Das Beispiel von den Blinden…
Um noch eine Vorstellung von den drei aufeinander folgenden Erkenntnisschritten hin zur Reproduktion des Konkreten, als bestimmter „Zusammenfassung vieler Bestimmungen“, zu geben, sei ein weiteres Beispiel durchdekliniert, das nicht selbst von Hegel stammt und auch nicht vollständig alle Wesenszüge einer dialektischen Begriffsentwicklung aufweist. Aber es ist eine schöne Geschichte, deshalb will ich sie hier nicht vorenthalten:
Drei Blinde wollen sich – ausgehend von konkreten Wahrnehmungen – über „ihre Welt“ verständigen. Für einen ist seine Welt ein „Schlauch mit Rillen“, ein anderer widerspricht – für ihn ist es ein „Strick mit Quaste“ und der dritte wiederum fühlt etwas ganz anderes: eine rauhe Wand. Wer hat Recht??? | ![]() |
Nach einiger Zeit bemerken sie eine „Gesetzmäßigkeit“: Der Schlauch befindet sich immer in einer Entfernung von ca. 6 m vom Strick entfernt. Na prima, aber was bringt diese Erkenntnis? | ![]() |
Die drei brauchen noch etwas Zusätzliches, um zur Wahrheit ihrer Wahrnehmungen vorzudringen, nämlich die Erkenntnis, dass sie die ganze Zeit von einem „Elefanten“ sprechen. Der „Begriff“ des Elefanten erklärt dann auch, dass der Schlauch einen Rüssel darstellt, der Strick den Schwanz und die Wand den Körper. Auch der gesetzmäßige Abstand zwischen Rüssel und Schwanz erklärt sich dadurch. | ![]() |
Den „Schlauch mit Rillen“ und den „Strick mit Quaste“ können wir unmittelbar wahrnehmen, sie zeigen, „WAS“ wir unmittelbar wahrnehmen. Im zweiten Schritt erkennen wir gesetzmäßige Zusammenhänge, haben aber noch nicht die „ganze Wahrheit“ entdeckt. Die erschließt sich hier erst durch die Gesamtheit, das Wissen, dass es sich um einen „Elefanten“ handelt. Der Elefant ist also eine höhere Wahrheit auf die Frage nach dem „WAS“ des Gegenstandes.
Ein wenig Wissenschaftstheorie
Verallgemeinern wir diese Erkenntnisformen, so erhalten wir folgendes Bild:
- Wir abstrahieren vom Ganzen und von den Zusammenhängen und beschreiben einfach nur das, was uns unmittelbar begegnet. Auch dies ist ein wichtiges Stadium der wissenschaftlichen Arbeit, auch wenn sich zeigen wird, dass dieses Unmittelbare, wenn ich den Begriff schon habe, sich meist anders darstellen lässt als wenn ich ihn noch nicht habe und suchend in den Phänomenen herumirre wie die Blinden. Dabei werden dann Fakten genannt, die erst einmal isoliert voneinander auftauchen. Das Unmittelbare wird bei dieser Art Beschreibung einfach nur in die Beschreibungssprache hineinkopiert; es entsteht etwas „Pseudo-Konkretes“, wie es Karel Kosik (1967) nannte.
- Auf der Suche nach Verallgemeinerungen und Gesetzmäßigkeiten der einzelnen Fälle aus 1. gelangen wir dazu, eine Form des Allgemeinen zu finden, bei der das Besondere der in 1. gefundenen Fälle negiert wird und diese einfach dem Allgemeinen subsumiert werden. Diese Form des Allgemeinen ist „abstrakt-allgemein“, sie abstrahiert von den inneren Widersprüchen und den Besonderheiten der sie bildenden Momente. Systemtheorien verkörpern diese Art des abstrakt Allgemeinen in starkem Maße. Einzelwissenschaften werden i.a. auch so gebildet, dass reproduzierbare Gesetzmäßigkeiten erkannt werden können, wodurch von bestimmten inneren Widersprüchen und Besonderheiten der Momente abstrahiert werden muss, aber nicht so weitreichend wie in den Systemtheorien.
- Leider wird häufig angenommen, es gäbe nur die in 2. erreichte Form des Allgemeinen, also das abstrakt-Allgemeine. Hegel zeigt uns jedoch jeweils im 3. Schritt mit der übergreifenden Einheit, dass es ein Allgemeines, ein konkret-Allgemeines gibt, bei dem die Besonderheit der Momente nicht etwa negiert wird, sondern notwendig ist, um die Bewegung des Ganzen durch die Widersprüche, von denen auch nicht abstrahiert werden kann, zu erklären.
Befinden wir uns alle auf dem Wissenstand nach 1., so können wir damit gut in einen „pluralen“ Meinungsaustausch kommen, wenn wir jeweils unsere unmittelbaren Fakten gegenseitig anerkennen. Wir wissen aber nicht, woher z.B. Differenzen herkommen und wie wir damit umgehen sollten, wenn wir in Streit geraten über unterschiedliche Ergebnisse.
Es ist mittlerweile aus der Wissenschaftstheorie bekannt, dass es eigentlich keine Fakten ohne theoretische Voraussetzungen gibt. Die Art und Weise des Ermittelns der „Fakten“, des Messens von Parametern usw. wird von der allgemeinen Ebene aus dem Bereich 2. bestimmt, auch wenn uns dies nicht bewusst sein sollte. Dabei werden bestimmte Verfahren und auch Kategorien verwendet, die sich in der Geschichte des Fachs als geeignet erwiesen haben, wobei häufig auch politische und ideologische Bestimmungsgründe vorhanden sind. Ein Bewusstwerden dieser Abhängigkeit ermöglicht es uns, auf dieser Ebene eingreifen zu können, wenn wir dies für unser Thema für notwendig ansehen.
Ob diese Kategorien dem untersuchten Gegenstand tatsächlich angemessen sind oder nicht, ist damit noch nicht immer erwiesen. Die Kritische Psychologie ist ein (das einzige?) Beispiel dafür, dass die Kategorien einer Wissenschaft, hier der Psychologie, selbst begründet werden sollen aus dem Inhalt des behandelten Gegenstands, der Psyche. Dabei kommt es darauf an, das Allgemeine nicht abstrakt dem sinnlich-Unmittelbaren entgegen zu stellen bzw. überzustülpen, sondern in den Widersprüchen, in denen die besonderen Momente sich zeigen, zu entdecken. (So wie ich es jetzt schreibe, beschreibt dies nicht direkt die Methode, die Holzkamp für die Begründung der Kategorien verwendet hat).
