Eine Möglichkeit, mir und meinen mich selbst behindernden Selbstkonstruktionen auf die Schliche zu kommen, entwickelte Frigga Haug mit der sog. „Erinnerungsarbeit“. Erinnerung zeigt nie „wie es wirklich war“, sondern sie ist konstruiert, sie ist durch die herrschende Meinung, den eigenen Widerstand und verschiedene Nahelegungen gegangen. Sie ist jedoch ein „Material, das uns erlaubt, die Archäologie unserer gesellschaftlichen Selbstformung zu studieren.“ (Haug 2003: 229)
Frigga Haug arbeitete jahrelang mit ihren Studentinnen mit dieser Methode. Gleichzeitig war sie zuerst unwillig, die Methode als solche zu stark festzulegen. „Dies widerspricht im Grunde meiner Vorstellung, den Prozess methodisch offen zu halten und so einen Freiraum zu lassen für innovatives Eingreifen.“ (Haug 1999: 7)
Wichtig sind folgende Prinzipien:
- Subjektivität: Alle Teilnehmenden sind forschend und selbstreflexiv tätig, alle interessieren sich füreinander. Ein gemeinsames Ziel, bzw. ein Thema bündelt das Interesse und die Vielzahl wird als Bereicherung genutzt.
- Selbstreflexion (in Ziel und Methode): Es wird eine Haltung zu sich selbst eingenommen, die sich in Frage stellen kann und das Selbst nicht „als natürlich gegeben“ hinnimmt.
Als fehlleitende „Falle“ wird eine eher therapeutisch-selbsterfahrungsorientierte Gesprächsführung betrachtet: „therapeutische Mitleidsdiskurse… stehen der Erkenntnis im Wege“ (Haug 1999: 212). Eine Möglichkeit zur Vermeidung solcher Gespräche sind die Verfremdung und verschiedene Distanzstrategien. So wird konsequent über Texte gesprochen und nicht über Personen. Die Beteiligten schreiben bestimmte, thematisch bedeutsame Erlebnisse auf (in den frühen Uniseminaren in Tagebuchform, auf dem von mir erlebten Wochenendseminar als Text über ein bestimmtes Erlebnis). Danach werden diese Texte in Gruppen analysiert. In der Sprache zeigen sich oft innere Überzeugungen, die die oder der Schreibende so nicht vertreten wöllte. Wir sahen das in unserem Seminar oft daran, dass eine Person sich als aktiv, stark und selbstbestimmt darstellen wollte und die Momente, in denen das nicht gelang, unter diesen Bedingungen vielleicht auch gar nicht gelingen konnte, waren dahinter versteckt und verleugnet. An bestimmten Sprachstrukturen (passivistische Formulierungen) konnte die Widersprüchlichkeit im Text jedoch nachgewiesen werden. Es wird aktiv nach Leerstellen und Widersprüchlichkeiten gesucht, die zeigen, wo etwas konstruiert ist.
Für diese Analyse ist jedoch ein bestimmtes Vorwissen notwendig. Wenn man mehr Erfahrungen mit der Analyse solcher Texte hat, wird man schnell immer wiederkehrende Sprachmuster erkennen, die sehr aufschlussreich sind. Problematisch kann das dann werden, wenn nur einzelne Teilnehmer*innen diese Kenntnisse und Erfahrungen mitbringen und die Autor*innen sich als Person „entlarvt“ fühlen könnten.
Außerdem muss in vielen Gruppen erst bewusst darauf hin gearbeitet werden, dass die jeweils anderen nicht als Konkurrenten oder Feinde wahrgenommen werden, sondern eine Atmosphäre entsteht, in der die Erkenntnis möglich ist, dass es anderen „genau so geht wie mir“. Die Anderen werden dann als Bereicherung erfahren (Haug 2003: 174) und nicht als Bedrohung. Dann kann „gemeinschaftliche Selbstentfaltung“ (ebd.: 173) geschehen.
Literatur:
Haug, Frigga (1982): Erinnerungsarbeit und die Langeweile der Ökonomie. In: Frigga Haug (2001): Erinnerungsarbeit. Hamburg: Argument-Verlag. S. 42-83.
Haug, Frigga (2001): Erinnerungsarbeit. Hamburg: Argument-Verlag.
Haug, Frigga (2003): Lernverhältnisse. Selbstbewegungen und Selbstblockierungen. Hamburg: Argument-Verlag.
