von der Projektwerkstatt Saasen ausgehen (z.B. Veröffentlichung „HierachNIE“).
Im Rahmen von solchen Konzepten wurde in den letzten Jahrzehnten auch eine Fülle an Erfahrungen gesammelt und Konzepte entwickelt, wie eine emanzipative politische Praxis möglichst hierarchiearm bis -frei organisiert werden kann. Mir ist bekannt, dass in vielen sozial/ökologisch orientierten Bewegungen davon wenig bekannt ist. In den frühen 90er Jahren schien es mir so, dass auch aufgrund der enttäuschenden Erfahrungen mit bevormundenden und instrumentalisierenden Politikformen in der Arbeiterbewegung und im Realsozialismus die jüngeren Akteure ziemlich engagiert auf solche antihierarchischen Praktiken zurückgreifen und sie weiter entwickeln. Das waren aber Zeiten, in denen nur eine sehr kleine Minderheit überhaupt politisch alternativ engagiert war. Als seit 1999 die Kämpfe sich verbreiterten („Antiglobalisierung“), wurde das zwiespältiger: Einerseits kann wohl zusammenfassend konstatiert werden, dass (wohl beinah) alle Bewegungen zumindest offiziell antihierarchische Organisationsstrukturen anstreben (meist unter Berufung auf die Tradition der Zapatisten). Andererseits kamen nun teilweise wirklich auch wieder „Massen“, von denen viele selbst auch eher die Erwartungshaltung des „Mitmachens“ statt Selber-Machens mitbrachten (dass bei einer „Vokü“ alle selber ihr Geschirr aufwaschen war mal selbstverständlich. Heute muss man das, z.B. bei attac-Veranstaltungen, immer wieder erst aktiv kommunizieren, weil es nicht mehr selbstverständlich ist).
Bei Deinem Problem, wie man dann „eine Aktion für viele Teilnehmer_innen als “Konsumangebot” organisiert“, wäre für mich die erste Frage: Muss ich das das überhaupt?
Wenn ich das denn doch machen will (oder andere es partout wollen und ich nicht wieder nur theoretisch kritisieren, sondern mich aktiv beteiligen will), stellt sich die nächste Frage: Worauf gründet sich die erhoffte Beteiligung der Menschen? Jetzt habe ich zwei Möglichkeiten: Ich kann auf (kausale) Bedingungsbeziehungen spekulieren: „Da ja viele Menschen negativ von Hartz IV betroffen sind, werden sie doch wohl ein gemeinsames Interesse haben, dagegen zu demonstrieren!“ Dann ergibt es sich meistens, dass doch nicht so viele Leute kommen und was machen dann die Organisatoren? Sie schimpfen über die nicht Anwesenden! (Muss ich das auch noch belegen, oder machen nicht die meisten immer wieder diese Erfahrung, dass die Engagierten sich über die Nicht-Engagiertheit der anderen zuerst aufregen, statt sich zu fragen, warum das so ist und ob das an ihrem Politikstil liegt?).
Die zweite Alternative wäre: Ich gehe mit meiner Hypothese direkt unter Menschen, wo ich mit ihnen öfter mal auch auf Du und Du reden kann, und bringe in Erfahrung, welche Gründe sie mir für ihr Verhalten in verschiedenen Situationen, angesichts verschiedener Problemlagen nennen. Wenn sie damit gut zurechtkommen, steht mir auch kein naseweises Besserwissen zu. Wenn sie aber damit an Grenzen der Problembewältigung kommen, dann können wir hoffen, dass andere Beteiligte andere Horizonte einbeziehen und ihre Gründe anders entwickeln (das steht mir dann auch zu und ich kann meine Sichtweise und Erfahrung einbringen). Daraus können wir dann gemeinsam lernen (so was stelle ich mir unter einem politischen Begründungsdiskurs vor).
Wenn wir diese Kultur des Kennenlernens unserer Gründe, der gegenseitigen Bereicherung des Wissens über mögliche Handlungen entwickeln, werden wir aus einer solchen Kultur heraus auch zu Absprachen kommen, dies oder jenes gezielt gemeinsam zu tun. Ich kann dann vielleicht auch gute Gründe entwickeln, mich zu „uniformieren“ – aber gut ist der Grund dafür nur, wenn nicht automatisch angenommen wird, dass ich mich einer von anderen definierten höheren Sache unterzuordnen habe.