Voraussetzung der Dialektik
In dieser Sichtweise muss das Umfassendere, die höhere Einheit immer schon vorausgesetzt werden. Zwar erkennen wir zuerst nur ihre abstrakten Momente oder stellen sie zuerst dar, aber jedes abstrakte Moment existiert gar nicht ohne das sie konstituierende Ganze. Bezogen auf einen dialektischen Erkenntnis- oder Darstellungsprozess heißt das: Das, was explizit begriffen wird, ist in den abstrakten Anfängen implizit enthalten. Im Keim ist alles „eingehüllt und ideell“ (HW 18: 41); dieser „Keim will sich selbst hervorbringen, zu sich selbst zurückkehren“ (ebd.). Das vorherbestimmte Ende dieser Entwicklung für den Keim ist die Frucht, diese Frucht ist „an sich“, anders gesprochen „der Möglichkeit nach“, bereits im Keim vorhanden.
Wenn wir etwas dialektisch untersuchen oder darstellen, so setzt das einen Gegenstand voraus, der sich auf sich selbst bezieht. Bisher hatte ich über den Erkenntnisprozess immer so geschrieben, dass wir als erkennende Wesen außerhalb des zu Erkennenden stehen und quasi von außen auf den Gegenstand blicken. Das war auch eine Abstraktion, die aufgehoben werden muss: Zum Begriff der Sache komme ich als erkennendes Wesen nur, wenn ich nicht getrennt bin vom zu erkennenden Gegenstand, sondern wenn ich mich als Moment des umfassenderen Prozess des Begreifens der Welt verstehe. Mein Wissen kann sich anreichern, konkretisieren, wenn sich in meinem Erkenntnisprozess die Welt auf sich selbst bezieht. Nur dann funktioniert die dialektische Methode der bestimmten Negation, des sich Herausarbeitens des „An sich“, des Impliziten.
Wenn wir bei dem Beispiel mit dem Keim bleiben, so wird dieses Prinzip des Selbstbezugs verletzt. Es ist nicht der anfänglicher Keim, der sich selbst reproduziert, sondern durch die Entwicklung des Organismus wird ein anderer Keim erzeugt: „Bei den natürlichen Dingen ist es freilich der Fall, daß das Subjekt, was angefangen hat, und das Existierende, welches den Schluß macht – Frucht, Samen -, zweierlei Individuen sind.“ (ebd.)
Aus dieser Voraussetzung heraus stellt sich nun die Frage: Funktioniert eine „materialistische Umstülpung“ der Hegelschen Dialektik überhaupt?
Wenn Hegel beispielsweise die Kategorien „Sein“, „Dasein“, „Existenz“ und „Wirklichkeit“ auseinander entwickelt, können wir das „übersetzen“ oder „materialistisch umstülpen“ und uns eine Aufeinanderfolge von Fischen, Amphibien, Reptilien und Säugetieren als „dialektische Entwicklung“ vorstellen???
Es geht also nicht nur darum, ob wir eventuell die materialistisch uminterpretierbaren Methode von dem (idealistischen) dialektischen System bei Hegel trennen können, wie Engels vorschlug, sondern eine genauere Kenntnis der Hegelschen Methode lässt uns fragen, ob die Methode überhaupt materialistisch uminterpretierbar ist.
Oktober 14, 2014 at 11:37 am
Hallo Annette,
Mal ganz pauschal:
Die Dialektik ist keine Methode des Denkens, sie ist die „Natur des Denkens“ (Hegel) selbst, man kann sie nicht einfach anwenden oder lassen. Man kann widersprüchliche Wege beim Denken gehen, gedankliche Fehler machen, die müsste man im Detail nachweisen, ohne dass sie an der „Hegelschen Dialektik“ (So bescheiden war Hegel nicht, dass er nur SEINE Methode vorgestellt hätte) gemessen und Verstöße angemahnt werden. Gegen „Gesetze des Denkens“ kann man gar nicht verstoßen, es sei denn man erfindet Regeln, an die man sich beim Denken zu halten hätte, aber das wäre (und ist leider) ein praktisch gemachter Widerspruch. Man tut ja damit gerade so, als hätte man schon jeden einzelnen Gegenstand begriffen und erließe rückwärts jeweils die Regeln des Begreifens bis zum Ausgansphänomen. Da kann man sich zwar dran erfreuen, wenn man in den Resultaten des Denkens, die Dialektik (das Denken selbst) wieder entdeckt (wen wunderte das), aber als Methode, um etwas zu begreifen, taugt das nichts, weil ich vorher gar nicht wissen kann, was hinten heraus kommt und ob und an welchen Stellen der Erklärung ich mein freies Denken durch ein methodisches Konzept fesseln müsste. Die Kriterien dafür kenne ich vor dem Erklären gar nicht und hinterher nützen sie mir nichts mehr. Aber ein Gutes hat das Wissen (Dank Hegels Vorleistung) über die Natur des Denkens vor allem für die Darstellung von Wissen: man weiß die logischen Kategorien und kennt die Formen des Bewusstseins, in denen der Inhalt sich verwandelt bis zum Begreifen einer Sache, und dieser Begriff kann dem Vorbegriff schon mal fundamental widersprechen, von wegen z. B. Geld sei ein nützliches Tauschmittel.
Oktober 14, 2014 at 5:47 pm
Und was hat dieses Denken mit den Dingen/Prozessen/Verhältnissen außerhalb des Denkens zu tun?
Wenn Geld ein Gegenstand des Denkens ist (dann ist es genauer gesagt: „gedachtes Geld“ und im Endergebnis „begriffenes Geld“), was entspricht ihm da draußen in der Welt und was bedeutet sein Verhalten in der Welt da draußen für seinen Begriff?
Oktober 15, 2014 at 7:20 am
Vielleicht noch einmal eine kurze andere Fassung: Wenn ich das Geld begriffen habe, also seinen Begriff in all seinen wesentlichen und notwendigen Bestimmungen erfasst habe, dann wird der dem Geld in der Welt entsprechen.
Oktober 14, 2014 at 7:03 pm
Ich weiß nicht, ob ich die Fragen richtig verstehe, ich versuche es mal.
Zur ersten würde ich sagen, es kommt immer auf die jeweiligen Dinge, Prozesse und Verhältnisse an, auf die ein Mensch sich denkerisch bezieht. Die Dinge, die den Menschen weder theoretisch noch praktisch interessieren, gehen auch das Denken nichts an.
