Ein Blogbericht von Brigitte Kratzwald mit dem Titel „Der chaordische Weg zu den Commons“ hat mich  dazu veranlasst, mich zu erinnern, wie ich zu dem Thema der Selbstorganisationstheorien gekommen war und mich zu fragen, wie ich jetzt damit umgehe. Mit Brigitte maile ich darüber und einen Teil einer Mail dazu möchte ich hier auch mitteilen:


Was stand am Anfang meines Interesses an den Selbstorganisationskonzepten? Einerseits das reine Interesse an dem faszinierenden neuen Wissen über Ordnungsstrukturen in der Welt, das weit über das Weltbild hinauswies, das im allgemeinen durch seine „mechanische“ bzw. „lineare“ Denkweise charaktierisiert wird (was auch nicht ganz stimmt). Andererseits aber auch durch die Andeutung der Möglichkeit von neuartigen Ordnungsstrukturen für die Gesellschaft.

In den letzten Jahren der DDR war ich gemeinsam mit anderen auf der nach Ordnungsprinzipien, die Herrschaft nicht brauchen.

Wir wurden u.a. noch mit folgender Geschichte erzogen, die uns die Notwendigkeit einer „führende Rolle der Partei“ nicht grad absurd erscheinen ließ:

Ein Vater hatte mehrere Söhne, die sich ständig stritten. Da nahm er einige Reisigzweige. Er hob nach und nach einen Zweig hoch und zerbrach ihm mit wenigen Fingern. „Das seid Ihr!“ – Dann bündelte er das Reisig und konnte dieses Bündel mit aller Kraft nicht mehr brechen: „Das könntet Ihr sein, wenn Ihr zusammenhalten würdet!“.

Angesichts einer gewissen Interpretation der Geschichte der Arbeiterbewegung war das sehr überzeugend. Auch die „Diktatur des Proletariats“ war ja keine beliebige Erfindung von Marx, sondern erwuchs erst aus der Erfahrung der Niederschlagung der Pariser Commune.

Dass eine komplexe Industriegesellschaft nicht anarchisch-chaotisch funktionieren kann, war auch klar. Augenfällig hatte ich das vor mir mit dem Jenaer Kombinat VEB Carl Zeiss Jena. Da arbeiteten ca. 60 000 Menschen arbeitsteilig zusammen. Wie sollten die denn von sich aus die Arbeit organisieren? Wer entscheidet, wann das Fließband angeschaltet wird und wie schnell es läuft, wenn alle gleichberechtigt und spontan abstimmen können? War es nicht augenfällig, dass irgendwo „von oben her“ das Ganze im Blick sein muss und von da her die Organisation gesteuert wird???

Ich war in der Zeit in der FDJ (Freie Deutsche Jugend) in einer  Gruppe aktiv, in der wir uns durchaus über einige Kritiken am sozialistischen System bewusst waren. Aber wir wollten den Sozialismus partout nicht in einen Kapitalismus zurückfallen lassen, sondern suchten Auswege „nach vorn“.

Ich selbst war eine philosophisch interessierte Physikerin und bei meinen vielen auch rein wissenschaftlich-weltanschaulichen Suchbewegungen war mir auch das Selbstorganisations-Konzept (insb. nach Prigogine) in die Finger gekommen. Und da lag es dann nahe, einen Übersprung auch in das politische Thema zu suchen. Man kann natürlich nicht, das wusste ich auch damals schon, direkt aus der Physik heraus Aussagen für die Gesellschaft machen wollen. Ein Weg, die neuen Erkenntnisse fruchtbar zu machen, kann über den „Umweg“ der Philosophie gehen: Struktur- und Entwicklungsprinzipien aus der Naturwissenschaften können in die Gedankenwelt der Philosophie eingehen (speziell der Dialektik) und von daher können dann auch neue Konzepte für die Gesellschaftstheorie und -praxis erwachsen (mehr dazu hier).

Das war dann kurz vor 1990 mein Ziel: Eine philosophische Dissertation, wobei mir das Physikstudium hilfreich sein sollte, die Selbstorganisationstheorien richtig zu verstehen, statt nur Schlagworte entnehmen zu können. Ende 1989 hatte ich mir dazu auch einen Doktorvater gesucht (ich hatte mich mit einem Vortrag zum Thema auch am „Wettstreit junger Philosophen“ beim letzten DDR-Philosophenkongress beteiligt)… aber dann kam mir die „Wende“ dazwischen.

es genügt nicht...

Ich habe mich dann trotzdem weiter mit diesem Thema beschäftigt, auch viel mit Freund_innen drüber gesprochen und wir haben dann auch unsere politische Arbeit unter nun kapitalistischen Bedingungen u.a. an den Erkenntnissen aus diesen Studien ausgerichtet (Suche nach und Aufbau von vernetzten Strukturen, in denen aktive Gruppen lediglich Knotenpunkte sind, statt neuer hierarchischer Strukturen, die wir schnell in der PDS und bei den meisten der westlinken Reststrukturen vorfanden…).

Inhaltlich wurde die „Bifurkations-Abbildung“ für uns wichtig, um unsere Vorstellung über Entwicklungsprozesse zu entwickeln.

