Das Buch ist schon etwas älter, aber das Thema wird immer aktueller: Wie verändert sich die Arbeitswelt, welche neue Möglichkeiten gibt es, ohne den Zwang und die Sicherheit einer Festanstellung „so [zu] arbeiten, wie man leben will, und trotzdem ausreichend Geld damit [zu] zu verdienen“?
Holm Friebe und Sascha Lobo nannten ihr 2006 erschienenes Buch „Wir nennen es Arbeit“. Diese Arbeit, die sie meinen, hat nichts mit Mühe, Beschwernis und Leiden zu tun, welche in der Wortbedeutung (arebeit) stecken.
Es geht um eine neue Art, sein Leben durch bezahlte Tätigkeiten zu sichern, ohne fest angestellt zu sein. Es geht um eine Art „schweifende Existenzsicherung“ durch das Knüpfen vielfältiger Kontaktnetze, aus denen sich bezahlte Brotjobs ergeben, die andere und weiterführende Projekte mitfinanzieren. Reden sie sich damit ihre eigene Prekarität nur schön? Man muss sie auf jeden Fall ernst nehmen als Ausdruck eines anscheinend meist erfolgreichen Umgangs mit den neuen Realitäten in der Arbeitswelt: Es wird weniger bezahlte Arbeitsplätze geben, auch im Dienstleistungsbereich. Und es gibt immer mehr technische und häufig auch lokale Möglichkeiten, selbstbestimmt Produkte und Dienstleistungen zu erstellen und damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Autoren wollen das jenen, die es nicht möchten, auch nicht aufzwingen. Sie berichten aber von einem anderen Leben. Sie artikulieren die Erfahrung der Neugierigen, der Offenen, der Pioniere.
Sie gehen nicht auf Konfrontationskurs zum real existierenden Kapitalismus. Gegenüber den normalen Lohnarbeitsbedingungen gehen sie in eine „pragmatische, keine ideologisch motivierte Verweigerung“. Das Wichtigste ist ihnen, dass die Arbeitsbedingungen selbstbestimmt sind.
Während in der Konsumwelt die Auswahl und die Möglichkeiten der Selbstbestimmung anscheinend riesig groß sind, bieten die Lohnarbeitsplätze meist nur Überanstrengung und Frust. Auch wo in den fortschrittlichsten Unternehmen die Kreativität der Arbeitenden gefördert und gefordert wird, soll sie doch nur als „Ressource für die Profiterzeugung“ dienen (G. Voß wird zitiert).
Aber es geht auch anders: Die Autoren verwenden als allgemeine Bezeichnung für die neuen selbstständigen und selbstbestimmten Arbeitsformen die „Digitale Bohéme“. Diese ist gekennzeichnet durch „neue alte Formen non-hierarchischer Vernetzung und Kooperation“.
„Was die Bohème in ihrem historischen Kern ausmacht, sind nicht die Äußerlichkeiten, sondern ist eine selbstbestimmte Lebensweise in einer informellen Gruppenstruktur, die immer auch eine Arbeits- und Produktionsweise ist und sich nur sehr bedingt mit einem Festanstellungsverhältnis verträgt.“
Das Internet dient als „Schlüsseltechnologie“, die es ermöglicht, sich als eigenständiger Produzent auch die Vermarktungskanäle anzueignen und die verschiedene Tätigkeitsformen koppelt, bei denen die Aufmerksamkeit von einem Feld (durch kostenlose bereitgestellte kreative Leistung) mit einen bezahlten Markt verbunden wird.
„So viel für Geld arbeiten wie nötig, so viel in Respektnetzwerke investieren wie möglich.“
Dabei entspricht auch die Arbeits- und Organisationsweise dem Aufbau des Internets. Die digitale Bohéme arbeitet und denkt so, „wie das Internet aufgebaut ist, non-hierarchisch, in assoziativen und spontanen Netzwerken und mit vielen Verlinkungen“.
Mir will immer noch nicht einfallen, welche aufmerksamkeitsheischenden Attraktivitäten ich ins Internet stellen könnte, damit ich damit irgendwie auch Geld verdienen kann (;-)), aber mich interessiert dieser Trend aus anderen Gründen:
Andere Autoren beschreiben die Digitale Bohéme von Friebe und Lobo als „Independents“ und schreiben über sie:
„Die Independents sind dabei, ein hochgradig auf Zusammenarbeit angelegtes, kooperatives und vernetztes Modell der Zukunft zu entwickeln, das zeigt, wie auch andere Sektoren in Zukunft organisiert werden können.“
Die sich selbständig vernetzende Kooperation auf Basis des Internets braucht nicht auf Softwareprodukte beschränkt zu bleiben („Freie Software“), auch nicht auf digitale Kulturgüter („Freie Kultur“), sondern die Do-it-yourself-Praxis kann auch für die Produktion stofflicher Güter eingeführt werden, sofern die Produktionstechniken nicht mehr auf großen Fabrikfließbändern beruhen, sondern High-Tech-Manufakturen ermöglichen. Während ich dies schreibe, läuft im Fernsehsender 3-Sat eine große Dokumentation darüber, „wie der 3D-Druck unsere Welt verändert.“ Hier wird nicht nur die Technik vorgestellt, sondern auch konstatiert: „Unser Wirtschaftssystem wird sich ändern.“
Im Wiki der „Zukunftswerkstatt Jena“ gibt’s entsprechende Beiträge dazu . Wir haben schon lange interessiert verfolgt, wie sich die Wechselbeziehung zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen weiter entwickelt. Da gibt es deutliche Trends, deren Ausgestaltungsform noch offen ist, die Gestaltungskämpfe mit sich bringen, und die Möglichkeiten eröffnen für wahrhaft kommunistische Produktionsverhältnisse.