Zur zweiten Frage: Den Übergang vom Geld als Gegenstand des Denkens zum gedachten Geld und begriffenen Geld würde ich nicht so schnell gehen. Geld ist Gegenstand des Denkens im praktischen Umgang oder kann Gegenstand einer wissenschaftlichen Analyse sein. Zwischen dem Gegenstand, von dem ich eine begriffslose Vorstellung aus dem praktischen Umgang mit ihm habe UND der begriffenen Sache, die ich unter dem Namen Geld kenne, liegen etliche denkerische Bemühungen, die ich bewusst NEBEN dem praktischen Umgang mit dem Ding mache. Wenn ich die Sache Geld begriffen habe, ändert sich nichts am praktischen Umgang mit Geld oder „seinem Verhalten in der Welt“.
Die Frage ist ein wenig merkwürdig. Wenn Geld ein Gegenstand des Denkens ist, dann wird es dem Denken als Gegenstand in der Welt vorliegen, es wird dem Denker schon aufgefallen sein, weil es ihm seinen gewohnten Nutzen erfüllt, oder nicht, und/oder erfüllen soll; oder weil der Denker am Geld ideelle oder praktische Widersprüche aufmacht und aus der Welt schaffen will. Was aber sein „Verhalten“(?) für seinen Begriff bedeutet, wird eine Analyse zeigen. Wenn das Geld nicht auf den Begriff gebracht wurde, ändert sich auch nichts am praktischen Umgang mit ihm, weil Geld gar kein Produkt bewusster geistiger Anstrengung war, die es als nützliches Ding in die Welt gebracht hätte; Geld ist nicht aus seinem Begriff auf die Welt getropft. Das weiß man aber erst, wenn man Geld begriffen hat; und wie schon gesagt, auch das ändert erst einmal nichts am praktischen Umgang mit ihm.
Oktober 16, 2014 at 5:45 pm
Ich habe mit der Frage die meiner Meinung nach vorliegende Einengung der vorigen Diskussion auf die „Natur des Denkens“, also die Logik aufbrechen wollen.
Grundsätzlich stimme ich dem, was Sie schreiben, zu. Unbedingt auch an der Tatsache, dass das Begreifen erst einmal nichts am praktischen Umgang ändert.
Was kommt nach dem „erst einmal“? D.h.: wie kann es weiter gehen mit dem „weil der Denker am Geld ideelle oer praktische Widersprüche aufmacht udn aus der Welt schaffen will“…?
Oktober 16, 2014 at 5:47 pm
„Verhalten“ war vielleicht etwas zu speziell formuliert. Ich wollte damit darauf hinaus, dass kein Ding dieser Welt einfach nur „ist“ und ggf. seine Eigenschaften in oder an sich kleben hat, sondern dass sich jeder Gegenstand gegenüber seiner Umwelt,d.h. anderen Gegenständen gegenüber irgendwie „verhält“ (das hängt also eher mit „Verhältnis“ zusammen als dem Verhaltensbegriff, der für Tiere oder Menschen verwendet wird).
Oktober 18, 2014 at 2:20 pm
AS: „Ich habe mit der Frage die meiner Meinung nach vorliegende Einengung der vorigen Diskussion auf die “Natur des Denkens”, also die Logik aufbrechen wollen.“
Ich kann keine Einengung entdecken, ich halte eher dem Denken eine Methode aufzuerlegen für eine Einengung, aber eine, die das Denken in seiner Freiheit beschränkt. Vielleicht sagst du mal, worin denn die Einengung besteht bzw. was denn die Dialektik als Methode des Denkens vom Denken, das sich die Dialektik als Methode wählt, unterscheidet. Oder wie geht das denn eigentlich, dass sich ein „Gegenstand auf sich selbst beziehen“ kann? „Die Einsicht, dass die Natur des Denkens selbst die Dialektik ist, …, macht eine Hauptseite der Logik aus.“ (Hegel, Enzyklopädie, 1830, §11, Zusatz)
AS: „Grundsätzlich stimme ich dem, was Sie schreiben, zu. Unbedingt auch an der Tatsache, dass das Begreifen erst einmal nichts am praktischen Umgang ändert.
Was kommt nach dem “erst einmal”? D.h.: wie kann es weiter gehen mit dem “weil der Denker am Geld ideelle oer praktische Widersprüche aufmacht udn aus der Welt schaffen will”…?“
Wenn ich weiß, was Geld ist, dann weiß ich auch, dass Geld ein schädliches Lebensmittel für mich und die meisten anderen ist. Dann muss ich mindestens erst einmal einen zweiten auf diesen Schaden hinweisen, ihm das Geld erklären, also auch sein praktisches Tun kritisieren, seine schädlichen Berechnungen im Umgang mit Geld nachweisen. Denn, ohne dass ein Zweiter einen richtigen Begriff vom Geld hat, wird sich auch kein Dritter überzeugen lassen, usw. Da sind wir uns sicher einig, oder?
AS: “Verhalten” war vielleicht etwas zu speziell formuliert. Ich wollte damit darauf hinaus, dass kein Ding dieser Welt einfach nur “ist” und ggf. seine Eigenschaften in oder an sich kleben hat, sondern dass sich jeder Gegenstand gegenüber seiner Umwelt,d.h. anderen Gegenständen gegenüber irgendwie “verhält” (das hängt also eher mit “Verhältnis” zusammen als dem Verhaltensbegriff, der für Tiere oder Menschen verwendet wird).
Ok, Verhältnis. Aber wen willst du auf dieses „Nur“ hinweisen und welchen gedanklichen Fortschritt verschaffst du ihm damit. DASS sich alles bewegt und zueinander verhält ist kein Erkenntnisfortschritt. Wenn ich die Eigenschaften eines Dinges bestimme, habe ich doch schon, ohne es zu betonen, herausgefunden, dass es die Eigenschaften an dem Ding sind, die ICH an ihm festgestellt habe. Der Hinweis mit dem „Nur“ ist als Argument ein Rückfall hinter den Ausgangspunkt der ganzen Bestimmerei, als ob ich ein Ding irgendwo bemerken würde und mein Aufmerken einfach vom Tisch wische und zum Fischen gehe.
Oktober 18, 2014 at 6:14 pm
„DASS sich alles bewegt und zueinander verhält ist kein Erkenntnisfortschritt“,
Nein? Und was wird gewöhnlich vorgestellt, wenn man sich die „Masse eines Körpers“ vorstellt? Doch die Masse, die irgendwie „im Körper drin“ ist und nicht unbedingt sofort als etwas, was in Beziehung auf etwas (eine beschleunigende Kraft etwa) wirksam wird.
Oktober 18, 2014 at 6:22 pm
zur „Einengung der vorigen Diskussion auf die “Natur des Denkens“.
