- Dieser Text gehört zu „Kultur vor dem Kollaps?“
Es ist nicht einfach abzuschätzen, wie viele Schriftrollen es in der Antike gab. Aber die Produktion dieser Schriften und ihre Aufbewahrung hatte keinen kontinuierlichen Verlauf. Es wird angenommen, dass im 4. und 5. Jahrhundert viel weniger Bücher produziert wurden als davor bzw. danach (Wikipedia). Auch vorher vorhandene Bibliotheken verschwanden, wobei die Ursache oft nicht klar ist. Die folgende Abbildung zeigt den Einbruch der vorhandenen Literatur in der Spätzeit der klassischen Antike.
(Quelle)
Es wird z.B. ein Zusammenhang mit dem Untergang der „gebildeten, wohlhabenden weströmischen Elite“ während des Gotenkrieges vermutet (Wikipedia).
Die Wirren der verschiedensten Religionskriege taten ein Übriges, denn sie waren häufig begleitet von der Vernichtung des jeweiligen Schrifttums der befeindeten Religion. Auch Christen haben daran ihren Anteil. (ebd.) Im Christentum gab es durchaus auch Bemühungen, das antike Bildungsgut mit der christlichen Bildung zu vereinen, aber es wurde tendenziell doch eher als Bedrohung empfunden. Trotzdem entstanden Praxen der Tradierung des Alten.
Es wird von Cassiodor berichtet, der nach 540 das Kloster Vivarium gründete. Er sammelte und übersetzte Bücher. „Sein erklärtes Ziel war die Rettung der klassischen Bildung, und er machte als erster das Kopieren von Büchern zur Pflicht für Mönche.“ (Wikipedia).
Es war wohl auch die Reduzierung des Schriftmaterials, die die Umschreibungen der Texte von Papyrus auf Pergament motivierte. Nur die auf Pergament umgeschriebenen Texte hatten überhaupt eine Chance, weiter tradiert zu werden.
Aber die Ablehnung aller „heidnischen“, d.h. nicht direkt religiös-schriftlichen Werke in der frühen christlichen Kultur führte auch im Klerus zu einem Sinken des Bildungsgrads. Man hatte Mühe, wenigstens abzusichern, dass die Bischöfe keine Analphabeten waren.
Auch die Mönche, die alte Schriften kopierten, malten oft nur die Zeichen ab und verstanden sie gar nicht. Der Vorteil davon war, dass sie auch wenig verfälschen konnten. Das eher der asketischen Übung dienende Abschreiben war eine ganz andere Art der Überlieferung, als der aktiv-dynamische Zugriff der arabischen Geisteswelt. Erst über den islamischen Umweg wurde das antike Bildungsgut später in Europa wieder zu einer wichtigen Basis der Kulturentwicklung.
Die klösterlichen Kopien dagegen befeuerten die Köpfe noch nicht. „Im einzelnen ging es darum, die noch vorhandenen Kenntnisse lexikalisch festzuhalten und zwar mit wachsender Reduktion der Substanz.“ – schreibt Friedrich Prinz (2002)
Wie wenig von dem Wissen tatsächlich überliefert wurde, wird am Werk eines der klügsten und eifrigsten der Bewahrer, des Bischofs von Sevilla, Isidor, deutlich. Prinz schätzt ein, dass in dessen enzyklopädischen Texten „ überall dort gravierende Defizite hervor[treten], wo es um Rechenoperationen oder um besonders komplexe Wissenschaftsbereiche geht, die rein additiv und deskriptiv nicht zu vermitteln sind“. Erst im 9. Jahrhundert wandelte sich die eher passiver Überlieferung hin zu aktiver und auch kreativer Umarbeitung.
Trotzdem wurden die vor allem seit dem 7. und 8. Jahrhundert überlieferten antiken Werke eine wichtige Grundlage der sog. „karolingischen Renaissance“.
„Viele und wichtige antike Texte wären uns unbekannt, hätten nicht mittelalterliche Skriptorien in Klöstern und Domkapiteln für Abschriften antiker Vorlagen gesorgt beziehungsweise für die redaktionelle Zusammenführung von überlieferten Fragmenten.“ (Prinz 2002)
Diese geschichtlichen Erfahrungen greift Morris Berman auf, wenn er den Untergang der klassischen antiken Welt mit dem derzeitigen Weltzustand vergleicht.
Was tun?
Berman schlägt vor, den Kulturgütern unserer Vergangenheit eine Chance zu geben, in dem wir ebenfalls die „monastische Option“ wählen. Dabei komme es gar nicht darauf an, dass die Informationen auf den Buchseiten bewahrt bleiben, denn „davon gibt’s im Überfluss“.