So weit träumen oder planen Friebe und Lobo nicht, nichtsdestotrotz sprechen auch sie von der „Demokratisierung der Produktionsmittel“ und von „Netzwerken frei assoziierter Prosumenten“. Sie wollen nicht zu viel versprechen, aber sie blicken in die Zukunft:
„Die digitale Bohème ist und hat keine Lösung für alle Probleme der Gesellschaft, aber sie hat vielleicht ein paar Antworten auf Fragen parat, die in Zukunft noch weitaus größere Teile der Bevölkerung beschäftigen werden.“
November 17, 2013 at 7:33 pm
vergleiche mal Deine Überschrift mit Deinen Zitaten 😉
November 17, 2013 at 7:45 pm
Auf fast jedem neuen Buch, das ich in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten zur Hand nahm, stand, dass dies die Lösung aller Probleme zum jeweiligen Thema enthalte.
Am Ende des vorigen Jahrtausend hieß es, die alten (polit-)ökonomischen Gesetze gelten nicht mehr, und in den meisten IT-Firmen glaubte man, auf „Schnickschnack“ wie Betriebsräte verzichten zu können. Das Ende auch dieser Nebelbombenwerferei (andere sind die Volksaktien und die Macht der Manager statt der Aktionäre) ist bekannt.
Weshalb soll hier die IT-Industrie ein neues Paradigma hervor bringen??
November 18, 2013 at 6:08 pm
Eine Lösung aller Probleme wird in dem Buch nicht versprochen.
Es werden aber neue Trends geschildert, die die Arbeitswirklichkeit für nicht alle – aber auch nicht mehr vernachlässigbar wenige verändern.
Diese Trends sind Bewegungsformen der derzeitigen Widersprüche, also nicht „nur gut“ oder „nur schlecht“. Auf jeden Fall zeigen sie, welche Lösungen doch einigermaßen interessant viele Menschen für sich finden, um sich durch die derzeitige Lebenswelt durchzuschlängeln. Da unsere Kinder zu der Generation gehören, die damit grad anfängt, verschiebt sich auch die Sicht ein wenig. Wenn meine Tochter heut als Studentin „was dazu verdient“, kann das fast mit größerer Wahrscheinlichkeit in so ein ständiges Projekte-Leben führen als zu einer ordentlichen Festanstellung.
November 17, 2013 at 7:55 pm
Die IT-Industrie bringt folgendes neues Element hervor:
– Beim Grundbesitz ist die Menge der Herrschaft gebenden Güter durch die Größe der Erdoberfläche für die Landwirtschaft begrenzt;
– Im Kapitalismus ist die Menge der Herrschaft gebenden Güter durch die Größe der Erdoberfläche für die Aufstellung von Fabriken begrenzt;
– Im Finanz-Kapitalismus scheint die Menge der Herrschaft gebenden Güter unbegrenzt zu sein – dass die Loslösung von den materiellen Gütern dauerhaft funktioniert, ist allerdings noch nicht erwiesen;
– Software scheint unbegrenzt produzierbar, jedenfalls verdirbt sie nicht wie Eisen durch Rost…
November 18, 2013 at 6:10 pm
Kritisch-politökonomisch wird das Besondere dieser Ökonomie wahrscheinlich durch „Informationsrente“ oder auch „Kulturrente“ erklärt. Das ist ein weites Thema, ich hab schon mal einiges dazu aufgeschrieben, aber noch nicht veröffentlicht.
November 17, 2013 at 10:02 pm
Nur eine Frage: Für wie viele funktioniert es ihr Leben wie beschrieben und ohne „mit Mühe, Beschwernis und Leiden zu tun [zu haben]“ zu organisieren? Und da reden wir ‚mal nicht von den 40 Arbeitsjahren, die auch noch nach einem Studium drin wären. Ich möchte nur wissen für wie viele es im Zeitraum 1998 bis 2013 funktioniert hat. 1998 war das Goldrauschalter des Internets bereits seit einiger Zeit in vollem Gange und und die Kaffeehäuser in Berlin voll mit Bohémen die glaubten, dass von dort die nächste technische Revolution ausgehen wird.
Inzwischen gibt es zwar keine nennenswerte neue soziale Schicht der „Digitalen Bohéme“; dafür sind selbst angesehene Harvard-Ökonomieprofessoren ratlos, wenn das Thema darauf kommt, wie die infolge der rasanten Automatisierung wegfallenden Arbeitsmöglichketen kompensiert werden können. Da kann unser Sascha schon ‚mal anfangen zu überlegen, wie seine Ideen im großen Maßstab realisiert werden könnten, nachdem es bisher im Wesentlichen nur im Laborversuch für einige Autoren funkioniert.
November 18, 2013 at 6:14 pm
Mir begegnen in meinem normalen off- und online-Leben von Jahrfünft zu Jahrfünft mehr Menschen, für die es „funktioniert“. Das will nicht sagen, dass ich denke, in noch einigen Jahren würden alle so ihr Geld verdienen. Das behaupten auch Friebe und Lobo nicht.
Aber mal ehrlich: für wie viele reale Menschen hat denn zu Marxens Leben das Lohnarbeiterleben „funktioniert“? Das ging doch damals auch erst los, aber Marx hat genau da hin geschaut, wo was losging.
Was hier losgeht, ist die selbstbestimmt-vernetzte Kooperation, wie bei der Freien Software. Natürlich gibts Geld erst mal nur für „profitabel verwertbare“ Anteile. Aber es geht um die produktiv-kooperativen Fähigkeiten und Bedürfnisse als Kern der Produktivkräfte, die hier neue Qualitäten zeigen.
November 19, 2013 at 6:22 am
Hat dies auf Walter Friedmann rebloggt.