Glücklich ist, wer als älter werdender Mensch schon immer das richtige Konzept hatte, um die ganz Jungen zu verstehen. Der Netzwerkphilosoph Michel Serres kann deshalb auch mit über 80 der neuen vernetzten Generation eine „Liebeserklärung“ widmen. Er braucht um seine Autorität als Hochschullehrer nicht (mehr?) bekümmert sein, sondern er wird sogar zum begeisterten Sprachrohr derer, die mit ihrem Schwätzen das frühere Schweigegebot für die Belehrten durchbrechen.
Für mich als nicht akademisch integrierte „freischaffende“ Denkerin und Bloggerin muss das Bild mehr als sympathisch sein, das Serres am Ende seines Essays „Erfindet euch neu!“ formuliert: Gegenüber dem Eiffelturm, der das alte Gesellschafts- und Wissensgebäude darstellt, will er ein Feuer entzünden oder einen Baum pflanzen, und im Gegensatz zum eisenstarren Turm soll dieses Gebilde sich von Tag zu Tag wandeln.
Wie die Kultur, so verändern sich mit ihr sogar die Körper der Menschen, vor allem der jungen:
„Die Kinder haben sich also im Virtuellen eingerichtet. Wie die Kognitionswissenschaften zeigen, aktivieren die Nutzung des Internets, das Leben und Schreiben von Nachrichten mit dem Daumen, der Besuch von Wikipedia und Facebook nicht die gleichen Neuronen und Hirnregionen wie der Gebrauch von Büchern, Tafeln, Heften. Sie können mehrere Informationen zugleich aufnehmen. Sie erkennen, verarbeiten, synthetisieren sie anders als wir, ihre Vorgänger. Sie haben nicht mehr den gleichen Kopf.“
Sie sind kleine Däumelinchen geworden, deren Privileg es ist, nicht mehr stillsitzen und zuhören zu müssen. Wissen hat als Tugend abgedankt, dafür gibt’s Computer. Serres verfolgt sein Konzept des kulturellen Funktionswechsels konsequent. In der Evolutionstheorie ist der Funktionswechsel auch dadurch bekannt, dass vorhandene Strukturen oft mehrere Funktionen erfüllen können und wenn eine durch die Evolution nicht mehr gebraucht wird, kann die Struktur für neue Funktionen bereit stehen. (Teile des Kiefergelenks bei Reptilien wurden beim Säugetier zurück gebildet, andere Teile gingen nicht etwa verloren, sondern wurden zu Teilen des Gehörs). (vgl, Schlemm 1996: 111, 144) Dies gilt auch für kulturelle Entwicklungen: Bücher haben einst das Auswendiglernen unnötig gemacht. Jetzt braucht man nicht mal mehr zu wissen, wo was steht – die Suche danach übernehmen Suchmaschinen.
Das alte, undemokratische Bildungswesen hat sich damit gleich mit erledigt. Bisher mussten Lernende den Lehrenden schweigend zuhören. Aber das ist vorbei, die Däumelinchen dürfen selber schwätzen. Das Wort „Schwätzen“ wird hier tatsächlich im positiven Sinn verwendet.
Auch die überkommenden Wissensordnungen sind zu stürzen. Alte Klassifizierungen sind aufzubrechen, Platz für kreatives Chaos muss her. Serres vergleicht diese Öffnung gegenüber dem Disparaten mit der Umstrukturierung der Kaufhäuser. Aus wohlgeordneten Regalen wurden Labyrinthe:
„Und obwohl sie nur etwas Lauch für die Bouillon brauchte, kaufte Däumelinchens Großmutter, durch diesen alles andere als planlosen Zufall genötigt, die Abteilung mit den Seidenwaren zu durchqueren, zu ihrem Gemüse doch noch das eine oder andere Wäschestück.“
Strenge Strukturen verhindern demnach ein „unverhofftes Finden“ (= Serendipität). Wie bei den Kaufhäusern sollten nun auch in der Wissenschaft die Abteilungen durcheinandergewürfelt werden. Physik soll neben die Philosophie, den Linguisten sollen die Mathematiker vor die Nase gesetzt werden.
Dabei entsteht dann – hoffentlich – eine „neue Vernunft“. Diese streift die Abstraktionen ab, die früher notwendig waren, um unendliche Aufzählungen von Merkmalen abzukürzen.
„Brauchen wir sie noch? Unsere Maschinen laufen mit solcher Geschwindigkeit, daß sie das Besondere unbegrenzt aufzählen und bei der Originalität innehalten können. […] Die Suchmaschine kann, zuweilen, die Abstraktion ersetzen.“
Damit könnte für die Wissenschaften ein neuer Paradigmenwechsel vor der Tür stehen. Nicholas A. Christakis (2012) ruft z.B. eine „Neue Sozialwissenschaft für das 21. Jahrhundert“ aus, bei dem das vernetzte Verhalten der Menschen „gemappt“ wird, anstatt nach sozialen Gesetzmäßigkeiten suchen zu müssen. Die Analyse der Datenschatten in den Big Data, das „web harvesting“, soll letztlich Informationen über die Menschen zutage fördern, die ihnen selbst gar nicht bewusst sind. Dieses Wissen soll das Verhalten der Menschen nicht nur simulieren, sondern direkt der politischen Einflussnahme dienen (in Form der Selbststeuerung eines „globalen Nervensystem“ werden die Entscheidungen den Individuen entzogen) (vgl. FuturCT Outline).
Bei der den Text von Michel Serres ergänzenden Information, die ich beim Lesen im Hinterkopf hatte, wird vielleicht auch deutlich, warum ich mich beim Lesen nicht ganz der Begeisterung hingeben konnte.