Sie wurde zu einem „Bild“ für eine zeitliche Veränderungen, in deren Verlauf sich neue Grundqualitäten herausbilden. Das geschieht nicht irgendwie, sondern:
1. in sensiblen Phasen sehr schnell und durchgreifend (statt sich „nach und nach“ durchzusetzen), wobei
2. vor dem Umbruch nicht eindeutig festgelegt ist, welcher Entwicklungspfad betreten wird. Es gibt vorher eine Menge an „Möglichkeiten“, von denen aber nicht alle „am Bifurkationspunkt“ verwirklicht werden.
Letztlich gibt es da eine Offenheit, gleichzeitig  ist es aber vom Vorherigen bedingt, was überhaupt möglich (oder eben unmöglich) ist.

Als Akteure vor einem gewünschten oder gefürchteten Umbruch können wir nicht direkt eine Entscheidung über den künftigen Weg herbeizwingen, aber wir können auf die Wahrscheinlichkeiten der Möglichkeiten einwirken und natürlich auch im entscheidenden Moment der Bifurkation entsprechend agieren, wofür es das schöne Bild des „Schmetterlingsflügelschlags“ gibt (siehe „Schmetterlinge verändern die Welt“, das Pocahontas-Symbol und schließlich „Surfende Schmetterlinge…“).

Die Bifurkationsabbildung führt direkt ins Chaos, aber nicht in ein „totes“ Chaos (vergleichbar mit der zufällig-sinnlosen Brownschen Bewegung), sondern ein dynamisches, das von mir „turbulentes Chaos“ genannt wurde. Dieses Chaos birgt in sich eine faszinierende Ordnung, die in den Fraktalen sichtbar wird.

Seit damals ist auch bekannt, dass so etwas wie Leben und überhaupt die dynamischen Prozesse sich am „Rand des Chaos“ (edge of chaos), also im Bereich zwischen klar festgelegten „Attraktoren“ und dem Chaos weiter rechts im Bild, bewegen und sich auch selbst so stabilisieren, dass sie in diesem Bereich bleiben (darauf bezieht sich wohl auch der „Chaordismus“).

Die damaligen Texte von mir zeigen einerseits das (für mich/für uns) Interessante aus den Selbstorganisations- und Chaoskonzepten, andererseits versuche ich auch immer darauf aufmerksam zu machen, wo in diesen Konzepten etwas drin steckt, was eine direkte Übertragung auf Menschen und die Gesellschaft verbietet.

Ich selbst bin dann in den 90ern den Weg gegangen, die Entwicklungstheorie zu rekonstruieren unter Verwendung des neuen Wissens aus den Selbstorganisations- und Chaoskonzepten. Es entstand der erste Teil des Buches: „Dass nichts bleibt, wie es ist…„.

Es wurde schnell deutlich, dass ich die Methode aus diesem Buch für eine Betrachtung gesellschaftlicher Probleme nicht einfach übertragen kann, deshalb gibts auch einen zweiten Band, auch mit Bezug auf Selbstorganisation, aber etwas anders gelagert. (Bei der Arbeit an den Vorarbeiten fürs zweite Buch konnte ich dann schon das Internet nutzen, darüber lernte ich auch Stefan Meretz kennen, der mir die Kritische Psychologie nahe brachte, in der ich die Holzkampsche Entwicklungskonzeption kennen lernte, die sehr gut mit allem aus meinem ersten Band übereinstimmte und aus der ja das „Keimform-„Konzept stammt).

Ich stellte dann aber fest, dass die Selbstorganisations- und Chaostheorietexte irgendwie immer nur das Gleiche wiederholten, viele Leute das als neue Mode entdeckten und dabei aber meistens die Abstraktion aus diesen Konzepten (die dort dem Gegenstand angemessen ist, wenn man sie als „Allgemeintheorien“ betrachtet) in die Gesellschaftstheorie implementierten (wo sie eher schädlich ist).

Dass sich kapitalistische Unternehmer mehr für die Erkenntnisse aus den Selbstorganisationskonzepten interessierten als die eher alternativen politischen Akteure, musste ich dann auch feststellen.

Ich wandte mich nach 2000 eher den konkreteren Themen zu, einerseits in Form der Kritischen Psychologie nach Holzkamp bzw. konkret-utopischen Gesellschaftskonzepten und andererseits der dialektischen Philosophie direkt nach Hegel (und nicht mehr nur seinen Interpretatoren aller Coleur).

Inzwischen gibt es auch in den abstrakten Theorien spannende neue Ergebnisse, die fallen i.a. unter den Titel „Komplexitätstheorie“. So etwas wie Selbstorganisierte Kritizität spielt da eine Rolle oder auch die Schwarmintelligenz.

Diese Erkenntnisse sind natürlich auch schon einfach für sich betrachtet sehr interessant, aber in meinem Kopf läuft natürlich immer auch eine Schleife mit der Frage, wie sich das für die Themen der gesellschaftlichen Selbstorganisierung „anwenden“ ließe. Und darüber dann noch die Metaebenen-Schleife, mit der Frage, wo ich in methodische Kurzschlüsse verfalle, wenn ich zu voreilige Analogieschlüsse ziehe. Das alles erfordert eigentlich mehr Konzentration, als ich grad aufbringen kann. Aber ich könnte mir gut vorstellen, dass wir z.B. mal wieder ein (selbstorganisiertes) Wochenendseminar in der Zukunftswerkstatt durchführen, wo wir das zum Thema machen.

Und ein paar Blogberichte werden sicher auch entstehen. Wer mag, kann mich ja schon mal mit Links und Literaturhinweisen zu dieser Thematik füttern…