Insofern Hegels Schriften eine „Philosophie der…(Gegenstände)“ sind, ist alles bei ihm Gedachtes (was ihm den Vorwurf des Idealismus einbringt). Aber ich frage mich immer wieder nach dem, was in dem, was nicht Denken ist, dazu führt, dass es zum Gegenstand des dialektischen Denkens werden kann/muss, um angemessen begriffen zu werden.
Oktober 18, 2014 at 8:42 pm
1.
Ist diese nähere Bestimmung der Masse ein unmittelbarer Gewinn aus der allgemeinen „Erkenntnis“, dass sich alles bewegt und zueinander verhält oder ist es nicht eher so, dass du dieses Beispiel unter diese allgemeine Einsicht subsumierst bzw. hintenherum an dem Beispiel bemerkst.
Dass alles bei Hegel Gedachtes ist, kann den Vorwurf des Idealismus nicht begründen. Da kommt es doch immer noch darauf an, WAS er denkt und darin muss ihm der Idealismus nachgewiesen werden bzw. was das kritikable daran ist. Marx Kritik der politischen Ökonomie ist auch Gedachtes und Idealismus kann ich darin nicht entdecken. Die Subsumtion deines Massebeispiels unter die allgemeine Bewegungs- und Verhaltensnatur aller Dinge zueinander ist ein Idealismus, damit wäre glatt behauptet die Bestimmungen dessen, was Masse ist, ergibt sich für die Masse notwendig aus der höheren Idee.
2.
Willst du die Sache begreifen oder willst du wissen, wie die Sache zum Gegenstand dialektischen Denkens werden kann/muss? Ansonsten behauptest du doch mit deiner umständlichen Frage, dass der angemessene Begriff jeder Sache nur über dialektisches Denken zu haben ist. Woher weißt du denn das?
Oktober 19, 2014 at 8:12 am
Zur Masse: In meiner (wiss.-theor.) Diss. gibt es dazu folgende Bemerkung:
„Die physikalische Größe „Masse“ ist nicht eine Eigenschaft eines isolierten Dinges, sondern beschreibt ein spezifisches Verhalten von Körpern, nämlich gegen die Änderung des Bewegungszustandes Widerstand zu leisten. Diese Sichtweise ist keine sprachliche Haarspalterei, sondern ausschlaggebend für das Verständnis dafür, dass die Physik selbst nicht mechanistisch ist. Eine mechanis¬tisch vorgestellte Mechanik würde Körper (Billardkugel) und äußere Bewegungsursache (Anstoß) trennen. Wir hätten dann (normalerweise ruhende) Dinge in der Welt, die durch Kräfte „angestoßen“ werden. Über den Impuls- und Kraftbegriff fanden vor Newton ausgiebige Diskussionen statt (Leibniz, Descartes) , deren Lösung gerade die historische Bedeutsamkeit des Newtonschen Ansatzes ausmacht. Mit den von Newton gebildeten Grundgrößen der Mechanik ist eine genaue Unterscheidung von Impuls (p=mv) und Kraft (F=ma) möglich und gerade dadurch wird die mechanistische Vorstellung außer Kraft gesetzt. Bewegung kommt nicht „eigentlich“ unbewegten Körpern zu. Materie existiert nur als sich Bewegende, als Wirkfähige und Wirkende. “
Sie ist also gar kein „Gewinn“ aus irgend einer Denkweise, sondern Ergebnis der Wissenschaftsentwicklung (insb. seit Galilei) und ich subsumiere sie auch nicht, sondern verwende sie als Beispiel für etwas, was häufig als Eigenschaft am isolierten Ding vorgestellt wird, tatsächlich aber nur in der Wechselwirkung auftritt. Und das wusste ich (wenn ich aufmerksam war) auch schon vor der allgemeinen Einsicht und brauche es deshalb nicht „hintenrum“ zu subsumieren.
Oktober 19, 2014 at 8:20 am
„Dass alles bei Hegel Gedachtes ist, kann den Vorwurf des Idealismus nicht begründen.“
Das sehe ich auch so. Aber es wird häufig so gemacht. Z.B. setzt Marx ja seine Methode gegen Hegel ab: „… während die Methode, vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als geistig Konkretes zu reproduzieren. Keineswegs aber der Entstehungsprozess des Konkreten selbst…“, so scheint nicht nur er, sondern vor allem auch viele seiner Leser*innen davon auszugehen, Hegel hätte gemeint, diese Methode sei „der Entstehungsprozess des Konkreten selbst“.
Manchmal verwendet natürlich Hegel durchaus Formulierungen, die so klingen, etwa wenn die Idee sich „entschließt …sich als Natur frei aus sich zu entlassen“.
Oktober 22, 2014 at 12:52 pm
Bevor ich auf das alles antworte, eine Verständnisfrage, damit ich nicht gegen einen Pappkameraden argumentierte. Du meinst nicht etwa, dass Marx Hegel falsch kritisiert, indem er Hegel vorwirft, dieser würde mit seiner „Methode“ des Denkens das Konkrete Wirklichkeit werden lassen, nach dem Motto, Hegel denkt sich einen Stein und – Simsalabim- ein Stein wird Wirklichkeit? Wo liegt hier die Betonung der Kritik deines Erachtens: Entstehungs p r o z e s s des Konkreten oder Enstehungsprozess des K o n k r e t e n?
Oktober 22, 2014 at 4:45 pm
Nicht Hegel denkt sich den Stein, sondern „die Idee… entlässt die Natur frei aus sich“, wenn man die Beziehung zwischen Logik und den Gegenständen der Realphilosophie betrachtet und fürs Gesamtsystem ist das Absolute das „Sichselbstwerden“ im Durchgang durch alle Begriffe (bzw. „Sachen“, die ja aber nicht Verhältnisse in der objektiven Realität meinen, sondern die Begriffe davon) …
Wenn man das übersieht, dass Hegel eh nur über die Begriffe(smomente) von.., spricht, denkt man leicht, er würde tatsächlich die Steine aus dem Absoluten hervorgehen lassen. Und ich meine schon, dass Marx das so dachte und deshalb die Notwendigkeit der materialistischen „Umstülpung“ annahm.
Oktober 19, 2014 at 8:26 am
„Willst du die Sache begreifen oder willst du wissen, wie die Sache zum Gegenstand dialektischen Denkens werden kann/muss?“
Verwendest Du hier den Hegelschen Begriff der Sache? (Realität, die dem Begriff entspricht)?
Meine Frage bezieht sich darauf, dass es mir schwerfällt Dialektik als „Natur des Denkens“ zu bestimmen, weil ich damit noch nicht weiß, was gedacht wird. Es geht um das Verhältnis von Realität und Begriff. Die Realität, die zur Sache werden kann (also zur begriffenen Realität), taucht in dieser Bestimmung der Dialektik nicht auf, ich wollte das nur als Fragestellung hinein bringen (d.h. die Fragestellung ausweiten auf das Verhältnis zur Realität, die auf den Begriff gebracht werden soll).
