Ich hatte mich vor einem halben Jahr in mehreren Texten (1, 2, 3) mit dem Klassenkampf beschäftigt. Dabei zeigte es sich, dass die Geschichte dieser Kämpfe überhaupt nicht auf das beschränkt werden kann, was gewerkschaftlich und parteimäßig organisiert ist. Es gab im Unterschied dazu viele eher spontane und autonome Widerstandsformen, die in der klassischen Geschichtsschreibung und auch Theoriebildung zur Arbeiterbewegung unterbelichtet geblieben sind. Auf eine weitere Form von Kämpfen gegen die Zumutungen des Kapitalismus bin ich auch dabei noch nicht direkt gestoßen: auf den städtischen Widerstand. Auch um diese noch einzubeziehen, muss „die Geschichte der konventionellen Arbeitskämpfe […] neu geschrieben werden“ (Harvey 2014: 229)
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Städtische Kämpfe

ras-5Schon bei der Pariser Commune ging es nicht nur um den klassischen Fabrikarbeitskampf, sondern hier bündelten sich „die Arrondissements, die Gewerkschaften, die politischen Lager, starker Bürgerschaftssinn und Loyalität gegenüber der Stadt“ (ebd.: 259). Ihre ersten beiden Beschlüsse betrafen neben den Arbeitsbedingungen (Verbot der Nachtarbeit in Bäckereien) auch die städtischen Lebensbedingungen (Mietmoratorium) (ebd.: 213).

Die Streiks in Flint 1937 konnten nur mit Unterstützung der Nachbarschaften so machtvoll werden. Bei den britischen Bergarbeiterstreiks in den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts konnte der Kampf dort am längsten aufrecht erhalten werden, wo es nachbarschaftliche Solidarität gab, während deren Fehlen anderswo zu einem frühen Abbruch der Kämpfe führte (ebd.: 231). Auch in Argentinien 2001 wurde der Kampf in den Fabriken ausgeweitet, indem es dort nicht nur um die Güterproduktion ging, sondern die übernommenen Fabriken wurden in nachbarschaftliche Kultur- und Bildungszentren verwandelt (ebd.: 230). Das zeigt, dass auch die eher traditionellen ArbeiterInnenkämpfe die territoriale (z.T. kulturelle, oder auch logistische, Versorgungs-)Unterstützung brauchen.

Andere Traditionen, die oft übersehen werden, wenn es um ArbeiterInnenkämpfe geht, sind z.B. die „radikalen urbanen Reformen“ in den 20er Jahren im „roten Wien“ und das „rote Bologna“ bis 1999 (vgl. ebd.: 236). Das waren ja nicht nur bürokratische Aktionen der Sozialdemokratie, sondern sie basierten auf Aktionen und dem Engagement der Menschen in diesen Städten.

Theoretische Unterbelichtung der „zweiten Ausbeutung“

ras-2In der marxschen Theorie zur ArbeiterInnenbewegung werden ArbeiterInnen tatsächlich erst einmal nur in ihrer Funktion bei der Produktion von Mehrwert in der klassischen Fabrikarbeit angesprochen. Marx konzentriert sich auf die Produktion und Realisierung des Mehrwerts, d.h. die„Besonderheiten der Distribution“ werden nicht weiter betrachtet, diese enthalten aber Zinsen, Mieten, steuern usw. (vgl. Harvey 2014: 78). Marx erwähnt zwar die Dimension einer zweiten Ausbeutungsform im Kommunistischen Manifest, kommt aber theoretisch nicht darauf zurück:

„Ist die Ausbeutung des Arbeiters durch den Fabrikanten so weit beendigt, daß er seinen Arbeitslohn bar ausgezahlt erhält, so fallen die andern Teile der Bourgeoisie über ihn her, der Hausbesitzer, der Krämer, der Pfandverleiher usw.“ (Marx 1848 – MEW 4: 469)

Auch das dabei geraffte Geld, so betont Harvey, geht in die Zirkulation des fiktiven Kapitals ein und sichert „so die riesigen im Finanzsystem erwirtschafteten Vermögen.“ (Harvey 2014: 106) Harvey macht auf die Rolle der Urbanisierung für die Absorption des Mehrprodukts aufmerksam (ebd.: 30ff.). Nach Auskünften der Weltbank machten 2009 die Märkte für Wohnungshypotheken in den USA mehr als 40% des Bruttoinlandprodukts aus (Weltbank 2009: 206).

Dazu kommt noch, dass auch in der Stadt etwas produziert wird, das durch Kapitalisten „in Wert gesetzt“ wird, auch wenn bei der Herstellung das Zur-Ware-Werden nicht intendiert war (Polanyi nennt so etwas „fiktive Waren“). Die sog. „Gentrifizierung“ basiert darauf. Hier werden städtische Gebiete aufgrund ihres besonderen Flairs, ihrer kulturellen Eigenart, die ja durchaus erst durch menschliches Tun entstand, kommerzialisiert. Harvey zählt deshalb auch die „unorganisierten Urbanisierungsproduzenten“ zum Proletariat (ebd.: 227). Zur Arbeit, die im Kapitalismus ausgebeutet werden kann, gehört deshalb auch die „kollektive Arbeit, die an der Produktion und Reproduktion des urbanen Lebens beteiligt ist“ (ebd.: 241).

