Es gibt viele Gründe, einfach das zu tun, was man die letzte Zeit auch schon immer getan hat. Irgendwie wird es schon weiter gehen… Aber manchmal kommen sogar die Hamsterräder ins Stocken oder sie kollidieren. Oder die Lust und Kraft zum Treten lässt nach. Dann entsteht ein Problem.
Solange dann Routinen zur Problemlösung noch funktionieren, ist es auch gut – aber das klappt nicht immer und oft auch nicht für immer.
Wenn die sinnvollen Handlungsalternativen offensichtlich wären, würde keine Gesprächsführung im Sinne der gemeinsamen Selbstverständigung notwendig sein. Irgend etwas hindert mich oft daran, alleine auf die richtigen Gedanken zu kommen. Was könnte das sein? Auch wenn ich schon mehrere Alternativen versucht habe, befinde ich mich mittlerweile wieder auf (für mich wiederholt) ausgefahrenen Gleisen. Ich muss diesen Teufelskreis durchbrechen. Ich suche nach jenen Auswegen, die ich bisher übersehen habe.
Dabei gehe ich davon aus, dass dieses Übersehen nicht nur eine persönliche Fehlleistung ist, sondern dass sie was mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun hat, in denen ich lebe. Im Konzept der Kritischen Psychologie gibt es dafür das Begriffspaar der „restriktiven“ und der „verallgemeinerten“ Handlungsfähigkeit. Dieses Begriffspaar dient nicht dazu, andere Menschen einzusortieren („die handelt restriktiv – jener verallgemeinert“) oder auch Verhaltensweisen zu bewerten. Das wären Zuschreibungen von außen. Nein, es geht darum, mir selbst meine Handlungsoptionen zu verdeutlichen (worüber ich natürlich mich natürlich auch mit anderen austauschen kann – aber die Perspektive aus den Individuen heraus statt auf sie herab ist wesentlich für ein Kritisch-psychologisches Vorgehen). Letztlich strebe ich als Mensch danach, mein Leben zu leben, indem ich die gesellschaftlichen Möglichkeiten nutze. Mir steht nie alles auf einmal zu und unter den Bedingungen des Kapitalismus wird mir die Verfügung über diese möglichen Bedingungen noch zusätzlich auf vielerlei Weise beschnitten. So muss die Befriedigung fast aller Bedürfnisse durch den Flaschenhals des Bezahlens mit Geld, auch wenn das, was ich dazu brauche, letztlich nicht einmal knapp ist (wie wissenschaftliche Informationen).
Der Begriff „Handlungsfähigkeit“ bezieht sich in der Kritischen Psychologie also nicht einfach bloß auf eine persönliche Befähigung, irgendwie zu handeln, sondern darauf, inwieweit ich in meiner Lebensführung über die Bedingungen meines Lebens und der Befriedigung meiner Bedürfnisse verfügen kann. Nach Holzkamp (1983) ist das Streben nach Handlungsfähigkeit das Grundbedürfnis der Menschen und im Kapitalismus wird es durch das Privateigentum an den wichtigsten Produktionsmitteln so beschnitten, dass meine Verfügung über die Mittel zu meiner Bedürfnisbefriedigung – also meine Handlungsfähigkeit – an mein Funktionieren im Prozess der Profiterwirtschaftung für die Eigentümer der Produktionsmittel gebunden ist. Um mich bewegen zu können, brauche ich leider das Hamsterrad, mit dem versucht wird, Profite zu scheffeln. Andere Lebensmöglichkeiten, d.h. Bewegungsmittel müsste ich erst mühsam suchen bzw. selbst und mit anderen entwickeln und der Weg dahin entspricht eher einem riskanten Seiltanzen als einem entspannten Gehen.
