Jemand hatte mich nach meinen Texten zum Alter(n) (insbesondere zur „Utopie des Alter(n)s“) auf das Buch „Schöne Aussichten fürs Alter“ von Dorette Deutsch aufmerksam gemacht (danke für den Tipp ;-)). In diesem Buch versammelt sie Reportagen aus der Welt des Alterns. Sie beginnt mit der Vorstellung eines gelungenen Modellprojekts und alle anderen Berichte werden von dieser Perspektive der verwirklichten Utopie her beleuchtet.
Lange leben, aber bloß nicht pflegebedürftig werden!
Jede/r will lange leben, aber niemand will wirklich richtig alt werden. „Richtig alt“ sind jene, die da vor sich hinvegetieren im Rollstuhl, angebunden und mit voller Windel darauf hoffen, dass der ruppige Nachtdienstpfleger heute nicht wieder an derselben Stelle so hart zupackt wie gestern. Auch die alltagsgestressten Besuchsverwandten sehen ein, dass mit zwei Pflegekräften für den ganzen Flur nicht mehr zu machen ist…
Und gleich gar nicht darf man irgendwo weit draußen auf dem Dorf wohnen, wobei „weit draußen“ für kaputte Knie und Hüften jeder Ort ist, der keinen Dorfladen mehr hat und nicht regelmäßig mit dem Bus abgeklappert wird – also fast jeder. Die jungen Leute sind längst weg, den Jobs hinterher. Die alten wursteln noch eine Weile im alten Haus, sie sind es ja gewohnt, sich durchzubeißen. Irgendwann stolpern dann doch die meisten und sehen das Zuhause nach dem Krankenhausaufenthalt nie mehr wieder.
Wer viel Glück hat, wird von einer Angehörigen gepflegt, derzeit wird noch 70% aller Pflege privat geleistet. Angesichts der steigenden Zahlen von immer älter und kränker und dementer werdenden Leute wird viel getan im Pflegesystem, aber, so konstatiert in einem Bericht aus dem Buch von Dorette Deutsch der Pflegeexperte Claus Fussek, das System ist „längst kollabiert“. In vielen Heimen werden nicht mal Forderungen des Tierschutzgesetzes zur Fürsorge für ein lebendes Wesen erfüllt. Abgesehen von der Frage, welche Pflege für welchen finanziellen Aufwand überhaupt bezahlbar ist, gibt es systemische Strukturfehler: So hat jede Pflegeeinrichtung ein Interesse an hohen Pflegestufen, weil es dafür mehr Geld gibt – was natürlich im Einzelfall dazu führt, dass sich eine Verbesserung des Pflegezustands „nicht lohnt“. Diese Logik setzt sich fort für Krankenhäuser wo ein Arzt zugab: „Ja, wenn wir ehrlich sind, ist jeder Dekubitus insgesamt für uns ein Wirtschaftsfaktor.“
„Unabhängig von der Familie und trotzdem nicht allein“
Aber es geht auch anders, dies zeigt das Beispiel Tiedoli. Das Projekt wurde maßgeblich vorangetrieben durch einen Akteur, Mario Tommasini, der in den 60er Jahren auch zu den Aktivisten der Psychiatriereform gehörte. Nach der Abschaffung der Psychiatrien sollen nun auch andere Einrichtungen abgeschafft werden, in denen Menschen nicht selbstbestimmt leben können -wie Altenheime. Inzwischen wird das Projekt in Tiedoli getragen von einer Vielzahl von Akteuren: den Dorfbewohnern, der Kommune, dem Altenheim, der Gesundheitsbehörde, der Pfarrei und konkret organisiert über einen Unterstützertreff (Circolo).
Es wäre eigentlich falsch, das Modellprojekt in Tiedoli ein “Altersprojekt“ zu nennen. Denn in ihm wird der Zusammenhang der neuen Wohnformen fürs Alter, eines Wirtschaftsaufschwung für die Jungen und der Wiederbelebung der Dörfer verwirklicht. Die Besonderheit dieses Projekts „nach außen“ besteht darin, dass das Altenwohnprojekt als „Knotenpunkt“ für diese umfassende Belebung gilt und die Besonderheit nach „innen“ ist insbesondere, dass ganz spezifische individuelle Lösungen im Alltagsablauf und der Zuordnung der Pflege gefunden werden und auch im hohen Alter und bei hohem Pflegeaufwand ein Leben „nach persönlichen Bedürfnissen“ möglich ist.
Die materielle Grundlage des Projekts wurde durch den spendenfinanzierten Kauf von leerstehenden Häusern in dem idyllischen, aber bisher langsam verfallenden Bergdorf Tiedoli geschaffen, für die Sanierung gabs einen Kredit durch die Sparkassenstiftung, so dass die Miete und der Grundbeitrag für die Pflege durchaus günstig zu finanzieren sind. Die Betreuung und Grundpflege wird durch Mitglieder einer Genossenschaft realisiert, zusätzlich können für Schwerstpflegebedürftige noch Pflegekräfte eingestellt werden.
