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Mit der Grundlegung der Kritischen Psychologie entwickelte Klaus Holzkamp einen konzeptionellen Rahmen und Kategorien, die es ermöglichen sollen, die eigenen Beziehungen zur Welt besser verstehen zu können. Dabei wird ein menschliches Individuum nicht als eindeutig bestimmt von den objektiven Bedingungen gesetzt, aber auch nicht als bedingungslos freischwebend vorgestellt, sondern es wird vorgeschlagen, bestimmte Vermittlungsmomente zwischen mir als Individuum und der Welt genauer zu analysieren. |
Der Gegenstand der Kritischen Psychologie ist dabei „nicht das Subjekt, sondern dessen Welt, wie sie von ihm empfindend, denkend und handelnd erfahren wird.“ (www.kritische-psychologie.de, vgl. Markard 2009: 55)
Die Herausforderung zur Entwicklung dieses Konzepts ging von Mängeln der vorhandenen psychologischen Konzepte aus, die im Kontext der 68er Bewegung von einigen zum Anlass genommen worden waren, die Psychologie als Herrschafts- und Kontrollwissenschaft grundsätzlich abzulehnen, während Klaus Holzkamp und andere zur Schlussfolgerung kamen, dass das Grundkonzept und die Begriffe der Psychologie als Wissenschaft von menschlichen Subjekten, deren Natur von vornherein gesellschaftlich konstituiert ist, auf neue Weise begründet werden muss.
Praxis der Kritischen Psychologie
Da die meisten Vertreter*innen der Kritischen Psychologie sich weiterhin, wenn auch kritisch, bzw. Kritisch, am akademischen Kontext orientieren, liegt das Hauptinteresse bei der Verbindung der Theorie mit der Praxis im Bereich der Forschungs- und psychologischen Berufspraxis. So thematisiert Klaus Holzkamp in der „Grundlegung der Psychologie“ die „Methoden aktualempirischer psychologischer Forschung“ (Holzkamp 1983a: 510).
Als Praxis gilt auch die Berufspraxis der studierten Psycholog*innen (z.B. in der AG Berufspraxis, vgl. Erckmann, Kalpein, Zander 2013). Auf der Grundlage von Theorie-Praxis-Konferenzen gab es seit 1990 an der FU ein Projekt „Analyse psychologischer Praxis“ (PAPP). Auch in der „Gesellschaft für subjektwissenschaftliche Forschung und Praxis e.V.“ geht es u.a. um die „Analyse praktischer Arbeit in der psychosozialen Versorgung“, d.h. z.B. in Therapie- und Beratungsprozessen (vgl. Kalpein 2010), bei denen – obgleich gar nicht explizit so formuliert – davon ausgegangen wird, dass studierte Kritische Psycholog*innen die Therapeut*innen und Berater*innen sind.
In all diesen Überlegungen wird durchaus davon ausgegangen, dass die nicht Kritisch-psychologisch Studierten als „Mitforscher“ zu qualifizieren sind (Holzkamp 1983b), aber grundsätzlich geht es immer um die Praxis von studierten Kritischen Psycholog*innen mit sich selbst bzw. im Verhältnis zu anderen.
Als praktische Handreichung und Erfahrung gibt es dafür z.B. die Entwicklungsfigur (Markard 2000: 236, Markard 2009: 280f.) und den Bericht „Zur Arbeitsweise der Berliner AG Berufspraxis“ (Erckmann, Kalpein, Zander 2013). Auch „Multiloog“ von Heinz Mölders ist hier zu nennen und die Erinnerungsarbeit nach Frigga Haug . Auch Christina Kaindls Arbeiten über Subjektivitäten im Neoliberalismus basieren auf den Konzepten der Kritischen Psychologie, dienen aber letztlich der Analyse gesellschaftlicher Widersprüche von einem theoretischen Standpunkt aus, bei dem die untersuchten Menschen beforscht, aber nicht systematisch und praktisch-methodisch einbezogen sind (siehe dazu eine kurze Debatte zum Vortrag von C. Kaindl auf der letzten Ferienuni Kritische Psychologie). Ebenso fand ich in den Texten zum Rassismus keine Aussage darüber, wie die Erkenntnisse praktisch zu neuen Gesprächs- und Handlungsformen führen können.
Für weitere Hinweise zur Praxis der Kritischen Psychologie (z.B. im Kommentarbereich des Blogs) wäre ich sehr dankbar, derzeit kann ich auch auf meine Bibliothek nicht zugreifen und ich habe auch gerade keinen Zugriff auf alle Hefte des „Forums Kritische Psychologie“.
