Dieser Beitrag gehört zum Themenkomplex:
„Bedürfnisse über den Kapitalismus hinaus – bei Marx und Heller“


In diesem Teil werde ich nicht nur die Schrift von Agnes Heller referieren, sondern auf eine philosophische Basis hinweisen, der gegenüber eine kritische Distanz notwendig ist.

Agnes Heller bezieht sich auf einen Maßstab, an dem sich das Ungenügen des Kapitalismus zeigt. Dieser Maßstab wurde schon in der 4. Bedeutung des Begriffs der „gesellschaftlichen Bedürfnisse“ bei Marx genannt. Es sind die „reichen menschlichen Bedürfnisse“. (Heller 1974/1980: 40). Bei Lucien Séve tritt dieser Maßstab auf als „mittelbare[s], reiche[s] Bedürfnis, das heißt freie Bestreben des weitgehend sozialisierten Individuums“ (Séve 1969/1977: 335).

Die Verhältnisse im Kapitalismus werden, dem frühen Marx folgend, als „entfremdete“ bezeichnet. Dies unterstellt etwas, wovon sie entfremdet sind, etwas Nicht-Entfremdetes.

„Als Wertmaßstab dient […] der „an Bedürfnissen reiche“ Mensch“ (Heller 1974/1980: 48)


Agnes Heller geht davon aus, dass dieser „an Bedürfnissen reiche Mensch“ ein „philosophisch konstruierter Begriff“ sei (ebd.: 52). Als solcher könne er erst in Zukunft verifiziert, also als wahr nachgewiesen werden. Aber es wird angenommen, dass die Geschichte der Menschheit darauf hinausläuft, dass diese Konstruktion auch in der Wirklichkeit entstehen wird, dass es also wahrhaft „an Bedürfnissen reiche Menschen“ geben wird.

Diese Denkweise ist für viele „geschulte“ Hegelianer und Marxisten sicher sehr vertraut.
Struktur der Hegelschen Logik
Hegels dialektische Bewegung vollzieht jeweils einen Prozess, der (1.) bei einem noch nicht ausreichend inhaltlich gefüllten abstrakten Allgemeinen beginnt. Dieser erweist sich als eine Seite eines Gegensatzes zu seinem Anderen (2.) (erste Negation). Aus dem Gegensatz bildet sich dann durch eine erneute Negation eine neue Einheit (3.).
Der gesamte Durchgang von 1. bis 3. kann als Negation der Negation bezeichnet werden.

Vereinfacht ausgedrückt: Das, was zuerst stand, zerfällt in einander widersprechende Teile und bewegt sich dann auf Grundlage dieses Widerspruchs als eine neue, eine höhere Einheit. Es hat sich dabei höherentwickelt. Das Zerfallen in die einander widersprechenden Momente wird auch als „Entäußerung“ (NHS, HW 4: 11) oder Entfremdung bezeichnet. Die im zweiten Schritt entstandenen gegensätzlichen Momente sind ihrer Ausgangseinheit „entfremdet“. Die Entfremdung wird z.B. thematisiert bei der Frage des Verhältnisses von Allgemeinem und Einzelnem. Welche Stellung nimmt Einzelnes gegenüber Allgemeinem ein? Im ungünstigen Fall eine entfremdete: „so daß das Individuum seine Ordnung dadurch, daß es sie aufstellt, nicht mehr als die seinige findet“ (Phän, HW 3: 277). Das Ziel alles Philosophierens besteht für Hegel darin, eine solche Ordnung wieder als die seine erkennen zu können. Dies geschieht vor allem dadurch, dass erkannt werden kann, dass auch in dem, was als entfremdet erscheint, noch das Eigene drin ist, dass man sich also selbst im Fremden erkennt. Gleichzeitig, aber das konnte Hegel angesichts der seinerzeit gerade aktuellen „Demagogenverfolgung“ in seinen gedruckten Texten, vor allem der „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ (GPR, HW 7), nicht so deutlich formulieren, erwartete er sich von dem theoretischen Begreifen des Vernünftigen durch seine Philosophie (und der damit möglichen Erkenntnis dessen, was in der Welt diesem Vernünftigen noch nicht entspricht), auch, dass das was als vernünftig erkannt, aber noch nicht realisiert ist, auch geschehen muss (PR 1817/18: 157). „Die große Revolution ist geschehen, das weitere ist der Zeit zu überlassen.“ (ebd.: 234-235). (vgl. Schlemm 2015a)