Zur nächsten Frage, „wie man einen wirklich gleichberechtigten Vorbereitungsprozess mit mehreren hundert bis tausend Teilnehmer_innen gestalten kann“, gibt es ebenfalls schon gute Beispiele. Grad aus dem Anti-Atom-Widerstand im Wendland. Das Wichtigste ist: Es macht nicht viel Sinn, alle unter einen Hut, eine Organisationsform, eine Aktionsform bringen zu wollen. Auch da gibt es aus Südamerika eine wichtige Erfahrung: sie wollen „eine Welt für viele Welten“, keine Vereinheitlichung. Wichtiger ist die Abstimmung zwischen unterschiedlichen Gruppen, so wie das im Wendland auch oft gelang. Ausgerechnet die letzten Jahre gaben dafür schon nicht mehr die besten Beispiele, sondern es häufen sich Klagen über Instrumentalisierungen durch bestimmte Gruppen, die die Meinungsführerschaft durchsetzen wollten. Gerade die „Vertretung“ in der Öffentlichkeit ist so ein Streitpunkt. Wer darf mit der Presse reden, wer drängelt sich immer wieder vor, wer beißt die anderen weg? Gibt es offene Presseverteiler, wird verzichtet auf das Erfüllen der Medienerwartungshaltung nach „Meinungsführern“?
Symbole können sich ergeben. Sie können im Prozess entstehen – ich glaube, die gelben X-e im Wendland sind im Prozess geboren worden und haben ihre Dominanz wirklich durch freiwillige Übernahme gewonnen. Die gelbe Atomsonne sicher auch. Die dominiert im Wendland schon. Trotzdem sind auch die großen Demos mit Tausenden Teilnehmer_innen im Wendland viel, viel bunter als es das „Warmlaufen“ in Berlin mit den aufgenötigten Leibchen war.
Ich denke, wir müssen an vielen Stellen überlegen, ob wir bestimmte politische Logiken, die halt „üblich“ sind, überhaupt brauchen („Sprecher“, „Vertretungen“, „Symbole“…). Das ist wie mit den Argumenten, die mich selbst einst doch dazu gebracht hatten, die „Einheit der Arbeiterklasse“ (und damit auch die Organe, die diese Einheit zu sichern hatten) anzuerkennen. Es gab so eine Geschichte von den einzelnen Ästchen, die als Einzelne leicht nacheinander zu brechen waren, während ein ganzes Bündel dieser Äste unzerbrechbar waren. Unter dieser Voraussetzung konnte dann schließlich auch der Stalinismus gedeihen (auch wenn wir uns verzweifelt dagegen stemmten). Es war einfach eine unhinterfragte Voraussetzung („Einheit braucht einheitliche Führung“), die unser gutes Bemühen, nicht zu bevormunden und nicht zu gängeln, sondern nur „im Interesse der Bevölkerung“ zu handeln, systematisch hintertrieben haben. (Das Thema einer lebendigen Einheit ohne Herrschaft bearbeitete ich seitdem unter dem Stichwort „Selbstorganisierung“ – allerdings war das zuerst nur eine sehr abstrakte Systemtheorie. Heute entwickeln wir dafür das Konzept der Selbst-Entfaltung – aber das ist schon wieder ein anderes Thema.)
September 29, 2012 at 4:53 pm
Der Fehler ist die Spekulation, dass also gerade NICHT nach (wahrscheinliche) Erfolgsbedingungen geforscht wird. (Habe mir gerade so einen Aufruf für eine bundesweite Montagsdemo gegen Hartz IV angesehen. Daraus ist erstens nicht ersichtlich, wer dazu aufruft, also politische Verantwortung trägt. Zweitens ist „Weg mit Hartz IV!“ ein bisschen dünne. Da stimmt offenbar auch etwas mit der Analyse nicht. Ist es ein Wunder, dass die möglichen Interessenten auf so eine windige und intransparente Sache mit Gleichgültigkeit reagieren?)
Das sehe ich im Übrigen als eine Erscheinung, die eher für politische Akteuren typisch ist, die sich als antihierarchisch verstehen, und für die „Autonomie“, „Freiräume“ und „Selbstbestimmung“ die Zauberwörter sind. Ist nicht zum Moralismus verdammt, wer es sich aus Gründen ideologischer Konsistenz verbietet, über Erfolgsbedingungen seiner Vorhaben nachzudenken?