Was mir bisher noch nicht begegnet ist, ist der Versuch, dass sich auch Nicht-Psycholog*innen in ihrer Lebenspraxis auf der Grundlage des Konzepts der Kritischen Psychologie miteinander verständigen (unsere beschränkten Versuche in der Zukunftswerkstatt Jena mal nicht eingerechnet). Zur Theorie gibt es mittlerweile auch im studentischen Milieu mehrere selbstorganisierte Lesekreise.
Nach mehreren inhaltlichen Einführungskursen in die Kritische Psychologie wurde uns in der Zukunftswerkstatt Jena schnell bewusst, dass dieses Konzept und diese Kategorien unsere Diskussions- und Aktionspraxis deutlich verändern können. Oder: Wo wir bisher schon anders dachten und handelten als andere politische (* zum Begriff der „Politik“ s.u.) Gruppierungen, fanden wir hier endlich ein Konzept und die Begriffe, die genau zu dem passten, was wir schon immer wollten. Wir hatten zum Beispiel aus der DDR-Vergangenheit eine schon intuitive Ablehnung von jeglicher Gängelei und Instrumentalisierung mitgebracht, die uns leider auch in links-alternativen Bewegungen ständig wieder begegnete. Mit dem Subjektstandpunkt aus der Kritischen Psychologie konnten wir nun die unterschiedlichen Praxen deutlich benennen und unser eigenes Handeln daraufhin überprüfen, inwieweit wir intersubjektiv agieren oder wo wir in instrumentelle Beziehungen verwickelt sind.
Wir kennen uns in einigen anderen Methoden aus, mit denen in Bewegungen, die den herrschenden Verhältnissen gegenüber kritisch eingestellt sind, experimentiert wird, um selbst neue soziale Praktiken und Kommunikationsformen zu entwickeln. So z.B. die Methode der Zukunftswerkstatt, des (neo-)Sokratischen Gesprächs, das Utopische (World-)Café und auch die Gewaltfreie Kommunikation. Diese Methoden haben z.T. unterschiedliche Ziele und jeweils bestimmte Vorzüge und Grenzen. Seit wir die Kritische Psychologie kennen, wünschen wir uns erstens eine Qualifizierung all dieser anderen Methoden mit den Orientierungen aus der Kritischen Psychologie (Subjektstandpunkt, Einbeziehung der gesellschaftlichen Verhältnisse, Analyse der Widersprüchlichkeit…). Zweitens jedoch vermissen wir die Möglichkeit, auf Grundlage der Kritischen Psychologie eine methodische Hilfestellung zu haben, d.h. uns miteinander verständigen zu können, ohne unbedingt von studierten Kritischen Psycholog*innen als „Mitforscher“ gecoacht werden zu müssen.
Wenn die Kritische Psychologie als „Theorie menschlicher Lebenspraxis“ im Dienst „der sozialen Selbstverständigungsversuche der Einzelnen über ihre Eingebundenheit in leidvolle Lebensbedingungen“ steht und das Ziel der „Realisierung vormals unterbundener oder nicht sichtbarer Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten, somit die Befähigung zum praktischen Eingriff in solidarischer Absicht“ (Küpper, Erckmann, Karimi Knebel 2013) hat, so ist das keinesfalls auf Berufspsycholog*innen reduzierbar.
Natürlich gehe ich davon aus, dass eine solche Praxis durchaus erfordert, tief in den Inhalt der Kritischen Psychologie einzusteigen und uns dementsprechend zu qualifizieren. (Auch bei den Sokratischen Gesprächen wird auf eine sorgfältige Ausbildung der Gesprächsleiter*innen Wert gelegt). Wir werden jederzeit gern die Unterstützung von studierten Kritischen Psycholog*innen erbitten und annehmen. Aber die Aneignung eines Konzeptes und einer Praxis bedeutet letztlich auch, sie sich auch ohne Berufsausweis aneignen zu können (und damit auch ernst genommen zu werden).
In den emanzipativen Bewegungen selbst scheint von der Möglichkeit, so etwas aus der Kritischen Psychologie zu entwickeln, noch nichts angekommen zu sein. Dies liegt sicher einerseits an der Sperrigkeit der theoretischen Texte, aber auch daran, dass in der politischen Praxis keine praktischen Auswirkungen des Konzepts der Kritischen Psychologie erfahrbar sind. Ihre Vertreter*innen beschränken ihre Aktivitäten stark auf den akademischen Kontext oder die theoretische Analyse.