Aber gerade dieser Überfluss führt derzeit zu einer Unterschätzung ihrer Bedeutung. Ich erinnere mich daran, dass am Ende der Spätantike nur jene Texte eine Chance der Überlieferung bekamen, die von Papyrus auf Pergament umgeschrieben wurden. Heute ist auch klar: Bücher, die es nur in analoger Form gibt, die nicht digitalisiert werden, gehen verloren. Noch steht z.B. in meinem Bücherregal eine Sammlung zum Thema „Philosophie und Naturwissenschaften“ aus DDR-Zeiten, die verloren gehen wird, wenn sie nicht digitalisiert wird. Weniges, was da auch steht, wird mittlerweile vom Projekt „Philosophie digital 2.0“ des Marx-Stirner-Archivs digitalisiert und online gestellt.
Das Digitalisierungsprojekt von Google kann ich hier leider nicht als Hoffnung nennen. Denn es folgt letztlich bloß kommerzielle Interessen und ist bereits in seinen Verbreitungsmöglichkeiten beschränkt worden, weil es kommerzielle Interessen von Inhaltsurhebern verletzt. Die technische Möglichkeit, alles Wissen wirklich allen Menschen zur Verfügung stellen zu können wird stranguliert von der Notwendigkeit, dass alles durch den Flaschenhals der profitablen Verwertung muss.
Und ob die digitalisierten Inhalte wirklich „überwintern“ können, bis Menschen mal wieder das Interesse und eine ausreichende Aufmerksamkeitsspanne sowie die Bereitschaft, Verständnisbarrieren zu überwunden, entwickelt haben, bleibt ungewiss. Die elektronischen Speicher sind viel anfälliger für Verluste, z.B. durch das Abschalten der energiefressenden Server, als stoffliche Datenträger.
Es geht dabei auch nicht nur um das Vorhandensein der Wissensinhalte, ob nun analog oder digital. Was sich kulturell stark verändert, ist ja das Verhalten der Menschen, ihre Fähigkeiten und Interessen (siehe dazu auch den Blogbeitrag „Kultur der digitalen Vernetzung“). Zwar waren die Bücherwürmer der alten Zeit auch in ihrer Zeit eine Ausnahme gegenüber den vielen, vielen Nicht- oder Kaumlesern. Aber bei der Frage nach Hobbies wurde „Lesen“ doch recht häufig geäußert und zum Bildungskanon gehörte die Grundkenntnis und das Grundverständnis von literarischen Texten. Dies wird sich verlieren. Und wer es dann noch stundenlang über Büchern (außer vielleicht den dicken Phantasy-Wälzern) aushält, während so viele Online-Angebote übersehen werden, wird immer mehr zum Außenseiter.
Noch leben viele, die mit der Buchkultur aufgewachsen sind und betreiben beides parallel. Künftigen Generationen wird es immer schwerer fallen, über längeren zusammenhängenden und vielleicht auch noch schwer verständlichen Texten zu brüten, während auf den Bildschirmen ringsherum verlockende Bilder flimmern.
Morris Berman wirbt dafür, sich entgegen diesem Trend weiterhin für die Werte der Aufklärung stark zu machen, „das interesselose Verfolgen der Wahrheit, die Pflege der Kunst, die Verpflichtung zum kritischen Denken“ zu bewahren. Es geht darum, „private, lokale Zonen der Intelligenz“ zu schaffen. Dann muss man darauf verzichten, im Trend zu sein. Im Sinne eines „geistigen Nomadentums“ kommt es darauf an, den eigenen Weg weiter zugehen.
Es hat keinen Sinn, sich wieder unter einem Label wie den „Klöstern“ zu vereinen. Berman spricht sich für eine individuelles, informelles Aufrechterhalten der klassischen, jetzt aus der Mode kommenden Lebensweise aus. Als Motto für diese Lebensweise zitiert er den Dichter Bashô aus dem 17.Jhd.:
Reisend durch die Welt
Hin und her, hin und her
Bestellend ein kleines Feld.