Der Unterschied zwischen Daten, Information und Wissen geht bei Serres verloren.
„Wie viele Onkologen würden zugeben, in den Blogs von Frauen, die an Brustkrebs erkrankt sind, mehr gelernt zu habe als in ihren Studienjahren? Die Spezialisten für Naturgeschichte können nicht mehr ignorieren, was die australischen Farmer online über das Verhalten der Skorpione […] sagen.
Heute weiß jeder Kleine Däumling von der Straße glänzend Bescheid über Atomphysik, Leihmütter, genmanipulierte Organismen, Chemie, Ökologie. […] Es gilt die Kompetenzvermutung.“
Es scheint keinen Unterschied mehr zu geben zwischen Gerüchten, Meinungen, Fakten und Wissen. Natürlich ist es herrlich, dass niemandem der Mund verboten wird, dass alle sich frei verfügbare Informationen und letztlich auch Wissen aneignen können. Manche Kathedergelehrten sollten da auch alleine stehen gelassen werden. Trotzdem würde ich mich bei vielleicht 90% aller im Web herumschwirrenden Meinungsäußeren nicht dazu hinreißen lassen, Kompetenz zu vermuten.
Und: Können sich die brustkrebskranken Frauen wirklich so ganz ohne medizinische Erfahrung und Wissen alleine heilen? Braucht es niemanden mehr, der sich ganztägig lebenslang in die Naturgeschichte hineinarbeitet, weil die Faktensammlungen der australischen Farmer irgendwo im Netz gespeichert sind? Reicht es für die Bestätigung der Kompetenzvermutung aus, Suchmaschinenergebnisse mittels Copy und Paste abschreiben zu können?
Was macht der vom Datenspeichern und Informationssammeln entlastete Kopf? Welche wirklich neuen Fähigkeiten erfindet er sich? Wozu wurde er befreit?
Solange Däumelinchen nur gedankenlos daherschwätzt und den Big-Data-Bossen die wirklich wichtigen Entscheidungen überlässt, dient die Liebeserklärung von Serres nur der Verschleierung von komplexen Machtverhältnissen, die übers Reden hinausgehen. Das wiederum ist systematisch eingeschrieben in Konzepte, die sich auf Kommunikation beschränken, statt gegenständlich-praktische gesellschaftliche Verhältnisse zu behandeln.
Trotzdem gibt es in der Kommunikationswelt Vorscheinendes, das bedeutsam ist.
„Weit davon entfernt, die Logistik pyramidal zu organisieren, über Gefälle und Komplexitätsreduktion, die durch zusätzliche Regulationsebenen die Komplexität steigert, lassen sie die Kleinen Däumlinge in Echtzeit ihr eigenes Tun organisieren. Leichter bemerkte und behobene Pannen, rascher gefundene technische Lösungen, gesteigerte Produktivität sind die Folge.“
Diese neuartigen Kooperations- und Organisationsformen wachsen ins Fleisch der gesellschaftlichen Reproduktion. Schon sind auch kapitalistische Unternehmen angehalten, diese Verhaltensweisen in ihre Praxis zu implementieren. „Enterprise 2.0“ soll die soziale Vernetzung und ihre kreativen wie produktiven Potenzen aus der Freizeitwelt ins Unternehmen holen.
Ich hatte mich gerade verschrieben. Statt „Freizeitwelt“ rutschte „Freiheitswelt“ aus meinen Fingern. Das war wahrlich ein freudscher Verschreiber. Wer je erleben musste, wie es sich anfühlt, den Widerspruch zu leben, der sich aus der Forderung ergibt „Tut, was ihr wollt, aber ihr müsst profitabel sein!“ (Glißmann 1999:151), weiß, dass es uns zerreißen kann. Serres beschreibt nur die eine Seite von Däumelinchen. Er verschweigt, dass sie immer noch profitabel sein muss, dass sie nicht mal von Hartz IV in Ruhe leben kann. Sie hätte nie Zeit, sich ausführlich mit medizinischen Fragen zu beschäftigen oder mit Naturgeschichte, um vom Copy-and-Paste-Niveau zu wahrer Kompetenz in diesen Fragen zu gelangen. Deshalb darf sie nie darauf kommen, dass es mehr zu wissen gäbe, als die Ergebnisse von Suchmaschinen zu überfliegen.
Eine Liebeserklärung kann auch eine Entmündigung sein!
Literatur:
- Christakis, Nicholas A. (2012): A New Kind of Social Science for the 21st Century. (abgerufen 2013-06-18)
- Glißmann, Wilfried (1999): Die neue Selbständigkeit in der Arbeit und Mechanismen sozialer Ausgrenzung. In: Herkommer, S. (Hrsg., 1999), Soziale Ausgrenzungen. Gesichter des neuen Kapitalismus, Hamburg: VSA.
- FuturICT: FuturICT Outline (abgerufen 2013-07-07); vgl.hier;
- Serres, Michel (2013): Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation. Berlin: Suhrkamp 2013
- Schlemm, Annette (1996): Daß nichts bleibt, wie es ist… Teil I. Münster: LIT-Verlag 1996.
November 3, 2013 at 1:22 pm
[…] Generation Däumelinchen […]
August 14, 2015 at 9:26 am
[…] Ich habe jetzt lange genug darüber gejammert, was durch die digitale Kultur alles verloren zu gehen scheint. Jetzt schaue ich mich mal in diesen neuen Kulturen um, wenigstens im Teilbereich der digitalen Spiele (zum Internet habe ich schon woanders geschrieben, siehe auch hier). […]