Das Bedeutsame an dieser Form der Ausbeutung ist auch, dass sie für die Menschen fast noch klarer spür- und erkennbar ist als die Ausbeutung in der Lohnarbeit. Dieses Erleben der Folgen dieser Art von Urbanisierung unterscheidet sich wiederum in Abhängigkeit davon, welches Einkommen vorhanden ist. Arbeits- und Lebensbedingungen hängen eng miteinander zusammen und beide sind im Kapitalismus für viele Menschen prekär und können nur in eingeschränkter und entfremdeter Form genutzt werden.

Urbanität als befreiender Lebensstil

ras-3Dabei ist im Bereich der räumlichen Lebensbedingungen eine mögliche Befreiung noch viel leichter vorstellbar als im Bereich der Arbeit. Harvey spricht von einem „urbanen Utopismus“ (ebd.: 127). Er erinnert an das Motto „Stadtluft macht frei“ mit dem Hintergrund, dass Städte im Mittelalter „nichtfeudale Inseln in einem feudalen Meer“ (zit. ebd. : 279) waren.

Henri Levebfre, dessen Buch „Das Recht auf Stadt“ richtungsweisend für neue städtische Bewegungen wurde, sieht die Besonderheit des urbanen Lebens vor allem im häufigen Entstehen unvorhergesehener Situationen. Sie ermöglicht Vielfalt und damit eine neuartige Individualität.

„Die Dichte und Vielzahl der Unterschiedlichkeiten ermöglicht es, jenseits von tradierten und einschränkenden Identitäten zu leben.“ (Nielbock 2011: 236)

Im städtischen Bereich vollzieht sich das Leben weniger in den immer gleichen traditionellen Bahnen wie auf dem Land, sondern Menschen sind stärker herausgefordert, sich in der Vielzahl der Optionen zu orientieren und deshalb eher „vielfältig in ihren Zielen und Bedürfnissen, eher wandernd, desorganisiert und flüchtig als fest verwurzelt“ (nach Lefebvre, Harvey 2014: 16). Auf dieser Grundlage wurde die Stadt häufig zum „Brutkasten revolutionärer Ideen, Ideale und Bewegungen“ (Harvey 2014: 20).

Recht auf Stadt für alle

ras-1Die neoliberale Variante des Kapitalismus greift seit langer Zeit verstärkt auf die Ressourcen der Stadt zu, um sie zu Quellen der Kommerzialisierung zu machen. Die Mieten steigen fast überall ins Unerträgliche, die Wohlhabenderen ziehen aus dem Umland wieder in die gentrifizierten Stadtviertel und verdrängen die Altansässigen und nichtkommerziell-Kreativen.

Öffentliches wird verscherbelt und das Recht auf Stadt fällt immer mehr „in die Hände von privaten oder quasiprivaten Interessen“ (Harvey 2014: 60). Irgendwann kommt dann in fast jeder Stadt der Punkt, an denen viele Menschen bestimmte Entscheidungen nicht mehr hinnehmen.

„[…] viele der geschilderten Konflikte starten an dem Punkt, an dem immer mehr Leute sagen: „Jetzt reicht’s! Wir wollen nicht mehr derart regiert werden!“ Dann landen sie aber zwangsläufig bei der Frage: Wie soll die Stadt aussehen, in der wir leben?“ (Vrenegor 2011: 235)

Rechte sind nicht einfach da, sie werden erkämpft. Das Kapital leitet sein Recht auf die Welt und damit auch die Städte aus dem Versprechen eines gewinnträchtigen Umgangs damit ab. Dass dabei die Kosten der privatisierten Gewinne der Allgemeinheit auferlegt werden, ist aber ziemlich offensichtlich erlebbar und führt deshalb zu Widerständigkeit. Dagegen setzen immer mehr Menschen auf der ganzen Welt die Forderung nach ihrem Recht auf Stadt.

„All jene, deren Arbeitskräfte an der Produktion und Reproduktion der Stadt beteiligt sind, haben nicht nur ein gemeinsames Recht auf das, was sie produzieren, sondern auch darauf, zu entscheiden, welche Art von Stadtleben wo und wie hergestellt werden soll.“ (Harvey 2014: 238)

Es geht dabei, wie schon bei Levebfre ausgeführt wird, einerseits darum, nicht ausgeschlossen zu werden von den Lebensqualitäten, die ein urbanes Umfeld bietet. Andererseits jedoch geht es auch um ein „kollektives Recht […] die Stadt nach unseren eigenen Wünschen zu verändern und neu zu erfinden“ (ebd.: 28) und das zielt auf eine kollektive Wiederaneignung des Städtischen. Initiativen unter dem Motto „Recht auf Stadt“ (mehr dazu bei Holm 2001; Gebhardt, Holm 2011) haben sich in vielen Städten Deutschlands gegründet, so in Hamburg, München, Köln, Freiburg, Regensburg, Mainzund Potsdam.