Ob auf diesem Feld mal wieder etwas aufgeht, bleibt unbestimmt. Die Geschichtsphilosophie, der Berman folgt, enthält zwar so etwas wie eine Zyklizität. Und er geht davon aus, dass den Menschen ein Verlangen nach Sinn eigen ist, der die postmodernen Zeiten immer in Frage stellt. Trotzdem gibt es natürlich keine Gewissheit, denn, „[d]ie Geschichte ist launisch und nicht-linear; sie verspricht nichts. Was wir jedoch sagen können ist, daß ohne diese Aktivität keine solche Bewahrung stattfinden wird…“ (Berman 2003)
„Man öffnet vielleicht Wurmlöcher, durch die ein Historiker in zweihundert Jahren sehen könnte, um zu sagen: „Klar, so mußte es kommen.““
Diese „monastische Option“ entspricht natürlich den tiefsten Bedürfnissen eines Intellektuellen. Ich kann mich ihrer Faszination auch nicht entziehen und verstehe z.B. auch diese Blogbeiträge als das Bestellen meines kleinen Feldes. Der Trend zieht auch an mir vorbei, ohne Facebook und Twitter, mit abgeschalteter Like-Funktion in meinem Blog verschließe ich mich den neuen sozialen Vernetzungsangeboten. Zwar sinkt die Zugriffszahl auf meine Webseiten nicht, aber sie steigt auch nicht mehr an und die sich daraus ergebende direkte Kommunikation oder Kommentierung hat in den letzten Jahren kontinuierlich an Quantität und Qualität verloren. Ich freue mich an meiner Bibliothek mit ihrer „Quasselbude“, dieser „privaten, lokalen Zone der Intelligenz“.
Ja, wir „wursteln uns so durch“. Denn wir leben immer noch in der Krise, die schon Antonio Gramsci so beschrieb:
„Die Krise besteht eben darin, daß das Alte abstirbt und das Neue noch nicht geboren werden kann; während dieses Interregnums zeigt sich eine enorme Vielfalt morbider Symptome.“
Bis dahin bleibt mir nichts übrig, als im Durchwursteln das Doppelleben aufrecht zu erhalten, mit dem ich den Notwendigen des Alten Tribut zolle, d.h. lohnarbeiten gehe und eine größere Öffentlichkeit vermisse und gleichzeitig „mein Feld bestelle“.
Mal sehen, was draus wird.
Literatur
- Berman, Morris (2003): Kultur vor dem Kollaps? Wegbereiter Amerika. Frankfurt am Main: Edition Büchergilde. 2003.
- Grant, Michael (1994): Die Geschichte Roms. Von den Etruskern bis zum Untergang des Römischen Reiches. Bergisch-Gladbach: Bastei Lübbe.
- Prinz, Friedrich (2002): Europas geistige Anfänge. Zeit online. (vgl.: Prinz, Friedrich (2004): Von den geistigen Anfängen Europas. Der Kulturtransfer zwischen christlicher Spätantike und Frühmittelalter. In: Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2004, hrsg. von D. Hägermann, W.Haubrichs, J. Jarnut. S. 1-17.)
- Weber, Max (1896): Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur. Nach einem populären Vortrag in der akademischen Gesellschaft in Freiburg i.B.. In: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. (Hrsg. von Marianne Weber), Tübingen 1988.
- Will, Wolfgang (1991): Der römische Mob – soziale Konflikte in der späten Republik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Juli 25, 2015 at 9:58 pm
Was wäre geworden, wenn es das Christentum nicht gegeben hätte?
Juli 26, 2015 at 6:49 pm
Ich denke, dann hätte die Religion einer anderen der zuerst so zahlreichen Sekten sich durchgesetzt, denn die Zeit für eine dominierende Religion schien reif zu sein. Das ist dann ein Thema der Religionsgeschichte, wo ich mich aber nicht so gut auskenne…
Juli 26, 2015 at 7:03 pm
Vielleicht gäbe es die Prüderie nicht, die Grundlage für sexuellen Missbrauch und Porno-Industrie?
Juli 26, 2015 at 7:05 pm
Vielleicht wäre die Naturwissenschaft viel weiter fortgeschritten?!
Juli 26, 2015 at 8:12 pm
Ich bin mir nicht so sicher, dass diese Fortschritt nur durch die Christen verhindert wurden, oder ob die gesellschaftliche Entwicklung damals auch andere Blockaden hatte oder gehabt hätte. Moscovici (Versuch über die menschliche Geschichte der Natur) beschreibt sehr schön den Zusammenhang zwischen jeweiliger gesellschaftlicher Entwicklung und den entsprechenden Wissens- und Erforschungskulturen. Es ist ja historisch sowieso eher ein Wunder, dass ab irgendwann kurz vor 1200 in Europa, verstärkt noch mal nach 1600 so eine dynamische Entwicklung einsetzte (Vgl. Mitterauer: Warum Europa?).
Juli 26, 2015 at 7:07 pm
Vielleicht wären wir bereits im Himmel, weil die Antichristen nicht die Herrschaft hätten übernehmen können?!