Notwendiger Wandel auf verschiedenen Pfaden
Angesichts dieser offensichtlichen Machbarkeit von utopisch erscheinenden Lebensbedingungen für Alte wäre nur zu wünschen, dass solche Projekte sich schnell verbreiten. Die Notwendigkeit ist offensichtlich. Nicht nur quantitativ steigt die Anzahl der einsamen oder pflegebedürftigen alten Menschen, sondern die „neuen Alten“, die in ihrem Leben insb. seit ´68 stärkere Individualisierungsschübe leben durften, erwarten auch neue Qualitäten ihres Lebensabends. Der Notwendigkeit eines grundlegenden Wandels des Alten- und Pflegesystems kommen, insbesondere aus der Perspektive von Tiedoli, auch neue Möglichkeiten entgegen: eigentlich ist in vielen Regionen alles vorhanden für einen Ausweg aus dem privatisiert-isolierten Pflegenotstand: leere Häuser und Menschen ohne Job mit viel Zeit und einem Mangel an sinnvollen Aufgaben. Ich kann mich noch erinnern, dass wir vor ca. 10 Jahren bei einer Zukunftswerkstatt über die Zukunft der Region Sachsen-Anhalt witzelten, dass „wir das Seniorenheim Deutschlands“ werden könnten. Wir hätten nicht gedacht, dass so etwas inzwischen ernst genommen wird. Die Realität ist inzwischen „utopischer“ als unsere Utopiephase bei der Werkstatt.
Wie wird sich nun also der Umgang mit dem Alter entwickeln? Tiedoli steht für die Utopie der kooperativ organisierten Selbstbestimmung. Warum entstehen nun aber nicht dutzende, hunderte Tiedolis in Europa? Der vorherrschende Haupttrend weist in eine andere Richtung: Es werden mehr und mehr durchkommerzialisiert betriebene Seniorenresidenzen gebaut. Einer meiner Kollegen denkt darüber nach, sein Geld künftig in solchen Objekten anzulegen, da das zukunftsträchtig und eine sichere Geldanlage sein wird. Die Crux dieses Weges ist aber: Noch haben wir, vor allem im Westen Deutschlands, recht zahlungskräftige Senior_innen. Was passiert, wenn die Generation der Massenarbeitslosen, der prekär-Verdienenden ins Alter kommt? Denen schenkt sicher keiner das Geld für die Residenz, sondern diese werden den Gutverdienern vorbehalten sein, während durch das zerrissene Solidarnetz alle anderen fallen und genau so vor sich hin vegetieren, wie jetzt die alten Menschen in vielen Armenhaus-Ländern der Welt. Niemand soll hoffen: „Das können die doch nicht machen!“ – es wird so geschehen, wenn keine Alternativen entstehen.
Welche Akteure stehen denn für welche der geschilderten alternativen Tendenzen? Wer hat Interesse am Bau von Altenheimen als Profitquelle? Wer braucht hohe Pflegestufen für die Finanzierung? Auch für Angehörige, die sich dem allgegenwärtigen Alltagsstress aussetzen müssen, ist die derzeitige Praxis der Pflegeheime, an denen man sich höchstens finanziell beteiligen muss, bequemer als sich an der kooperativen Selbstorganisation beteiligen zu müssen (da nehme ich mich nicht aus). Auch fürs Pflegepersonal erscheint ein routinierter „Dienst nach Vorschrift“ in den Heimen derzeit wohl das beste Machbare. Welche Verhältnisse führen dazu, dass solche Akteursinteressen so viel Durchgriff auf unser aller Leben haben?
Wenn wir uns auf einen weiteren Horizont ausrichten, dann haben zumindest all jene mit keinem großen Konto als Angehörige und erst recht (eher oder später) Betroffene und letztlich auch die meisten Pflegenden durchaus ein tiefes Interesse an einer grundlegenden Umgestaltung der Pflege: Weg von geschäftlichen Beziehungen, bei denen Geld manches ermöglicht, aber (das in einer profitgetriebenen Wirtschaft immer zu knappe Geld) mehr und mehr ausschließt und verunmöglicht – hin zu kooperativer Selbstbestimmung und -gestaltung.
- Literatur: Dorette Deutsch (2006): Schöne Aussichten fürs Alter. Wie ein italienisches Dorf unser Leben verändern kann. München, Zürich: Piper.
- o Bild aus http://www.lebenohnestress.de/bericht/sites/tiedoli/tiedoli.html
Februar 14, 2013 at 8:07 am
Dörfliche Feste und lokale Traditionen wiederzubeleben, lautete das nächste Ziel. Denn die machten schon immer einen wichtigen Teil des Soziallebens in Tiedoli aus. Bis in den Herbst hinein, freut sich Claudio Ochi heute, ist es unmöglich, Tiedoli zu verlassen, weil ein Fest auf das andere folgt. Auch neu hinzugezogene Familien werden heute über die dörflichen Feste und ihre Vorbereitung – die bis zum gemeinsamen Bau einer Waldhütte oder Grillstätte reichen kann – in das Dorfleben integriert. Willkommene Begleiterscheinung ist es, dass dörfliche Traditionen am Leben erhalten bleiben. Es gibt ein Fest zu Ehren des Dorfheiligen ebenso wie Erntefeste oder sportliche Ereignisse. Über die gemeinsam erlebten Feste und ihre Vorbereitung ist ein wichtiges Zugehörigkeitsgefühl zum Ort entstanden. Auf dem Land kann das über Feste und Traditionen, in der Stadt das gemeinsame Erleben von kulturellen Ereignissen geschehen.