Damit bin ich dann auch bei der Frage: ob der angemessene Begriff jeder Realitätsform nur über dialektisches Denken zu haben ist. Was ist Deine Antwort darauf?
November 6, 2014 at 9:34 am
Antwort dauert noch etwas. Ist in Arbeit 😉
November 16, 2014 at 1:31 pm
Hegel hat den Beweis angetreten, dass Denken geht, dass es objektiv ist und dass alle Skepsis und Zweifel gegenüber den Ergebnissen des Denkens, selbst Produkte des Denkens sind und dass das Denken seiner Natur nach in der Lage ist, alle subjektiven Bestimmungen zu überwinden.
Der Fehler der Hegelschen Philosophie: Sie bringt einen höheren Maßstab der Notwendigkeit ins Spiel. Ein Maßstab, welcher der Sache, über die nachgedacht wird, nicht immanent ist; der sich aber aus dem Hegelschen Systems ergibt. Um den Beweis geht es Hegel, dass Denken geht und in jedem Schritt bei der gedanklichen Befassung mit Gegenständen aufzufinden ist und so die Wirklichkeit eine ist, die zum Denken passt. Eigentlich denkt er immer doppelt über die Sache nach, und deswegen klingt das immer sehr befremdlich, wie z. B.: ‚der Gegenstand kritisiert sich selbst’ oder so. Es ist die Tour, die Existenz der Dinge als eine notenwendige Existenz abzuleiten und dies als Resultat des Denkens festzuhalten.
Es ist ein Unterschied, wenn ich sage: Wenn es Leben gibt, dann ist auch Tod; oder wenn ich sage: Wenn es die Logik gibt, dann muss es Leben geben. Es ist die eine Sache, wenn Hegel sich das REINE Denken als Gegenstand einer wissenschaftlichen Befassung vornimmt und notwendige Bestimmungen macht, die er an der Natur des Denkens vorfindet und damit nachweist, WIE Denken geht und damit gleichzeitig klar stellt, DASS es geht. Etwas anderes ist es, dem Nachdenken über ETWAS (Das Etwas als ein anderer Gegenstand als das Denken selbst.) immer noch beweisen zu wollen, dass hier die Logik drin aufzufinden ist. Dieser Beweis war schon längst fertig. Und: Es ist das eine, die innere Logik von Hegels System zu verstehen und zu sagen, dass darin jeder Stein auf den anderen passt. Etwas anderes ist es dem System an seinem Grundfehler zu kritisieren und zu sagen, wenn Hegel das so und so sieht, dann ist es erstens kein Wunder, dass er zu so einem Gedanken kommen muss, aber der ist verkehrt, weil Hegel „sich – also selbst eine abstrakte Gestalt des entfremdeten Menschen – als den Maßstab der entfremdeten Welt“ (MEW 40, S. 572) anlegt.
Was die Hegelsche Philosophie zu einem Idealismus macht, hat nichts damit zu tun, dass sie eine Gedachte ist. Marx’ Kritik an Hegel bezieht sich allein auf die Logik der dargestellten Gedanken und hierin erscheint (!) die Idee als Schöpfer der phänomenalen Welt und das wirkliche Subjekt (der denkende Mensch) erscheint bei Hegel als Resultat. Hegel macht die Idee in seiner Philosophie zum Subjekt. „Die Entwicklung geht aber immer auf Seiten des Prädikats“(Marx). Es ist der Mensch, der sie entwickelt. Das Ganze ist damit auch nicht kritisiert, dass Hegel das alles vielleicht gegen seine eigene sinnliche Wirklichkeit behaupten würde, so als ob Hegel wirklich mit der Kraft seiner Gedanken Steine produziere. Das ist eher polemische Überhöhung. Es ist Hegels Selbstbewusstsein, das den Gegenstand im Bewusstsein produziert, den Gegenstand in das Bewusstsein setzt. (Da setzt die Umstülpung an.) Die Kritik von Marx’ geht auf diese willentliche Affirmation der Welt, die Fehler produziert, wo sie Übergänge erfindet, die zur Logik passen müssen. Hegel macht einen Fehler, wenn er meint, dass die Wirklichkeit AUS der Logik abzuleiten ist. Es ist der freie Entschluss Hegels, das zu tun. Marx’ Kritik drängt auf Überwindung dieser Philosophie, dieser rechtfertigende Tour des Nachdenkens über die Wirklichkeit, weil das Denken erstens dazu fähig ist und zweitens, weil die konkrete Gestalt und sinnliche Tätigkeit des Menschen der Ausgangspunkt des Nachdenkens ist und im praktischen Gefühl ein Sensorium dafür hat, ob ihm die Welt passt oder nicht. Und dass man dieses Gefühl mal ernst nehmen sollte und mal die Welt überprüfen sollte, ob sie denn eigentlich vernünftig für einen selbst eingerichtet ist.
Natürlich weißt du noch nichts darüber, was so gedacht wird, wenn du die Natur des Denkens in all seinen Momenten bestimmt hast. Nur eben über diese reine Logik weißt du Bescheid, in welchen Formen das Denken vor sich geht. Jetzt bestünde die schwierige Aufgabe darin, sich die phänomenalen Widersprüche dieser Wirklichkeit vorzulegen und in ihren inneren Notwendigkeiten auseinanderzulegen und zu schauen, ob hier eine Notwendigkeit der Natur oder eine „menschengemachte“ Notwendigkeit vorliegt in „gewordener“ Form gesellschaftlicher Objektivität.
Dass die „Realität, die zur Sache werden kann … in dieser Bestimmung der Dialektik“ nicht auftaucht, ist kein Wunder, denn die ist bei Hegel immer schon vorausgesetzt. Von der sinnlich gegebenen Realität wird bei der Bestimmung der Natur des Denkens abstrahiert, denn dort kommt es auf die bestimmten Bewegungsformen der reinen Gedankens an: die Logik. Was hier damit zur Sache des Denkens wird, ist die übersinnliche Realität des Denkens selbst oder das von allem konkreten Inhalt entleerte Denken.
Deswegen kann auch mit Berechtigung gesagt werden, dass dialektisches Denken ein Pleonasmus ist. Und von der Realität kann ich mir nur über das Denken einen angemessenen Begriff machen. Wie sich das Denken die unbegriffene Realität aneignet und als Material vorlegt, ist auch kein Geheimnis: über die Sinne.