März 2, 2016 at 6:39 pm
Diese Art der Erinnerungsarbeit, die Du beschreibst und die wohl von Frigga Haug mal entwickelt und mehrfach ausprobiert wurde, klingt wirklich spannend. Konnte sie es tatsächlich so machen, ohne dass sie als „Leiterin“ als Guru, als Allwissende gesehen wurde?
Nur die Erkenntnis, dass es anderen genauso geht wie mir, reicht für meine Begriffe nicht aus. Das kann vielleicht der Anfang für einen solchen Prozess sein. Der Anfang eines Vertrauens. Aber wie wird einerseits sichergestellt, dass ich mit meiner Geschichte nicht ins Hintertreffen gerate, wenn andere sich als die „Besseren“, als die „Guten“ erweisen oder darstellen (auch wenn mir klar ist, dass ja „nur“ über Texte und nicht über Personen gesprochen wird). Andererseits muss ich gerade das aushalten, muss mir selbst Halt geben, muss aushalten, dass ich allein stehe. Auch, wenn in dem Moment niemand Verständnis hat. Ich glaube, dass ein solcher Prozess (oder eine solche Veranstaltung) es schaffen muss, dass meine Geschichte nicht doch irgendwie bewertet/verglichen wird. Das scheint mir so ziemlich das Wichtigste zu sein.
Und die Gruppe ist in einem solchen Prozess selbst total wichtig. Insgesamt wohl: Warum kommt die Gruppe zusammen? Will die Gruppe nur ein paar schöne Tage miteinander verbringen? Wollen sie sich gruseln? Suchen sie Fremdbestätigung? Und für jeden Einzelnen: Will ich mehr über mich herausfinden? Bin ich bereit, mich zu outen? Sprich, sehr Persönliches zu offenbaren. Bin ich bereit, nicht nur als Gruppe etwas zu erleben, sondern auch als Gruppe wirklich zu wachsen, etwas gemeinsam zu lernen? Und das meine ich nicht nur Kopfmäßig. Sondern mit allem, mit Gefühlen, mit dem Körper und auch mit dem Kopf :-).
März 4, 2016 at 8:19 am
Liebe Heike,
ja, du siehst die Möglichkeiten und problematischen Stellen dieser Methode wohl ganz gut. Beides hängt tatsächlich sicher eng mit der Frage zusammen, wie die Gruppe zusammenkommt. Frigga Haug hat es zuerst mit Studentinnen durchgeführt, die über ihr eigenes Studium „Lerntagebücher“ führten. Sie hatten also unmittelbar ein Interesse, nicht nur irgend etwas über sich, sondern konkret über ihren Lernfortschritt zu erfahren. Und sie kannten sich als Gruppe über eine längere Zeit hinweg, was zu Vertrauen und mehr Offenheit führt. Das hat man nicht, wenn sich vorher unbekannte Leute zu einem Seminarwochenende treffen, wie es bei meiner Erfahrung damit war.
Ich denke, bei uns hat das mit dem Wochenendseminar zwar gut funktioniert, aber grundsätzlich sollte das eher nicht empfohlen werden, weil die Gefahr zu groß ist, dass es schief geht (insbesondere, wenn nicht eine so anerkannte Person wie Frigga Haug das Ganze leitet). Als „schief gehen“ meine ich genau das, was Du auch angesprochen hast: Diejenige(n), die genug Wissen haben, solche Texte zu analysieren, geben zu schnell vor, was an den Texten darauf hinweist, welche Art von Selbstverständnis die schreibende Person da offenbart. Diese Analyse braucht tatsächlich Wissen, das nicht allgemein verbreitet ist (nicht nur die Kenntnis der Methode, sondern auch der Sprachanalyse, Diskursanalyse…). Das muss unbedingt vorher bei allen bekannt sein (wie es auch bei der Kritischen Psychologie notwendig ist, die Begriff(sverwendung) bei allen Beteiligten vorher zu klären).
Was Du auch ansprichst: Tatsächlich ist diese Methode eher eine Kopfmethode. Das hängt hier aber damit zusammen, dass das Ganze bewusst abgekoppelt werden soll vom persönlichen Befinden. Es geht nicht um Therapie, sondern um Erkenntnis. (Die Erkenntnis kann dann durchaus auch etwas mit einem selbst machen… aber das ist nicht direkt das Ziel).