Ágnes Heller, auf deren Hoffnung auf „radikale Bedürfnisse“ ich hier im Blog schon einmal verwiesen habe, hat in einem recht hohen Alter nun noch ein Essay mit dem Titel „Von der Utopie zur Dystopie“ geschrieben. Als Buch ist es von der Edition Konturen sehr schön gestaltet – aber der Inhalt ist eher traurig.

Ágnes Heller, die in ihrem Leben die Gefahr von verwirklichten Utopien schon früh durchleben musste, fragt sich jetzt:

„Was ist das für eine Welt, in der wir leben, wenn ihre ernsthaftesten Darstellungen von dystopischen Satiren und Karikaturen gezeichnet werden?“

Dystopien sind nach Heller davon gekennzeichnet, dass sie nicht nur die Enttäuschung über die Ergebnisse einer Revolution ausdrücken, sondern den Glauben an Revolutionen und Fortschritt überhaupt verloren haben.

Sicher gibt es noch Wunschutopien, und diese sind „universal, tief verankert in einer der Schichten unserer unbewussten Seele“, aber die philosophisch konstruierten Utopien, d.h. Modellen einer gerechten und glücklicheren Gesellschaft scheinen ausgestorben zu sein. Ernst Bloch konnte Ende der 30er und in den 40er-Jahren (in „Prinzip Hoffnung“) nichts Gutes am Pessimismus sehen:

„Also ist der Pessimismus die Lähmung schlechthin, während selbst der verrottetste Optimismus noch die Betäubung sein kann, aus der es ein Aufwachen gibt.“

Ágnes Heller spricht den Dystopien wenigstens zu, ein Bedürfnis befriedigen zu können, nämlich „keine Lügen zu erzählen – das Bedürfnis nach Ehrlichkeit.“ Die Dystopien „veranschaulichen die Formbarkeit des Menschen, der bereit und fähig ist, unter fast allen Umständen zu leben, jede Art von Leben als die einzig mögliche richtige, geeignete anzunehmen, an alles zu glauben, woran die anderen glauben.“ Das ist die negative Seite der „doppelten Möglichkeit“ , womit die Kritische Psychologie darauf verweist, dass Individuen sich gegenüber den allgemeinen gesellschaftlichen Notwendigkeiten bewusst verhalten können und die Freiheit haben, sich individuell unterschiedlich begründet in unterschiedlicher Weise zu verhalten.

„Der „Homo sapiens“ lebt in der größten Vielfalt sozialer Organisationen. Kein Neugeborenes ist für dieses oder jenes spezielle soziale Leben vorprogrammiert, sondern für soziales Leben im Allgemeinen, es kann sich also jeder Variante anpassen.“

Ágnes Heller würdigt diese Ehrlichkeit des Dystopischen, möchte aber eine Tür ins Offene lassen. Sie unterscheidet zwischen grundsätzlich dystopischem Denken, dass den Weg für die utopische Einbildungskraft versperrt und dem „dystopischen Moment“, bei dem es immer noch möglich ist, eine utopische Interpretation anzuschließen. Denn wenn der Mensch nicht vorprogrammiert ist, dann auch nicht für das passive Erleiden der Dystopie.

„Wenn dystopische Romane uns sagen: Du wirst dich unterwerfen, können wir antworten: Das werden wir nicht tun. Das ist eine Wette. Man wettet auf die Zukunft. Die meisten dystopischen Romane gehen davon aus: Solange es einen einzigen guten Menschen auf der Welt gibt, wird es immer jemanden geben, der sich nicht unterwirft.“

Die Romanstories leben geradezu davon, dass Einzelne sich lösen vom Vorgegebenen. Die meisten können das nicht. Sie sind wie unwissende Kinder. Erst als Montag in „Fahrenheit 451“ auf Schriften von Shakespeare und aus der Bibel trifft, öffnet sich für ihn der Horizont. Für die anderen gilt weiterhin: „Nur der Unwissende kann an seine Unschuld glauben, auch wenn er nicht unschuldig ist.“
Zur Unwissenheit zählt auch, das dystopische Moment in der Wirklichkeit nicht sehen zu wollen. Sich Illusionen zu machen. Dem gegenüber ist Ehrlichkeit angesagt. Der damit verbundene dystopische Moment sollte nicht in einen Topf mit der totalen Dystopie geworfen werden. Auch Bloch rehabilitierte in einem Gespräch aus den 70er Jahren den Pessimismus, und zwar einen „militanten Pessimismus“:

„Der wirklich militante Pessimismus spekuliert stets noch auf die Möglichkeit, die Hoffnung, daß das Pessimum, das Schlechte, das Ungute und das Menschenfeindliche endlich radikal, an der Wurzel ausgehoben werden können.“

Wie Ágnes Heller schreibt: Es „bleibt die Wahl: nicht zu verzweifeln, nicht aufzugeben, doch nicht leeren Illusionen nachzulaufen“