Die Schwierigkeit in der Befassung mit der Hegelschen Dialektik besteht womöglich darin, dass sie Teil einer erkenntnis- bzw. wissenschaftstheoretischen Betrachtung wird. Wann kommt man auf die Idee, Erkenntnistheorie zu betreiben? Wann fängt man damit an, nach Methoden des Denkens zu suchen und auf welcher geistigen Grundlage tut man das eigentlich? Hegel selbst kritisiert ja dieses Methoden treiben, weil man ja schon Denken können muss, um sich Methoden auszudenken oder sie passend zu finden.
Dass du eher an einer wissenschaftstheoretischen Rechtfertigung der Dialektik als geeignetes Denkinstrument interessiert bist, beweist auch deine eigentümlichen Überlegungen zur Masse. Es ist übrigens merkwürdig, wie wir da hin gelangt sind. Hier legst du sogar Zeugnis darüber ab, dass du fertiges Wissen unter die sogenannten „dialektischen Kategorien“ subsumierst, indem du Beispiele suchst und findest, an denen die logischen Kategorien aufzufinden sind. Der Beweis für dich, dass Dialektik geht. Leider nur rückwärts aufzufinden, wenn der Elefant längst fertig erkannt ist. Dass es dir gar nicht um den Fortschritt der Wissenschaftsentwicklung geht, zeigt dein Zitat auch. Du verteidigst mit deinem „Massebegriff“ plötzlich die Physik gegen den Vorwurf sie sei mechanistisch. Als hätte die Physik das nötig. Das ist ein absurder Streit unter Erkenntnistheoretikern, in den sich wissenschaftlich Interessierte nicht einmischen sollten. Und aus deinem Zitat kann man noch nicht einmal die Widerlegung erkennen, auf die du abzielst. Das Einzige, was drin steckt, ist, dass die Physik mehr ist als „nur“ mechanistisch denkend. Und wer hat den Beweis schon gebraucht? Wissenschaftstheoretiker, die sich noch nie produktiv, um den sachlichen Fortschritt der Wissenschaft gekümmert haben, sondern, die immer aus ihrer prinzipiell skeptischen und unsachgemäßen Stellung heraus, auf die Resultate von Wissenschaft losgehen. Naja, und schließlich hast du sogar für die verschiedensten Vorstellungen zur Materie Verständnis, sonst hättest du im Zitat das „Eigentlich“ weggelassen und nicht auch noch in Anführungsstrichen gesetzt.
Schließlich von dir insgeheim bestätigt: Das Wissen um die ewige Wechselwirkung braucht es nicht für auch nur irgendeinen Erkenntnisfortschritt: Wissenschaftsentwicklung. Mit der Kategorie der Wechselwirkung weißt du alles und damit eben gar nichts. Und es ist deshalb auch kein Wunder, dass du überall Beispiele für Wechselwirkung findest und nicht mal deshalb, weil schon allein das Glotzen in die Welt ohne „Wechselwirkung“ nicht zu haben ist. Der Hinweis auf Wechselwirkung ist deshalb auch ein Einwand gegen alles und gegen gar nichts und hilft in einer sachlichen Diskussion nicht weiter. (Es verlegt die Diskussion ins Methodische, so als müssten die Teilnehmer erst noch einmal neu das Denken lernen.) Das ist wie mit Gott, wenn man den oben rein tut, kommt er unten auch wieder raus.
November 21, 2014 at 6:35 pm
Hm, in diesem Text stehen einige Annahmen, die ich so bei Hegel nicht unbedingt finde, bzw. für die auch andere Interpretationen zur Verfügung stehen. Ich werde sie mal nacheinander durchgehen:
1. Hegels Philosophie bringe „einen höheren Maßstab der Notwendigkeit ins Spiel. Ein Maßstab, welcher der Sache, über die nachgedacht wird, nicht immanent ist“. Wo findest Du das? So weit ich Hegel verstehe, geht es geht bei der Notwendigkeit bei Hegel immer um die *Bestimmung der Sache selbst*, wobei letztlich auch das Bestimmende damit identisch wird. Aber nie um äußeres Bestimmtwerden bzw. das Bestimmtwerden aus dem „Höheren“.
2. „die Tour, die Existenz der Dinge als eine notwendige Existenz abzuleiten“. Wenn schon, dann wird nicht eine „Existenz“ von Dingen abgeleitet, sondern lediglich die „Wirklichkeit“. Hegel wehrt sich ausdrücklich dagegen, indem er z.B. Herrn Krug dafür kritisiert, dass dieser fordert, „es solle jeder Hund und Katze, ja sogar Herrn Krugs Schreibfeder deduziert werden“. Es gibt nach Hegel genügend Beispiele für eine „faule Existenz“, d.h. Gegebenheiten, bei denen das Faktische nicht seinem eigenen Begriff (seiner Bestimmung) entspricht, d.h. dieses bloß Existierende ist eben nicht das Wirkliche, um das es Hegel geht.
3. „Wenn es eine Logik gibt, dann muss es Leben geben.“ (dies, wenn ich es richtig verstehe, als Inhalt von Hegels Philosophie angegeben). Hier geht es um den überaus vielfältig diskutierten Übergang von der „Logik“ in die „Naturphilosophie“ im Hegelschen System der Wissenschaft. Ich denke nicht, dass das nur so gelesen werden muss, dass aus der Logik die Existenz des Lebens abgeleitet wird.
4. „… dem Nachdemen über ETWAS […] immer noch beweisen zu wollen, dass hier die Logik drin aufzufinden ist“.
Dazu 4a): Wenn das „Etwas“ etwas nur Existierendes ist, so versucht auch Hegel nicht, darin unbedingt Logik aufzufinden (so würde er nie versuchen, die Logik in Krugs Schreibfeder zu finden.).
Und 4b): Wenn Hegel in den realphilosophischen Teilen lediglich „unbedingt Logik aufzufinden“ sucht, so ist es genau das, was alle Menschen nur versuchen können, wenn sie sich die Welt erklären, bzw. gezielt darin handeln wollen (d.h. es geht um die Erkenntnis von Zusammenhängen, d.h. um objektive Verhältnisse der Wirklichkeit, wie Hegels Schüler Erdmann in seinem Kommentar – sicher nicht gegen die Intentionen Hegels – erläutert…). Dabei gilt es nur, die Logik auch immer mit zu entwickeln (bei Hegel kommt die Logik aus dem Absoluten Geist… aber genau dieser umfasst genau das gesamte menschliche Wissen (neben Kunst und Religion)…).
