Das 21. Jahrhundert ist voll von Problemen. Zwar ist die Menschheit so reich wie nie. Reich an produktiven Kräften, an technischen Errungenschaften, an Konsumgütern wie keine Generation vorher – das bezahlen wir aber mit dem Verlust einer intakten ökologischen Umwelt und wir schaffen es nicht einmal, dass alle Menschen dieser Erde daran partizipieren können.

Wohlstand ist bisher nur zu erreichen auf Kosten natürlicher Ressourcen und auf Kosten des Lebensniveaus anderer Menschen. Egal wie wir über diese Gesellschaft denken – wir können unser Leben nur fristen in Kooperation mit anderen; wir brauchen Ressourcen und Leistungen anderer und können diese derzeit aber nur über das Medium Geld erreichen, das wir nur bekommen, wenn wir uns beteiligen an der Aufrechterhaltung der herrschenden Wirtschaftsordnung. Die Allermeisten stecken den größten Teil ihres Lebens in Hamsterrädern, egal ob auf der Arbeit, dem Hobby oder den alltäglichen Verrichtungen. Das weit verbreitete Stöhnen über den Montag und das Warten auf Freitag zeigt, wie sehr sich viele wenigstens über einen kurzzeitigen Ausstieg aus einem der Räder freuen… Kann das schon alles sein, was wir im Leben erreichen können?
Jede einzelne Person hat ihre eigenen, jeweils individuellen Gründe für die Art und Weise der Beteiligung an den Prozessen, die die Welt am Laufen halten oder aufzuhalten versuchen. Bei aller Fremdbestimmtheit des Lebens leiten sich aus den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht ganz konkret und direkt die einzelnen Handlungen jedes Individuums ab. Was gesamtgesellschaftlich notwendig ist (um das System als Ganzes immer wieder neu zu erzeugen), begegnet dem einzelnen Menschen nur als Handlungsmöglichkeit. Zwar müssen in der Summe insgesamt genügend Beiträge zur immer wieder erneuten Reproduktion der Gesellschaft kommen, aber das übersetzt sich nicht direkt wie ein mechanisches Getriebe auf die Ebene der einzelnen Menschen.

Es gibt in dieser Welt noch genug Zwang, um die Freude über die Möglichkeitsbeziehung der Menschen gegenüber der Welt zu trüben – aber der durch Menschen auf andere Menschen ausgeübte Zwang ist keine direkte Folge der systemischen Notwendigkeit, sondern wiederum vermittelt über Handlungsgründe der zwingenden Menschen. Die individuellen Handlungen sind nicht direkt vorherbestimmt durch das Ganze. Sie sind nicht unvermittelt, sie folgen nicht ohne zusätzliche Vermittlungsebenen und -schritte aus ihnen.

Wenn die Rahmenbedingungen das Tun der Menschen direkt bestimmen würden, wären Menschen nur Automaten oder Reiz-Reaktions-Apparate. Karl Marx analysierte die Gesetze der immer wieder erneuten Reproduktion (Erneuerung) der kapitalistischen Strukturen der derzeit dominanten Wirtschaft auf unserem Planeten. In seiner „Kritik der Politischen Ökonomie“ abstrahierte er deshalb von dem Wesensmerkmal der Menschen, nicht nur unter Bedingungen zu stehen, sondern ihre Bedingungenselbst zu schaffen und sich gegenüber Möglichkeiten bewusst verhalten zu können, und bestimmte sie lediglich als „Charaktermasken“ für Funktionen des Kapitals. Als solche drehen sie am Rad der Reproduktion dieser Gesellschaft. Aber genau das sind Menschen eben nicht nur. Sie sind immer mehr, als nur Funktionsausübende des herrschenden Systems. Menschen sind Wesen, die ihre Lebensbedingungen im gesellschaftlichen Zusammenhang mit anderen selbst gestalten, die nicht nur unter Bedingungen stehen. Sie haben eine „gnostische Distanz“ gegenüber dem Gegebenen, sie fühlen nicht nur unmittelbar, sondern sie können sich ihrer Situation in der Welt und dieser gegenüber bewusst verhalten.
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Diese Vorstellung vom Menschen ist fundamental für das Konzept der Kritischen Psychologie. Wir brauchen in der Kritischen Psychologie kein Menschen“bild“ von nur „guten“ Menschen – im Gegenteil, mit ihr können wir auch problematisches Handeln als begründet verstehen (ohne es damit gleich zu entschuldigen).