Das durchgehende Entwicklungsprinzip folgt dem Muster „Negation der Negation“:

„Dies Beisichsein des Geistes, dies Zusichselbstkommen desselben kann als sein höchstes, absolutes Ziel ausgesprochen werden. […] Alles, was im Himmel und auf Erden geschieht […] strebt nur danach hin, daß der Geist sich erkenne, sich, sich selber gegenständlich mache, sich finde, für sich selber werde, sich mit sich zusammenschließe. Er ist Verdoppelung, Entfremdung, aber um sich selbst finden zu können, um zu sich selbst kommen zu können. (HW 18: 41,42)

Genau dieses Muster ist auch in den marxschen Bezügen zur Entfremdung enthalten. Die im 1. Schritt gedachte Einheit ist das „menschliche Wesen“ oder auch „Gattungsleben“. In der kapitalistischen Realität ist dieses Wesen 2. nur noch in entfremdeter Form realisiert und wartet darauf, 3. wieder verwirklicht zu werden. Für den Kapitalismus gilt: „Weder die Natur – objektiv – noch die Natur – subjektiv – ist unmittelbar dem menschlichen Wesen adäquat vorhanden.“ (ÖPM, MEW 40: 579)

Bei Marx ist das kein nur ideeller Prozess mehr, sondern soll einer historischen materiell fundierten Entwicklung entsprechen. Bei dieser materialistischen „Umstülpung“ der Dialektik durch Marx verändert sich aber das Muster der Negation der Negation. In Hegels Logik wird nur der Prozess des Voranschreitens des sich selbst erkennenden Geistes nachvollzogen. Es ist der Geist der höchsten Stufe, der seine Entwicklung von Beginn an nachvollzieht und gemeint ist hier die logische Entwicklung, nicht eine historische. Wenn dieses Muster „materialisiert“ wird und die logische (ideelle) Entwicklung umstandslos als historische (materielle) gedeutet wird, so entfällt die Begründung für die Bestimmtheit des Weges durch die bereits vorhandene höchste Form des Sich-Entwickelnden. In Hegels Logik entsteht der absolute Geist, weil er es ist, der sich selbst erkennt, er ist der Grund für den sich über die genannten 3 Phasen von abstrakter Identität – Gegensätzlichkeit – konkrete Identität hinziehenden (Selbsterkenntnis-)Prozess. Der absolute Geist ist bereits vorausgesetzt, auch wenn er im Verlauf des Nachvollziehens seiner logischen Entwicklung erst später vollständig erkannt wird. In Marxens Konstruktion der Entfremdung wird das „Gattungswesen“ vorausgesetzt, aber es kann in seiner konkreten Entwicklungsform eines später entstehenden Kommunismus ja noch nicht voraus gesetzt werden, sondern nur als abstrakt-Allgemeines aller menschlichen Lebensformen überhaupt. Wenn der Mensch bei Marx und auch Holzkamp das „das seine Lebensbedingungen schaffende und erweiternde Wesen“, so ist er das immer, in allen Gesellschaftsformen, weil das eine abstrakt-allgemeine Bestimmung ist, die genau von der konkreten Verwirklichungsform in den unterschiedlichen Gesellschaftsformen abstrahiert. Da dieses Wesen in allen Erscheinungsformen verwirklicht ist, kann man daraus nicht ableiten, es würde irgendwann in Zukunft endlich vollständig verwirklicht sein, nachdem es erst „entfremdet“ gewesen war. S. Wagenknecht referiert diesen Gedanken (ohne ihn zu teilen):

„Der „wirkliche Mensch“ als Gattungswesen […] soll […] als objektiver Zielpunkt und letzte Konsequenz der geschichtlichen Entwicklung selbst erscheinen. Die Geschichte wird damit zum Prozeß der Selbstentfremdung und Selbstverwirklichung des menschlichen Gattungswesens im Prozeß der Arbeit.“ (Wagenknecht 1997: 160)

Wenn so gedacht wird, wird ein Denkmuster aus der logischen Entwicklung bei Hegel unzulässig in die materiell zu begründende historische Entwicklung übernommen.