Nunja, es empfiehlt sich immer, mit offenen Augen und Ohren herumzulaufen und sich in Gesellschaft Nicht-Gleichgesinnter zu begeben. (Meine fast 40 Jahren Gelegenheitsjobberei waren eine gute Schule)
Ja, Interviews mit ALG II Empfängern über DEREN Vorstellungen einer Alternative wäre von großem Interesse. Warum mache ich das eigentlich nicht? Allerdings wären die Ergebnisse für mich auch wiederum nicht DER (einzige) Maßstab, denn ich würde die immer auch mit dem konfrontieren, was ich unter einer nachhaltigen Entwicklung ökologischer Vernunft verstehe.)
Gruß hh
Oktober 3, 2012 at 9:59 am
Die Begründungen der anderen Menschen müssen für niemanden anderen irgend ein Maßstab sein. (Ich schrieb schon im anderen Kommentar, dass der Begründungsdiskurs nicht nur ein „Mal reden“ darstellt, sondern durch das gegenseitige Kennenlernen der Begründungsmuster auch die je eigenen in ihrer Beschränktheit kritisiert werden).
Aber warum willst Du sie „konfrontieren“? Wenn das, was Du als für uns alle als wichtig ansiehst (“ nachhaltigen Entwicklung ökologischer Vernunft“), nicht auch letztlich tatsächlich für sie wichtig wird (aus Eigeninteresse), dann bringt auch das „Konfrontieren“ nichts.
Du kannst letztlich in dem Gesprächsprozess Deine eigenen Überlegungen so einbringen, dass die anderen Deine Begründungsmuster erkennen, verstehen und dann von selbst darauf kommen, dass das für sie ja eigentlich auch gilt.
Dann bist Du aber kein Interviewer und sie nur die Befragten und/oder Belehrten, sondern Ihr müsst Euch schon als Subjekte begegnen, deren jeweiliger individueller Weltzugang auch gegenseitig akzeptiert wird (nicht gleich mit dem Vorhaben der „Konfrontation“).
Das ist natürlich viel komplizierter als es üblicherweise angenommen wird (von wegen: Ich weiß es besser und muss es den anderen nur noch beibringen…), und genau deshalb gibt es auch in uns selbst (auch in mir!) so viel Widerstand dagegen.
Oktober 3, 2012 at 12:28 pm
Ein Missverständnis! Ich schrieb, dass ich die ERGEBNISSE von Befragungen zur Langszeitarbeitslosigkeit mit dem konfrontiere, was ich unter einer nachhaltigen Entwicklung ökologischer Vernunft verstehe bzw. mit anderen Methoden darüber in Erfahrung bringe.
Mit Konfrontation meine ich Übrigen schlicht die Begegnung mit anderen Wahrnehmungen. Was soll daran verkehr sein?
Im Übrigen gilt: ohne Konfrontation keine soziale Entwicklung.
September 29, 2012 at 5:59 pm
Irgendwie windest du dich aus meiner Frage ganz schön raus. Politisch kann ich mir die Frage auch beantworten. Du versuchst aber, zwar mit Kritischer Psychologie zu kritisieren, um dann festzustellen, dass die Kritische Psychologie zu dieser Frage zwar kritisieren kann, aber keine Antworten parat hat. Für mich ist das ziemlich unbefriedigend, und ich finde es dann auch sinnvoller, politisch und nicht psychologisch zu kritisieren.
Dein Verständnis erinnert mich sehr an das von Morus Markard vertretene Verständnis von Kritischer Psychologie.
Holzkamp hat dazu 1980 (http://kritische-psychologie.de/texte/kh1980a.html) ein paar sehr andere Antworten parat:
Zur Frage des Verhältnisses von Individuen und politischen Organisationen verwirft er die Idee, dass sich Individuen mit verschiedenen, im Grunde gleichberechtigten Ideen zusammenschließen, und sich dann, entsprechend dem Kräfteverhältnis, die einen oder anderen Partialinteressen durchsetzen können. Dies sieht er als die Vorstellung unserer Demokratie.
Statt dessen hebt er hervor, dass sich Allgemeininteressen bestimmen lassen, an denen sich Parialinteressen bewerten lassen und ihre Berechtigung bestimmen lässt.