Mit der Kritischen Psychologie schauen wir nicht darauf, welchen Bedingungen die Menschen unterworfen sind, sondern wir fragen nach Vermittlungen, die zwischen gesellschaftlicher Gesamtheit und individuellem Handeln die jeweils individuellen Gründe für dieses Handeln beeinflussen. Dabei gibt es unterschiedliche Vermittlungsebenen, wie die (soziale) Lage und Position des Menschen, die Bedeutungen die gesellschaftliche Gegebenheiten für ihn haben und auch seine alltäglichen Lebensführungsprozesse. Die Hamsterräder sind nicht direkt kurzgeschlossen mit dem Ganzen, sondern sind unterschiedlich gefärbt, einige führen tatsächlich dazu, dass Menschen Bedürfnisse befriedigen können– und wenn es das nach einer funktionierenden Routine und Ordnung ist – und dazwischen gibt es allerlei Freiräume.

Wenn diese Vermittlungsebenen nicht berücksichtigt werden, werden alte Sichtweisen und entmündigende Praxen wiederholt. (In früheren Vorstellungen über die Arbeiterklasse wurde versucht, aus der objektiven Lebenslage von ArbeiterInnen abzuleiten, wie sie sich fühlen, wie sie denken und wie sei daraufhin handeln würden. Dass sie nicht wie erwartet revolutionär handelten, wurde dann auf die Beeinflussung durch die bürgerliche Ideologie geschoben. Dabei wurde außer Acht gelassen, dass solch eine Ansicht die Menschen wiederum bloß zu Charaktermasken degradiert. Die diesem veralteten Konzept entsprechende Verhaltensweise der Pädagogisierung und der Gängelung sollte sich mit dem Ende des Realsozialismus eigentlich erledigt haben, ist es aber leider nicht.)

Wir leben tatsächlich in einer Welt, in der bestimmte Strukturen vorhanden sind, die bestimmte Handlungsoptionen nahelegen und andere erschweren. Es gibt so etwas wie objektive Bedingungen und gesellschaftliche Verhältnisse. Für mein Handeln werden sie insofern bedeutsam, als ich ihnen zu bestimmten Teilen ausgesetzt bin, dass sie Bedeutung für mich haben.
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Aber es ist eben nicht das Ganze, das mich direkt determiniert – mir „zugewandt“ ist jeweils nur ein Teil des Ganzen. Nur diesen erfahre ich als Sozialstruktur. Und diese Sozialstruktur hat nicht für jedes Individuum in jeder Situation dieselbe Bedeutung. „Für sein Geld arbeiten“ bedeutet für den einen die Möglichkeit der Befreiung als patriarchalen Verhältnissen, für eine andere die Unterordnung unter den fremden Zweck der Profitvermehrung anderer. Dass wir Kraft in die Bewegung von Hamsterrädern stecken wird von einigen als das „normale Leben“ angesehen, von anderen aber heftig in Frage gestellt.

Einem Arbeitslosen „wird es nicht gelingen, aus dem Elend herauszukommen, aber mitten in diesem Elend, an dem er klebt, kann er wählen, in seinem Namen und im Namen aller anderen gegen alle Formen des Elends zu kämpfen; er kann wählen, der Mensch zu sein, der es ablehnt, daß das Elend das Los der Menschen sei“ (Sartre 1944: 60).