Der spätere Marx suchte deshalb später auch nicht mehr nach der Auferstehung des „Nicht-mehr-Entfremdeten“, sondern nach dem Gegensatz im Kapitalismus, bei dem die Lösung der Widersprüche nicht mehr in eine immanente Bewegungsform dieser Widersprüche mündet. Eine solche nur immanente Bewegungsform finden zum Beispiel die Widersprüche der Warenform als solche. „Die Entwicklung der Ware hebt diese Widersprüche nicht auf, schafft aber die Form, worin sie sich bewegen können.“ (KI, MEW 23: 118) Erst in der weitergehenden Analyse der kapitalistischen Warenform zeigt Marx, dass sie auf einem gesellschaftlich besonderen Verhältnis beruht, das nicht mehr logisch ableitbar ist: Durch die historisch stattfindende Trennung des Besitzes an wesentlichen Produktionsmitteln und Menschen, die nur noch ihre Arbeitskraft verkaufen können („ursprüngliche Akkumulation“) entsteht ein Gegensatz, der nicht mehr innerhalb der kapitalistischen Verhältnisse lösbar ist – soweit Marx.

Dieser Argumentationsweg findet seit dem 20. Jahrhundert immer weniger Zustimmung – er würde ja auf Klassenkampf hindeuten, an den der Glaube verloren gegangen ist. Deshalb werden andere Auswege gesucht. Einer besteht darin, nun wieder dem Denkmuster der Entfremdung zu folgen, wie es auch Agnes Heller tut:

„Die höchstgradige Entfremdung muß das Bedürfnis auf die Transzendierung der Entfremdung, den Reichtum, die Realisierung des „Gattungswesens“ hervorbringen. (Heller 1974/1980: 52)

Zwar verwendet Heller hier das determinierende Wort „muss“, aber sie schwächt es gleich ab, indem sie ihrer Hoffnung Ausdruck verleiht, dass dies sich „als die Formulierung der realen Möglichkeit erweist“ (ebd.). Eine (kann-)Möglichkeit ist aber schon einmal etwas anderes als eine (muss-)Notwendigkeit. Sie versucht die „philosophische Konstruktion“ auch empirisch zu untermauern mit Merkmalen des menschlichen Wesens wie der Universalität, Bewusstsein, Gesellschaftlichkeit Objektivation und Freiheit (ebd.: 50). Sie schreibt auch, dass das Gattungswesen nicht „feststehe“ und nur durch die Entfremdung „verzerrt“ würde (ebd.: 51). Dies sind aber nur ergänzende Versicherungen, die dem idealistischen Konstrukt á la Hegel zwar entgegen gerichtet werden, während das ganze Argumentationsmuster diesem noch folgt. Marx und Engels jedenfalls formulieren im Text „Die Deutsche Ideologie“ (DI, MEW 3) Vorstellungen eines Kommunismus, bei dem alles Bestehende das „Produkt des bisherigen Verkehrs der Individuen selbst ist“ (ebd.: 71) und nicht mehr unabhängig davon ist – aber nicht die Erreichung eines vollständigen Gattungslebens ist das Motiv des historischen Voranschreitens, sondern die Wirkung des „Widerspruch[s] zwischen der Persönlichkeit des einzelnen Proletariers und seiner ihm aufgedrängten Lebensbedingungen“ (ebd.: 77). Nicht das Ideal eines verwirklichten Gattungslebens oder die philosophische Konstruktion des „menschlichen Lebens“ oder von „reichen menschlichen Bedürfnissen“ führt zu Fortschritten, sondern die Entwicklung der Produktivkräfte, die im Wesentlichen in der „Entwicklung der Kräfte der Individuen selbst“ gesehen wird. (ebd.: 72)

Ohne es als Selbstkritik zu labeln, haben Marx und Engels in der Deutschen Ideologie auch ihre eigenen früheren Ansichten kritisiert:

„Die Individuen, die nicht mehr unter die Teilung der Arbeit subsumiert werden, haben die Philosophien sich als Ideal unter dem Namen „der Mensch“ vorgestellt, und den ganzen, von uns entwickelten Prozeß als den Entwicklungsprozeß „des Menschen“ gefaßt, so daß den bisherigen Individuen auf jeder geschichtlichen Stufe „der Mensch“ untergeschoben und als die treibende Kraft der Geschichte dargestellt wurde. Der ganze Prozeß wurde so als Selbstentfremdungsprozeß „des Menschen“ gefaßt […].“ (DI, MEW 3: 69)

Damit ist die „philosophische Konstruktion“ von Marx und Engels selbst abgetan worden. Sie ersetzen das unentfremdet-Gattungsgemäße als Kritikmaßstab durch das Konzept einer Entwicklung durch den Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen:

„In der Wirklichkeit trug sich die Sache natürlich so zu, daß die Menschen sich jedesmal so weit befreiten, als nicht ihr Ideal vom Menschen, sondern die existierenden Produktivkräfte ihnen vorschrieben und erlaubten.“ (DI, MEW 3: 417)

In einem Abschnitt möchte ich an dieser Stelle auch einen Teil der späteren Beschäftigung mit der Kritischen Psychologie vorwegnehmen. In der Kritischen Psychologie wird auch so etwas wie das eine „menschliche Natur“ diskutiert. Sie besteht nicht in besonderen Kennzeichen (wie „werkzeugmachend“), sondern wird durch eine spezifische individuelle Lern- und Entwicklungsmöglichkeit gekennzeichnet, wie sie keinem tierischen Individuum zukommt. Dass Menschen diese Möglichkeit haben, hat sich in einem langen Entwicklungsprozess, ausgehend von den sozialen und psychischen Fähigkeiten der Tiere und weiter in der Tier-Mensch-Übergangsphase herausgebildet. Der Nachweis der Bildung dieser spezifisch menschlichen Entwicklungsfähigkeit nimmt einen großen Teil der Arbeiten von Ute Holzkamp-Osterkamp (insb. Holzkamp-Osterkamp 1977) und Klaus Holzkamp (Holzkamp 1985) ein. Sie erarbeiten damit eine Grundlage für das Begreifen der „menschlichen Natur“ als „Inbegriff spezifisch menschlicher Entwicklungsmöglichkeit des konkreten Individuums“ (Holzkamp-Osterkamp 1977: 332, vgl. 321). Diese individuellen Entwicklungsmöglichkeiten realisieren sich immer in konkrete gesellschaftliche Verhältnisse hinein und dies wird im Anschluss an Marx als „menschliches Wesen“ bezeichnet.

„Das bedeutet, daß die „menschliche Natur“ als Entwicklungspotenz zur individuellen Vergesellschaftung ein empirische Eigenart der artspezifischen biologischen Ausstattung darstellt, deren Realisierung aber stets im Hinblick auf historisch bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse erfolgt, so daß sie individualgeschichtlich niemals als „allgemeine“, „abstrakte“ im Individuum hockende Essenz erscheint, sondern immer und notwendig als Realisierungsweise des menschlichen Wesens in konkret-historischer Form.“ (ebd.: 332)

In allen gesellschaftlichen Verhältnissen ermöglicht die „menschliche Natur“ den Individuen, sich in die konkrete Gesellschaft hineinzuentwickeln und ihr konkretes „menschliches Wesen“ zu leben. Es gibt keine Trennung mehr zwischen unentfremdetem Wesen und entfremdeter Erscheinungsform. Morus Markard betont ebenfalls, dass es zwar allgemeine Züge der menschlichen Gesellschaftlichkeit gibt, die z.B. darin bestehen, dass Menschen ihre Lebensgrundlagen produzieren, dass dies aber noch nichts darüber aussagt, wie und unter welchen Umständen und in welchem Verhältnis von Ermöglichung und Behinderung sie dies tun. (Markard 2009: 107)

Die spezifisch menschliche Qualität menschlicher Bedürfnisse sieht Ute Holzkamp-Osterkamp in der Einbettung der der menschlichen Bedürfnisbildung und -befriedigung in die „gesellschaftlich vermittelte Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen“ (Holzkamp-Osterkamp 1976/1990: 34).


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