Dieses Allgemeininteresse ist die Überwindung der Unterdrückung der Menschen, d.h. die Verfügung der Menschen über ihre eigenen Angelegenheiten. Die Durchsetzung dieses Allgemeininteressen schließt den Kampf gegen die Unterdrücker mit ein.
Diese Allgemeininteressen muss es nicht irgendwo bei bestimmten Menschen geben, sie sind der Maßstab zur Bewertung von Interessen.
Allgemeininteressen sind nur in Zusammenschluss mit anderen erreichbar, da die Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen nur durch Teilhabe an der gesellschaftlichen Verfügung erreicht werden kann. Andersrum sind nicht alle Interessen, die gemeinsam vertreten werden, Allgemeininteressen.
Das Allgemeininteresse schießt alle Einzelinteressen mit ein und ist damit notwendig im Interesse jedes Einzelnen. Das Interesse an so verstandener Freiheit ist das erste Bedrüfnis aller Menschen (und das ganz, ohne sie danach zu fragen, ob sie überhaupt ein Problem haben)
Für das Verhältnis von Individuen zu Organisationen stellt er fest, dass Individuen zwar alle möglichen Interessen haben und diese auch gemeinsam vertreten können, aber nur die am Allgemeininteresse bewerteten Interessen sind die für sein Verständnis wichtigen. Fortschrittliche Organisationen vertreten diese Allgemeininsteressen, während der Zusammenschluss zur durchsetzung von sonstigen Interessen bürgerlich ist.
Individuen und fortschritliche Organisationen sind durch das Allgemeininteresse verbunden, was nicht immer klar erkennbar ist, sondern muss durch permanente Kritik immer wieder aufs neue geprüft werden. Konflikte zwischen Individuen und fortschrittlichen Organisationen lassen sich damit als Gegeneinander von Allgemein- und Privatinteressen bestimmen, Privatisierungstendenzen können auf Seite der Organisation oder des Individuums liegen.
Während Holzkamp die Forderung, die eigenen Bedürfnisse hinter dem Allgemeininteresse zurückzustellen, in nicht wirklich dem Allgemeininteresse verpflichteten Organisationen als Herrschaftstechnik bestimmt, trifft dies nicht für wirklich fortschrittliche Organisationen zu. In solchen Organisationen kann es dann zwar vorkommen, dass die Algemeininteressen im Konflikt mit aktuellen Eigeninteressen stehen, dies ist dann aber keine Herrschaft mehr, da sie mit den langfristigen Interessen übereinstimmen. Der Kampf um Algemeininteressen ist nun mal nicht ohne Anstrengungen, Opfer und Risiken möglich. Aufgabe der Organisation ist es, den Zusammenhang zwischen Allgemeinen und individuellen Interessen durchschaubar zu machen. Durch diese Klärung wird dann auch der Apell an Opfer der Individuen überflüssig, da die Individuen Erkennen, was ihre wirklichen allgemeinen Interessen sind. Ist diese Klärung nicht möglich, weil die Organisation keine wirklichen Allgemeininteressen vertritt, bleibt ihr nur der Apell.
Ewas anderes als die Vertretung des Allgemeininteresse können die Mitglieder von Organisationen nicht erwarten: sie ist darüber hinaus nicht für das Wohl und die Sicherheit der Mitglieder verantwortlich.
Da die Auswahl an Organisationen, die mein Verständnis vom Allgemeininteresse vertreten, sehr begrenzt ist, gibt es meist keine wirkliche Alternative, die Organisation zu wechseln, wenn ich mit ihr in Konflikt gerate, und es bleibt der Rückzug in die Privatheit. Dies widerspricht aber den eigenen Interessen nach Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen und ist damit nicht wirklich möglich, sondern vielmehr ein Zeichen für die höhere Priorität von Privatinteressen, womit ich mir selber zum Feind werde. Konflikte können nur innerhalb der Organisation ausgetragen werden.
Individuen sollten ihrer Organisation gegenüber eine kritische Haltung einnemen, um zu der permanenten Auseinandersetzung darum, was die Allgemeininteressen sind, teilzunehmen. Dabei ist nicht jede Kritik gleich richtig, dass wäre Beliebigkeit, sie kann nach berechtigt und unberechtigt bewertet werden.