Dass die „Logik“ als wissenschaftliches Thema in dem System der Wissenschaften bei VOR der Philosophie der Realbereiche abgehandelt wird, muss nicht heißen, dass die Logik in ihren Inhalten vorgängig entwickelt wurde (und nur noch auf das Reale „anzuwenden“ wäre), sondern sie wurde im Durchgang durch die Erkenntnisse über die reale Welt entwickelt. Speziell in der Weltgeschichte sieht man deutlich, dass Hegel hier kein allgemeines logisches „Schema“ anwendet sondern direkt im konkreten Stoff arbeitet und auf viele Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen und den historischen Übergängen, die in kein Schema passen, aufmerksam macht. Dass Hegel auch die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Zeit aufmerksam aufnahm in sein System der Wissenschaften, zeigen auch die in den Vorlesungsmitschriften der verschiedenen Jahre dokumentierten Veränderungen in seinen Vorlesungen zur Naturphilosophie.
Ich denke, es ist oft die eigene Art der Aufnahme von Hegels Schriften im eigenen Kopf, der eigenen Vorstellung, geleitet auch von bestimmten Verurteilungen von Hegel, die deterministische und idealistische Lesarten bevorzugen, die Hegel äußerst abstrus vorgekommen wären.
5) „willentliche Affirmation der Welt“…
„rechtfertigende Tour des Nachdenkens über die Wirklichkeit“
Hegel rechtfertigt tatsächlich die Wirklichkeit gegenüber Vorstellungen udn Denkweisen, dass dieser Wirklichkeit gegenüber etwas völlig Anderes/Neues anzustreben sei (ich verweise auf seine Kritik des „Sollens“). Allerdings, was setzt er denn dagegen? Die Argumentation, dass auch das Negierende schon vorhanden ist, woher sonst käme es? Es ist in der „Wirklichkeit“ schon immer mitgedacht und diese Wirklichkeit kann sich, mit dem Argument des Begriffs, gegen das nur Existierende wenden. Aber um das zu verstehen, muss man die Unterscheidung zwischen den Kategorien der „Existenz“ und des „Wirklichen“ kennen und ernst nehmen. (das „Existierende“ beruht auf gegebenen Bedingungen, während das „Wirkliche“ auch Mögliches enthält (für das z.B. die Bedinungen noch nicht gegeben sind)).
In einer Vorlesung zur Rechtsphilosophie wurde zu dem berühmt-berüchtigten Satz von Hegel „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ auch mitgeschrieben: „Das Vernünftige soll gelten“. Die Weltgeschichte ist für Hegel noch längst nicht zu Ende, aber er ist ziemlich gelassen: „Die große Revolution ist geschehen, das Weitere ist der Zeit zu überlassen. Gott hat Zeit genug, was geschehen soll, wird geschehen.“ Er hat seinen Teil getan: Er hat Begriffe entwickelt, z.B. einen Begriff von einem Staat, in dem die Ökonomie (bei ihm heißt das „bürgerliche Gesellschaft“) nicht mehr herrscht, und wenn er dies als Wirklichkeit begreift, so sieht er in der wirklichen Welt die Möglichkeit, dass Staaten auch als existierende immer mehr ihrem Begriff entsprechen, dass also die Ökonomie nicht mehr herrscht. Wenn Menschen dies verstanden haben, gibt es keine Macht der Welt, die verhindert, dass sie das dann auch umsetzen (was nicht heißt, dass sein Staats-Begriff nicht auch Grenzen hätte, die wir heute erkennen können).
November 21, 2014 at 6:37 pm
Der Wissenschaftsphilosophie sprichst Du also jede Bedeutung ab? Du unterstellst allen WissenschaftstheoretikerInnen „prinzipiell skeptische und unsachgemäße Stellung“… Was soll ich damit anfangen… Ist diese Meinung nicht sehr prinzipiell skeptisch und auch unsachgemäß?
November 21, 2014 at 9:29 pm
Ich glaube, wir haben unterschiedliche Auffassungen davon, wie Kritik zu gehen hat. Deshalb fühle ich mich insgesamt sehr falsch missverstanden. Ich will schon immer ein bisschen in meinen Behauptungen über Hegel hinaus. Hegel hat es gar nicht nötig, dass man für sein System Verständnis im Methodischen aufbringt. Verstehen ist das eine, ihm in den einzelnen Argumenten recht geben, das andere.
Der Kapitalismus ist sehr wirklich. Würdest DU etwa zustimmen, dass er auch vernünftig sei? Vielleicht würdigst du das mal einen Augenblick still für dich, anstatt Hegel gleich für seinen Spruch (“Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig”) noch zu verteidigen und diesen dann philosophisch verständnisvoll in sein System einzubetten.
„Das Vernünftige soll gelten“ Na, wenn das nicht mal ein Gottesurteil ist. Wer ist dann für das Sollen zuständig? Die Dinge kritisieren sich nicht selbst und vollenden so ihren Begriff von sich. Das sind dann immer noch Menschen, die das tun, auch in ganz begriffsloser Manier. Aber sie können, wenn sie etwas begriffen haben, die Unvernünftigkeit in diesem Etwas entdecken und haben damit einen sachlichen Grund an der Hand, diese Sache, die erkanntermaßen ihrem Begriff nach etwas sehr Schlechtes für den Menschen ist, zu beseitigen.
„Er hat Begriffe entwickelt, z.B. einen Begriff von einem Staat, in dem die Ökonomie (bei ihm heißt das “bürgerliche Gesellschaft”) nicht mehr herrscht.“ Dann hat er eben einen verkehrten oder sehr widersprüchlichen Begriff vom Staat „entwickelt“ und einen, der zu kritisieren wäre, schließlich lässt (!) der bürgerliche Staat seine Ökonomie „herrschen“. Der Begriff des Staates wird seines ganzen Inhalts entkleidet, wenn die Ökonomie rausgekürzt würde, schließlich wächst er auch an ihr und mit ihr. Das ist ein notwendiges Gegensatzpaar, streicht man das eine durch, fällt auch das andere. Es wäre ein willentlicher Unsinn, dann noch am Staat festzuhalten, wenn die ganze widersprüchliche Ökonomie wegfiele, mal abgesehen davon, dass dieser Staat das niemals zuließe, das man ihm einfach seine Quelle der Macht nehmen würde.
„Wenn Menschen dies verstanden haben, gibt es keine Macht der Welt, die verhindert, dass sie das dann auch umsetzen“ Fragt sich nur WAS, sowohl bei DIES, als auch bei DAS. Und am Gewaltmonopol müssen die dann immer noch vorbei.