Juli 26, 2015 at 10:50 pm
Religion als eine Form der Weltanschauung musste sich notwendigerweise entwickeln als es noch keine Möglichkeit für eine wissenschaftliche Weltanschauung gab. Aus Anettes Artikel wird ja auch einer von vielen positiven Aspekten deutlich. Die Kirche hat doch während ein paar Jährchen durchaus eine positive Rolle gehabt.
Nachdem sich herausgestellt hatte, dass sie darüberhinaus durch ihren normativen Charakter ein überaus effizientes Managementwerkzeug ist, scheute man keine Kosten und Mühen sie weiterzuentwickeln.
Wir wollen auch nicht den enormen Wirtschaftsfaktor vergessen: Klöster, Kreuzzüge. Und wenn das Abendland nicht unter dem Symbol des Kreuzes verteidigt worden wäre, wärst Du heute vielleicht Vorsteher einer Jurte: https://de.wikipedia.org/wiki/Ungarneinf%C3%A4lle
Juli 27, 2015 at 9:21 pm
Ja, der Krieg ist gut, weil er uns Teflon bringt, usw.
Juli 27, 2015 at 9:23 pm
Ganz falsch – richtig ist:
Der Faschismus ist gut, weil er uns Autobahnen bringt!
Juli 28, 2015 at 6:36 am
Nein, so wollte ich nicht verstanden werden. Ich denke aber, dass es unbestritten ist, dass die Kirche für eine bestimmte Zeit eine progressive Rolle ausübte. Dass diese Zeit viel kürzer war als deren Lebensdauer ist, haben viele mit dem Leben bezahlt und ist ein Beweis für die mangelnde Qualität der meisten Bildungssysteme seitdem.
Juli 28, 2015 at 7:49 am
„Ich denke aber, dass es unbestritten ist, dass die Kirche für eine bestimmte Zeit eine progressive Rolle ausübte.“
Welche Zeit war das?
Juli 28, 2015 at 9:36 am
Letztmalig als Hebamme des Kapitalismus: „[…]; aber die bürgerliche Gesellschaft vollendet sich erst in der christlichen Welt. Nur unter der Herrschaft des Christentums, welches alle nationalen, natürlichen, sittlichen, theoretischen Verhältnisse dem Menschen äußerlich macht, konnte die bürgerliche Gesellschaft sich vollständig vom Staatsleben trennen, alle Gattungsbande des Menschen zerreißen, den Egoismus, das eigennützige Bedürfnis an die Stelle dieser Gattungsbande setzen, die Menschenwelt in eine Welt atomistischer, feindlich sich gegenüberstehender Individuen auflösen.“ (Marx: Zur Judenfrage).
Und das ist ja wohl die Voraussetzung für alles was in der Zukunft nach dem mehr oder weniger schnell erwartetem Ende des Kap. kommen wird.
Juli 25, 2015 at 10:19 pm
Aus einem Blog anspruchsvolle Kommunikation generieren zu wollen ist sehr anspruchsvoll. Ich sehe das Problem under anderem darin, dass der Autor eines Beitrags tiefer in eine Materie eindringt, während die Leser auch „etwas“ zum Thema wissen, aber oft nicht in der für anspruchsvolle Kommunikaktion notwendigen Tiefe.
Gute Dialoge erfordern langfristige Beziehungen und gemeinsame Arbeit. Beim Suchen von Material zu meinem vorherigem Kommentar bin ich auf eine Studiengruppe gestoßen: http://www.massline.org/ScienceGrp/index.htm. Dass gemeinsame Bearbeiten eines Themas kann ein Weg vorwärts sein. Auch hier gibt es viele Beispiele: http://hypotheses.org/?lang=de_DE – Einzel- und Gemeinschaftsblogs.
Mit den heutigen technischen Möglichkeiten kann man auch hervorragend über’s Internet zusammen. Ein Blogpost oder auch ein richtiges Paper zu einem Thema währen da eher der Abschluss der Kommunikation innerhalb einer Gruppe.
Juli 26, 2015 at 8:00 pm
Ich antworte auf diesen Kommentar mit dem Beitrag: https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2015/07/26/wofuer-ist-das-internet-gut/
Juli 28, 2015 at 7:55 am
„… ist ein Beweis für die mangelnde Qualität der meisten Bildungssysteme seitdem.“
Diese Aussage verstehe ich nicht, bitte daher um Erläuterung
Juli 28, 2015 at 2:00 pm
Noch immer wird Religion in Schulen unterrichtet…
Juli 28, 2015 at 9:03 pm
Beide, Kirche und Bildungssystem, in dem Religion als Glauben und nicht als Wissen unterrichtet wird, dienen dem Erhalt von Unterdrückungsmechanismen.