Gegen eine Diskussion bis zum Konsens aller Mitglieder steht, dass es gerade menschlich ist, nicht alle Erfahrungen selbst machen zu müssen, sondern auf gesellschaftliches Wissen zurückgreifen zu können. Daher müssen nicht alle Erfahrungen jedes Individuums immer wieder neu diskutiert werden. Die eine Wahrheit wird hier zum Maßstab herangezogen, unter Zeitdruck kann die Organisation auch Diskussionsprozesse abbrechen, um zu handeln. Dies macht Hierarchien und Funktionäre notwendig.
Während wir uns sicher einig sind, dass Holzkamps Vorstellungen aus anarchistischer oder autonomer Perspektive absolut inakzeptabel sind, finde ich seinen Text trotzdem lesenswert, weil er eben die Fragen anspricht, die man nach deiner Auffassung nicht mit Kritischer Psychologie erschlagen kann. Wichtig finde ich den Text auch, weil er deutlich macht, mit was für politischen Vorstellungen die Grundkategorien der Kritische Psychologie ausgearbeitet wurden. Die Vorstellung von den verallgemeinerbaren Interessen findet sich auch in dem Begriffspaar verallgemeinerte vs. restriktive Handlungsfähigkeit, und kann meiner Meinung nach nicht einfach im Nachhinein „abgeschwächt“ werden. Die Vorstellung von Wahrheit und dem nach politischen Vorstellungen gesetzten allgemeinen Interesse nach Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen ist heute immer noch zentraler Bestandteil kritisch-psychologischer Kategorien, die ja seit 1983 nicht wesentlich verändert wurden, durch das nicht-zuständig erklären für Fragen der Organisierung wird das meiner Meinung nach eher verschleiert.
Kritische Psychologie ist nicht wertfrei oder unpolitisch, marxistische Vorstellungen von Geselschaft und Freiheit sind grundlegender Bestandteil der grundlegenden Begriffe. Daher ist das Austauschen der gesellschaftstheoretischen Bezüge meiner Meinung nach auch nur in sehr begrenztem Rahmen möglich, ohne die Grundbegriffe anzupassen.
Du stellt meine Frage nach den Möglichkeiten einer Organisation mit vielen Menschen als irgendwie individuelle Entscheidung hin, die man gleichwertig bejahen oder ablehnen kann.
Wenn, es im Sinne der Kritischen Psychologie, darum geht, gesellschaftliche gesetzte Grenzen der Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen in Richtung verallgemeinerter Handlungsfähigkeit zu überwinden, ist dies, und da stimme ich mit den Vorstellungen überein, nur durch kollektive Organisierung möglich. Daher ist die Frage, wie ich mich mit genug anderen organisiere, um gegen die Machtverhältnisse, die diese Grenzen schützen, anzukommen, keine, die man beliebig auch mit: dann mach es doch nicht! beantworten kann.
Während Holzkamps Antwort, die zwar lückenlos zu kritisch-psychologischen Konzepten passt, politisch inakzeptabel ist, spricht sie schon ähnliche Punkte an, wie ich und auch du in deinem Beispiel der Warmlauf-Aktion: Wie verstehe ich Konflikte zwischen Individuen und Organisationen?
Holzkamps Lösung über die Allgemeinen Interessen sind zwar kritisch-psychologisch, aber weder anarchistisch noch autonom. Holzkamps Antwort auf dein Unbehagen der aufgenötigten Uniformierug wäre die Notwendigkeit der Klärung, ob das Tragen dieser Uniformierung dem allgemeinen Interesse der Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen entspricht oder nicht. Deinen Einwand, dass du nicht gefragt wurdest, hätte er, zumindest 1980, unter Verweis auf Handlungsnotwendigkeiten, nicht gelten lassen. Notwendig wäre die Klärung, ob das Interesse der Organisation, bestimmte Bilder in den Medien zu produzieren, mit dem Allgemeinen Interesse übereinstimmt oder nicht.
Im Sinne der „usprünglichen“ Idee der Kritischen Psychologie hätte die Organisation darin versagt, den Zusammenhang zwischen allgemeinen Interessen und deinen individuellen Interessen in dem Moment deutlich zu machen.