Wenn das einzig kritische Moment der entdeckte Mangel ist, Existenz und Wirklichkeit vertauscht zu haben, was ist mit dieser Kritik dann eigentlich korrigiert? Hättest DU (!) mir dann in dem Argument etwa zugestimmt, wenn ich stattdessen Wirklichkeit geschrieben hätte? Ich meine, es wäre genauso verkehrt. Das sind für mich Haarspaltereien und das an der völlig verkehrten Stelle. Ich sage es mal so, wenn Hegel irgendwo geschrieben hätte, dass er aus dem sinnlich gegebenen, Schritt für Schritt, den allgemeinen und notwendigen Begriff der Erscheinung zu entwickeln habe, also so, dass der Begriff am Ende der wissenschaftlichen Befassung steht und nicht am Anfang, dann habe ich keine Einwände dagegen. Würdest du behaupten, es ist gleichgültig, wo der Anfang zu machen ist?
Und übrigens hat Hegel an die Adresse von Krug gemeint, dass es ein Leichtes wäre, die Schreibfeder abzuleiten, auch wenn das kein würdiger Gegenstand sei.
Ansonsten finde ich deine Sicht der Dinge nirgends, hast du überhaupt eine kritische Haltung zu Hegel oder bist du mit seinem Denken schon verschmolzen? Beispiel: „Ich denke nicht, dass das nur so gelesen werden muss, dass aus der Logik die Existenz des Lebens abgeleitet wird.“ Aber wenn er das behauptet hätte, wäre es dann ein Fehler? Auch wenn statt Existenz, Wirklichkeit stünde?
In das Ringen um die originalgetreueste Hegelrezeption will ich mich nicht einmischen. Und mit Hegel kann ich mich nicht mehr streiten, der ist nämlich schon tot. Entweder bei Hegel sind Einsichten zu finden, die was taugen, die will ich mitnehmen. Den Unsinn lasse ich liegen. Was Sinn und Unsinn, darüber streite ich dann auch mal.
Aber ursprünglich wollte ich davon abraten, darum zu ringen, die Dialektik als Methode des Denkens fruchtbar zu machen. Das ist ein Aufwand der sich nicht lohnt. Wenn jemand sein Denken methodisch beschränkt, dann verzichtet er freiwillig (!) auf einige Freiheitsgrade beim Denken – und stellt darüber hinaus noch unsinnige Gesetze und Regeln für das bessere (von welchem Standpunkt aus?) Denken auf, an denen der gemeine Wissenschaftler erst einmal vorbei muss, wenn er etwas gelten will in der (Un-)Wissenschaftstheorie.
November 21, 2014 at 10:17 pm
Okay, mit diesem Hinweis über das Abraten verstehe ich das Anliegen dieser Kommentare besser. Da haben wir tatsächlich unterschiedliche Anliegen. Ich gehe nicht davon aus, dass das Ringen um die Dialektik dazu führen muss, das eigene Denken methodisch zu beschränken. Wenn Du meine anderen wissenschaftsphilosophischen Texte gelesen hättest, wüsstest Du, dass ich z.B. bezüglich der Naturwissenschaft etwas andere Ansichten habe als Hegel. Aber wenn ich anderen Methoden ihre Bedeutung gebe, so nicht auf Kosten der Dialektik.
Auch mir geht es nicht um „die originalgetreueste Hegelrezeption“ (da weiche ich selbst, falls Du das gemerkt hast, zu deutlich davon ab) – aber mir geht es schon auch darum, dass keine Abwertungen vorgenommen werden, die ihm dann tatsächlich nicht gerecht werden. Die Vorstellung, aus der Dialektik ließen sich „Gesetze und Regeln“ aufstellen, ob nun sinnige oder unsinnige, wird ihm z.B. nicht gerecht.
Mehreres, was Du z.B. zum Staat schreibst, auch nicht. Aber da will ich keine ewige und unfruchtbare Diskussion anzetteln. Bei der Art, wie Du meine Ausführungen verstehst, kommen wir tatsächlich nicht überein. Leider bietet diese Art Kommentierung da auch keine günstige Grundlage, von Angesicht zu Angesicht kämen wir da sicher weiter. Ob wir dann nur unsere Differenzen klarer verstehen würden, oder echte Mißverständnisse ausräumen könnten, muss daher wohl ungeklärt bleiben…
November 21, 2014 at 10:22 pm
“ wenn Hegel irgendwo geschrieben hätte, dass er aus dem sinnlich gegebenen, Schritt für Schritt, den allgemeinen und notwendigen Begriff der Erscheinung zu entwickeln hab“
Kennst Du die „Phänomenologie des Geistes“?
November 21, 2014 at 10:36 pm
„Ich glaube, wir haben unterschiedliche Auffassungen davon, wie Kritik zu gehen hat. “
Vor allem geht es in diesem Blogbeitrag tatsächlich nicht schon um eine Hegelkritik. Er referiert eine rationale Interpretation der Hegelschen Dialektik, um dann im Folgenden darauf einzugehen, ob diese materialitisch „umstülpbar“ ist. Dabei wird schon auch Wert darauf gelegt, in dieser Referierung zu zeigen, dass viele Vorstellungen über die Hegelsche Philosophie voreilig sind, dass sie den Weg verbauen, mehr davon zu verstehen.
Dann, viel später, auf Grundlage eines einigermaßen angemessenen Verständnisses, kann Kritik überhaupt erst greifen, ohne sich an einem Pappkameraden abzuarbeiten.
November 22, 2014 at 8:23 am
Ich wollte eben Hegel gar nicht gerecht werden, sondern dein Anliegen kritisieren, die Hegelsche Dialektik „materialistisch umzustülpen und sie für die kritische Psychologie als Denkmethode fruchtbar zu machen. Hegel selbst hat dieses Methodenunwesen kritisiert, werde du (!) ihm doch da mal gerecht.
November 22, 2014 at 9:21 am
Tja, einerseits haben wir ein gewisses Maß an Übereinstimmung: Meine ganze Argumentation zielt ja drauf hinaus zu zeigen, warum das mit der „Umstülpung“ nicht so einfach geht, wie man das im ML üblicherweise gedacht hat.
Andererseits denke ich schon, dass die Hegelsche Dialektik helfen kann, komplexe widersprüchliche Prozesse besser zu verstehen als z.B. mit einem positivistischen oder rein analytischen… Vorgehen. Wie genau, dazu können wir kommen, wenn wir bestimmte unangemessene Vorgehensweisen (wie ein voreiliges „Umstülpen“) kritisiert haben.
Dabei will ich auch nicht unbedingt dem Herrn Hegel „gerecht“ werden, ich möchte nur auf wichtige Erkenntnisse nicht verzichten und sie voreilig aburteilen.
November 27, 2014 at 5:58 pm
[…] ausführlich erläutert wurde, vollzieht die Entwicklung bei Hegel eine Bewegung, bei der das zu Entwickelnde vorausgesetzt wird; […]