Ob jemanden das Hamsterradtreten und was genau dabei stört, d.h. wie sich die Grundstruktur des Kapitalismus auf andere Restriktionen der Bedürfnisbefriedigung einwirkt, kann nur jede Person für sich selbst herausfinden und artikulieren. Rainer Seidel (2000) machte darauf aufmerksam, dass die Ziele, die ein Individuum sich setzt, in der Kritischen Psychologie noch eine Leerstelle sind. Denn von ihnen hängt es ab, ob die Behinderung der Möglichkeiten in der jetzigen Gesellschaft überhaupt als Problem wahrgenommen wird.
Das Normalste der Welt, nach die Bedürfnisse immer reicher und vielfältiger werden zu lassen, über immer mehr (z.B. Wissen) zu verfügen, ist nun aber nicht selbstverständlich in einer Gesellschaft, in der einige sich auf Kosten anderer bereichern und mit aller Macht verhindert wird, dass Menschen sich unabhängig machen können von ihrer Abhängigkeit von der global-kapitalistischen Profitmach-Maschinerie. Normal wäre eine immer weitergehende gemeinsame Erweiterung der gesellschaftlichen Lebensmöglichkeiten. Wenn ich mich selbst gerade in diese Richtung bewege, so wird diese Option in der Kritischen Psychologie als „verallgemeinerte Handlungsfähigkeit“ bezeichnet. Diese Handlungsfähigkeit ist deshalb „verallgemeinert“, weil letztlich die gesellschaftlichen Lebensmöglichkeiten nur gemeinsam erweitert werden können und nicht durch mich allein (vgl. Holzkamp 1983: 2). Gegenüber dieser grundsätzlich vorausgesetzten Möglichkeit spielt sich das Handeln hier und heute häufig in einer demgegenüber beschränkten Form ab. Ich muss immer wieder Optionen wählen, die im Vergleich zu dieser verallgemeinerten Handlungsfähigkeit beschränkt sind.
Schon Brecht wusste, dass man innerhalb der gegebenen Bedingungen zwei Arten von Klugheit braucht:
Zweierlei Arten von Klugheit
„Um sein Abendessen zu erwerben, braucht man Klugheit; sie kann darin bestehen, daß man den Vorgesetzten Gehorsam erweist. Eine Klugheit anderer Art mag einen dazu bringen, das System von Vorgesetzten und Zurückgesetzten abzuschaffen. Jedoch braucht man auch für dieses Unternehmen noch die Klugheit der ersten Art, da man ja auch, um dieses Unternehmen auszuführen, zu Abend essen muss.“ (Brecht GA 18: 151) |
Zu Brechts Bezügen zur Psychologie hat
Michael Zander einen interessanten Beitrag geschrieben (Zander 2008).
Ich hoffe, dass mich das Hamsterrad dahin bringt, wo ich hin will. Diese Richtung meiner Handlungsfähigkeit wird „restriktive Handlungsfähigkeit“ genannt. Vermutlich ist es für mich vor allem dann vorteilhaft im Sinne der bloß restriktiven Handlungsfähigkeit zu agieren, wenn der Versuch, im Sinne der verallgemeinerten Handlungsfähigkeit zu handeln, riskant ist. Wenn ich benötigte Dinge stehle, kann ich ins Gefängnis kommen; wenn ich mir keinen Job suche, habe ich kein Geld zum Leben, wenn ich die gegebene Gesellschaftsordnung in Frage stelle, muss ich irgendwann auch mit Gegenmaßnahmen leben und vorerst auch mit dem Wissen leben, dass meine Lebenschancen unverschuldet beschränkt werden, ohne dass ich unmittelbar und sofort etwas dagegen tun kann. Ein Verleugnen der Schranken ist häufig schmerzloser, so wie ein Fisch, der im Fischglas herumschwimmt, ganz zufrieden sein kann, solange er nicht ans Glas stupst.