Während ich diese Argumentation in sich schlüssig finde, fällt es mir schwer, deinen Versuch, mit der Kritischen Psychologie das hierarchische Vorgehen zu kritisieren, schlüssig nachzuvollziehen. Wenn Kritische Psychologie nur noch heißt, „mehr miteinander zu reden“ und „bessere“, weil intersubjektive Beziehungen zu führen, entledigt sie sich damit oberflächlich politisch problematischer Grundannahmen, verliert aber auch viel von ihrem politischen Potential. Politische Probleme zu lösen, indem ich „mehr mit anderen rede“, kann ich auch mit dem naiven sozialen Konstruktivismus von Gergen denken, den die Kritische Psychologie völlig zu Recht in Grund und Boden kritisiert.
Oktober 3, 2012 at 9:50 am
Vielen Dank für diese ausführliche Ergänzung. Ich selbst würde nun gern danach suchen, ob man ausgehend von den Holzkampschen Überlegungen eine andere Antwort auf die Frage der Organisiertheit geben kann, denn seine ist aus meiner Sicht nicht einfach übernehmbar. Wäre das auch für Dich ein Projekt?
Ansonsten ist es ein Mißverständnis, wenn Du annimmst, dass ich politische Problem nur mit „mehr mit anderen reden“ lösen wöllte. Erstens bleiben auch im Begründungsdiskurs die zuerst ermittelten Begründungen nicht unbedingt einfach unkritisiert stehen, sondern im Prozess entwickeln sich diese (hoffentlich) im Sinne der Erweiterung/Verallgemeinerung weiter und zweitens wäre dieser Begründungsdiskurs nur ein Moment des Ganzen, aber ein immer wichtiger werdender, der immer und immer wieder ausgelassen wird und wozu es noch nicht mal Ansätze gibt, eine Praxis dazu zu entwickeln (mal abgesehen von den schon zitierten Ansätzen in den libertär-autonomen Kreisen, die ja aber nicht von Kritischer Psychologie ausgehen).
Oktober 11, 2012 at 3:03 pm
@ich: Du sprichst viele der Fragen an, die ich mir auch gestellt habe. Meine skizzenhaften Antwortversuche findest du hier und hier. Ich kritisiere darin u.a. ein Kernelement der Holzkampschen Argumentation, nämlich den (nirgendwo ausgewiesenenen) Begriff der Interessen, hier insbesondere die Unterscheidung von Partial- und Allgemeininteressen. Ob das tragfähig ist, weiß ich nicht.
Wichtig finde ich: Es gibt nicht _die_ marxistische Vorstellung von Gesellschaft, sondern unterschiedliche Herangehensweisen, die sich auf Marx beziehen. Die Holzkampsche Argumentation bezieht sich auf die seinerzeit dominante Marxismus-Auffassung und ist nur in Bezug darauf schlüssig, nicht aber notwendig in _dieser_ Form festgefügter Bestandteil der Kritischen Psychologie, mit der diese steht oder fällt. Das Verhältnis von Gesellschafts- und Individualtheorie ist immer wieder zu thematisieren und bei neuen Erkenntnissen zu verändern. Das muss nicht notwendig, aber kann unter Umständen auch Konsequenzen für die im engeren Sinne kritisch-psychologischen Kategorien haben.
Ohne das jetzt auszuführen (wäre echt lang), ist meine These, dass eine notwendige Kritik am traditionellen marxistischen Konzept die Kernkategorie (restriktive/verallgemeinerte Handlungsfähigkeit) noch schärfen kann, anstatt sie ins bloße interaktionistisch-kommunikative zu verwässern („mehr miteinander reden“).
Juni 27, 2014 at 5:36 pm
[…] Vielleicht ist es auch eine Überforderung, einerseits für die Kritischen Psycholog*innen, auch in den politischen Bewegungen lehrend und praktisch aktiv sein zu sollen, und andererseits der Bewegungsakteure, sich die Kritische Psychologie aneignen zu müssen. Wenn dies so ist, dann bliebe ein enormes Potential unausgeschöpft. Ich denke, die Kategorien und Konzepte sind überhaupt nicht auf einen beruflichen, einen therapeutischen Kontext beschränkt, sondern fordern geradezu heraus, dass in vielen tausenden Gesprächen viele einzelne Individuen gemeinsam mit anderen ihre Möglichkeiten besser kennenlernen und sie auszuschöpfen sowie zu überschreiten beginnen. D.h., ihre Emanzipation und damit die gesellschaftliche Entwicklung voranzutreiben. (Über die Relevanz solcher Fragestellungen für die emanzipative politische Praxis schrieb ich bereits). […]