Vielleicht ist es auch eine Überforderung, einerseits für die Kritischen Psycholog*innen, auch in den politischen Bewegungen lehrend und praktisch aktiv sein zu sollen, und andererseits der Bewegungsakteure, sich die Kritische Psychologie aneignen zu müssen. Wenn dies so ist, dann bliebe ein enormes Potential unausgeschöpft. Ich denke, die Kategorien und Konzepte der Kritischen Psychologie sind überhaupt nicht auf einen beruflichen, einen therapeutischen Kontext beschränkt, sondern fordern geradezu heraus, dass in vielen tausenden Gesprächen viele einzelne Individuen gemeinsam mit anderen ihre Möglichkeiten besser kennenlernen und sie auszuschöpfen sowie zu überschreiten beginnen. D.h., ihre Emanzipation und damit die gesellschaftliche Entwicklung voranzutreiben. (Über die Relevanz solcher Fragestellungen für die emanzipative politische Praxis schrieb ich bereits).
Auch im Bericht zur Ferienuniversität Kritische Psychologie von 2012 (Küpper, Erckmann, Karimi Knebel 2013) bestätigt sich meine Erfahrung bei dieser Ferienuni: Mit meinem Anspruch, soziale Selbstverständigung im Sinne der Kritischen Psychologie im alltäglichen und vor allem dem politisch-emanzipativen Leben zu verwirklichen, also nicht nur im berufspraktischen Kontext, scheine ich ziemlich alleine dazustehen (siehe auch meine damaligen Blogberichte zum Einführungsvortrag und zu meinem Workshop sowie zum Thema der Sozialen Selbstverständigung).
Es gab einen Versuch, die Inhalte der Kritischen Psychologie in der „Monatszeitung für Selbstorganisation CONTRASTE“ vorzustellen. (Hier der Link zu den 2011 veröffentlichten Texten in CONTRASTE). Es gibt mehrere Lesekreise, aber ob daraus etwas in die politische Praxis dringt, ist mir unbekannt.
Nachdem einige dieser Lesekreise sich durch viele theoretische Texte gekämpft haben, entstand auch hier das Bedürfnis nach einer Vermittlung mit der Praxis. Vor kurzem trafen sich Teilnehmer*innen der Lesekreise und andere Interessierte zu einem Seminar in Hiddinghausen. Hier ging es nun explizit darum, sich gemeinsam selbst zu verständigen über Probleme der eigenen Lebensführung. Eine Vorbereitungsgruppe entwickelte ein Konzept zum Vorgehen. Dieses basierte auf einer in früheren Treffen diskutierten und bei diesem Treffen mit einem Input vorgestellten kritischen Analyse der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse, auf dem geschichtlichen Horizont der Veränderungsmöglichkeiten und den Grundbegriffen der Kritischen Psychologie.
Danach blieb leider wieder viel zu wenig Zeit für die eigentlichen Gespräche zur Sozialen Selbstverständigung. Allerdings war das wenigstens ein Anfang, der uns das Gefühl und die Erfahrung ermöglichte, dass solch eine Praxis bereichernd und wichtig ist und dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden.
Ausgehend von diesem Erlebnis werde ich mich in weiteren Texten mit möglichen Weiterentwicklungen dieses Ansatzes beschäftigen. Auch die Wikiseite zur Sozialen Selbstverständigung kann sich in diesem Zusammenhang weiter entwickeln, gern auch durch die Beiträge von anderen Interessierten.
P.S.: Wenn ich „politisch“ schreibe, meine ich damit nicht nur die bürgerliche Politik, bei der strukturell nur Interessen gegeneinander gerichtet sind und miteinander ringen, sondern im Sinne der bewussten Gestaltung der menschlichen Beziehungen im Kontext jeweiligen konkreten gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse.
2014-09-06: Version 2, leicht verändert.
Juni 28, 2014 at 1:53 pm
[…] Auch Sahra Büsse sprach in ihrem Beitrag zum Thema „Subjekt und Handlungsfähigkeit“ lediglich von einer „Rekonstruktion des Subjektstandpunkts“, der mich mit meiner Vorstellung von richtigen Gesprächen zwischen Menschen im Begründungsdiskurs-Modus irgendwie falsch verankert zeigte. Sollte es tatsächlich so sein, dass die VertreterInnen der Kritischen Psychologie ihre Praxis völlig anders verstehen, als ich es aus dem Konzept entnehme? (Mehr dazu noch mal hier) […]
August 28, 2014 at 4:01 pm
[…] Selbstverständigung” interessiert sind. Ich hatte dazu schon einiges geschrieben (zuletzt hier, früher schon dort). Wenn sich da was entwickelt, werde ich in der nächsten Zeit wahrscheinlich […]