„Der Kampf um das Recht auf Stadt richtet sich gegen die Mächte des Kapitals, die sich skrupellos an einem Gemeinschaftsleben bedienen und durch Mieten bereichern, das andere produziert haben.“ (Harvey 2014: 146)

Recht der Menschen auf ihre Lebensbedingungen

ras-6Weder sind die sozialen Kämpfe des Arbeitslebens isoliert von ihrem territorialen Umfeld, noch sind die urbanen Kämpfe etwas völlig anderes als Klassenkampf.

„Bei urbanen sozialen Bewegungen geht es daher auch immer um die Klasse, selbst wenn sie ihre Forderungen hauptsächlich in Bezug auf Rechte, Bürgerschaft (citizenship) und die Mühen der sozialen Reproduktion artikulieren.“ (Harvey 2014: 225)

Aktuelle Beispiele für diese Verbindung sieht Harvey z.B. in der Föderation der Nachbarschaftsstädte in Palo Alto, die zur Ausgangsbasis für die Aufstände von2003 wurde. Dabei agieren Nachbarschaftsverbände, branchenspezifische Vereinigungen und Gewerkschaften zusammen, verbinden die Sphären von Arbeit und Kultur (ebd. 254ff.; mehr dazu in Lazar 2008).

„Gewerkschaften florieren in der informellen Wirtschaft El Altos und bilden einen entscheidenden Teil der städtischen Organisationsstruktur, die neben der staatlichen Struktur existiert und die mehrstufige Bürgerschaft in der Stadt formt. Dies geschieht in einem Kontext, in dem der wirtschaftliche Wettbewerb zwischen Individuen auf die Spitze getrieben wird und in dem man daher erwarten würde, dass ein politisches Zusammenwirken schwierig, wenn nicht gar unmöglich wäre.“ (Lazar, zit. in Harvey 2014: 253)

Ein anderes Beispiel ist Baltimore. Hier wurde die Gegend um den inneren Hafen zu einem „Menschenrechtsgebiet“ erklärt und von hier ausgehend wurden vielfältige Aktionen durchgeführt (Harvey 2014: 148; siehe auch United Workers & NESRI 2011).
Die Kämpfe sind nicht nur Verteidigungskämpfe, sondern sie führen dazu, dass sich Menschen ganz grundsätzlich wieder darauf besinnen, dass sie kollektiv ihr Leben gestalten können, wenn sie die enteigneten Ressourcen dafür fordern. Vor allem angesichts der der verstärkten „Einbußen bei urbanen Anlagewerten, Rechten und Ansprüchen“ (Harvey 2014: 158) beginnen sich Menschen selbst zu organisieren, „um ihre eigenen Gemeingüter bereitzustellen“ (ebd.: 159f.)

„Die politische Erkenntnis, dass Gemeingüter zum gesellschaftlichen Nutzen produziert, geschützt und verwendet werden können, wird zum Bezugsrahmen für den Widerstand gegen die kapitalistische Herrschaft und für das erneute Durchdenken einer Politik eines antikapitalistischen Wandels.“ (ebd.: 160)

Literatur:

Harvey, David (2014): Rebellische Städte. Berlin: Suhrkamp.

Gebhardt, Dirk; Holm, Andrej (2011): Initiativen für ein Recht auf Stadt. In: Holm, Andrej; Gebhardt, Dirk (Hrsg.) (2011): Initiativen für ein Recht auf Stadt. Theorie und Praxis städtischer Aneignungen. Hamburg: VSA-Verlag. S. 7- 24.

Holm, Andrej (2011): Das Recht auf die Stadt. Blätter für deutsche und internationale Politik 8/2011.

Lazar, Sian (2008): El Alto Rebel City: Self and Citizenship in Andean Bolivia.

Marx, Karl (1848): Manifest der Kommunistischen Partei. In: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Band 4. Berlin: Dietz Verlag 1959. S. 459-493.

Nielbock, Sonja (2011): In: Recht auf Stadt – Vier Fragen und vier Perspektiven. Anmerkungen zu einem Kongress in Hamburg. In: Sozial. Geschichte Online 6(2011), S. 234-244.

United Workers & NESRI (2011): Hidden in Plain Sight: Workers at Baltimor´s Inner Harbor and the Struggle for Fair Development.

Vrenegor, Nicole (2011): In: Recht auf Stadt – Vier Fragen und vier Perspektiven. Anmerkungen zu einem Kongress in Hamburg. In: Sozial. Geschichte Online 6(2011), S. 234-244.

Weltbank (2009): Reshaping Economic Geography.

Titelbild: Aus: United Workers & NESRI (2011): Hidden in Plain Sight: Workers at Baltimor´s Inner Harbor and the Struggle for Fair Development.

Andere Bilder: aus Internetseiten der verlinkten Initiativen „Recht auf Stadt“