Die Bedingungen mögen für viele Menschen dieselben sein – ihre Bedeutung wird von jedem Menschen selbst gemacht. Es gibt zwar gesellschaftlich dominante Denkformen, die bestimmte Deutungen nahe legen (z.B. dass Erwerbslose „selbst schuld“ seien), aber ich muss sie nicht übernehmen. Trotzdem muss ich mir immer bewusst bleiben, dass individuelle Erfahrungen in gesellschaftlichen Denkformen gemacht werden (vgl. Markard 2000: 35).

Und es sind die von mir gemachten Bedeutungen, die zu den Prämissen meiner Handlungen werden, nicht die Bedingungen in unvermittelter Weise. Eine Prämisse wirkt also nicht nur auf das Individuum ein, sondern das Individuum macht dessen Bedeutungen für es zu seiner Prämisse. Menschliches Handeln unterliegt nicht dem Muster von Bedingung (als Ursache) und Ereignis (als Wirkung), sondern wir handeln begründet unter Prämissen.

„Wenn wir etwas wahrnehmen und erkennen, so erkennen wir es stets „für uns“. Wir erschließen uns die außerhalb von uns liegende objektive Welt dadurch, dass sie – die Personen, Dinge, Verhältnisse etc. – für uns eine bestimmte Bedeutung haben. Diese Bedeutungen sind den Personen, Dingen etc. gesellschaftlich zugewiesen (Sozialstruktur). Wie schon ausgeführt, wird diese gesellschaftliche Zuweisung von uns aber auf eine besondere Art und Weise bearbeitet. Das Ergebnis dieser „Bearbeitung“ sind die subjektiven Bedeutungen, die wir Menschen, Personen, Verhältnissen etc. zuweisen. Von diesen subjektiven Bedeutungen und dem Stellenwert, den sie in unserem Leben haben, hängen die Beurteilung einer Situation und die daraus abgeleiteten Handlungsgründe ab.“ (Bader 2016: 107-108)

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Diese Gründe sind immer „gute“ Gründe in dem Sinne, dass ich sie ausgehend von den mir zugänglichen Prämissen und meinen Lebensinteressen als Grundlage für mein Handeln gewählt habe bzw. bisher noch nicht geändert habe, weil sie mein Leben und meine Handlungsfähigkeit ermöglicht haben. Wie schon erwähnt: auch das Hamsterradtreten ist für viele zumindest für eine gewisse Zeit nicht nur erträglich, sondern auch einträglich und die Bewegungsroutine vermittelt Sicherheit und Könner möchten die Gelegenheit sich zu beweisen, sicher nicht missen.

Wenn das Leben befriedigend ist und ich mit meiner Handlungsfähigkeit zufrieden bin, bleiben diese Gründe auch „gut“ für mich. Es sollte aus der Subjektperspektive heraus klar sein, dass die Bewertung keinem anderen Menschen zukommt als mir allein. Probleme in meiner Lebensführung können aber dazu führen, dass ich die Gründe zu hinterfragen beginne…
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Mit der Kritische Psychologie können wir nicht untersuchen, warum die Menschen so sind wie sie sind bzw. sich so verhalten wie sie sich verhalten, um dieses Verhalten zu beeinflussen, zu regeln und zu nutzen – in welchem politischen Interesse auch immer. Wir können mit ihr nicht – weil die Kritische Psychologie eine Subjektwissenschaft im wahrsten Sinne ist – die anderen Menschen als Objekte unserer Studien betrachten und sie in Schemata einsortieren. Wir können nur, gemeinsam mit ihnen, die Kritische Psychologie nutzen, um uns selbst auf die Schliche zu kommen, wo wir uns mit unserem bisherigen Verhalten, unseren bisherigen Handlungsgründen selbst im Weg stehen oder gar schaden.
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Das folgende Bild fasst einige der zwischen Bedingungen und begründetem Handeln vermittelnden Aspekte zusammen:
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