„Unser Zentralbegriff „(restriktive) Handlungsfähigkeit“ zielt auf die Klärung der Frage wie und warum je ich in meiner Lebensbewältigung eigene Lebensinteressen und die anderer verletze – unter der Voraussetzung gesellschaftlicher (Klassen-)Strukturen, die dies als „subjektiv begründet“ nahelegen.“ (Maiers 2000: 211-22)
Diese Erkenntnis kann genutzt werden, um andere Möglichkeiten zu suchen, die Bedürfnisse zu befriedigen oder die eigenen Interesse zu verfolgen, die mir und anderen zumindest etwas weniger schaden. Man kann nicht verlangen, dass die Erkenntnisse direkt von der sog. „restriktiven Handlungsfähigkeit“ in die „verallgemeinerte Handlungsfähigkeit“ führen sollen; solch eine normative Vorgabe würde sowieso der Subjektperspektive der Kritischen Psychologie widersprechen.
Solange ich mit Handlungen gut hinkomme, die in diesem restriktiven Modus begründet sind, besteht aus Kritisch-Psychologischer Sicht hier auch kein Problem (wenngleich antikapitalistische Politik das auch als Problem ansieht – in der Kritischen Psychologie geht es aber nicht darum, was jemand aus einem übergeordneten („politischen“) Gesichtspunkt heraus annimmt, der mich als Subjekt der Entscheidungen über meine Möglichkeiten nicht ernst nehmen würde).
„Die Kritische Psychologie kritisiert nicht mehr für das Subjekt und sagt dem Subjekt nicht mehr, was Fortschritt ist. Vielmehr stellt sie dezent eine zur Kritik befähigende Begrifflichkeit zu Verfügung, um das Subjekt im Prozess der Selbstreflexion zu unterstützen.“ (Baller 2011: 19)
Wenn ich jedoch Probleme feststelle, die sich auf meine Befindlichkeit in dieser Welt, auf meine Handlungsmöglichkeiten in ihr beziehen, so kann ich auf der Grundlage der Begriffe der Kritischen Psychologie – möglichst gemeinsam mit anderen – herausbekommen, wie diese Probleme mit den Beschränkungen in dieser Gesellschaft zusammenhängen, und wie ich damit besser umgehen kann, auch wenn ich diese Gesellschaft nicht alleine und nicht sofort revolutionieren kann.
Die Notwendigkeit, meine Begründungen zu hinterfragen, entsteht vor allem dann, wenn ich in einer restriktiven Weise der Lebensbewältigung in Widersprüche gelange. Die hängen damit zusammen, dass ich damit eigentlich die Strukturen bestätige und sogar noch stärke, die mich in der Erweiterung meiner Möglichkeiten behindern. Das Hamsterrad, das ich trete, ist genau das Hamsterrad, das mich auf der Stelle treten lässt und meine Entwicklung blockiert.
Es ist nun wiederum ziemlich naheliegend, diesen Selbstwiderspruch zu übersehen und die Ahnungen, die auf ihn hindeuten, zu verleugnen. Hier liegt die Begründung für das oft ausweglose Im-Kreis-Grübeln ohne Ausweg.
An dieser Stelle kann es helfen, sich mit anderen, die auch aus ihrem Hamsterrad rauswollen, mal wenigstens für eine kurze Zeit im Niemandsland zu treffen. Die Wege, auf denen wir uns dann weiter bewegen wollen, müssen wir wohl selber erst bauen. Aus „Freien Vereinbarungen freier Menschen“, wie die AnarchistInnen sagen, sollen die Wegepläne und Bauaktivitäten gespeist werden. Frei werden wir nicht, indem die Augen vor einschränkenden Bedingungen verschließen, sondern in dem wir die schon erwähnten Vermittlungsebenen zwischen den gesamtgesellschaftlichen Verhältnissen bis hin zu individuell jeweils unterschiedlich begründeten eigenen Handlungen kennen lernen und gegebenenfalls in Frage stellen und bewusst verändern. Als Etappe auf diesem Weg können Gespräche im Sinne der Gemeinsamen Selbstverständigung im Sinne der Kritischen Psychologie hilfreich sein.
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