Grenzen der Dialektik
Dialektik hat bei jenen, die unverdrossen nach einer Alternative zum globalen Kapitalismus suchen, immer noch einen guten Klang. Es rettet uns kein höhres Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun – aber vielleicht die Dialektik? Im traditionellen Marxismus wurde die Dialektik als allgemeine Methode der Philosophie der Siegesgewissheit überhöht. Kann sie heute wenigstens eine Philosophie der Hoffnung tragen? Alles fließt, alles entwickelt sich – also wird auch das heute Schlechte überwunden werden, wir müssen nur den dialektischen Gang der Geschichte verstehen und dementsprechend handeln. So einfach war das einmal – ist es aber wohl doch nicht mehr.
In früheren marxistisch-leninistischen Vorstellungen folgte die Welt den dialektischen Grundgesetzen: Ihre Erscheinungen folgen demnach einem Entwicklungsweg mit sprunghaften Qualitätsveränderungen. Dabei kommen die Verhältnisse durch Widersprüche in eine Entwicklung; die zuerst nur quantitativen Veränderungen schlagen in qualitative um und dabei wird der vorherige Zustand auf einer höheren Ebene wieder hergestellt. Alle möglichen Erscheinungen entwickeln sich so und unsere Erkenntnis kann diese Entwicklung nachvollziehen. Der historische Verlauf enthält diese Logik und sie wird in abstrakter Weise abbildend in der Erkenntnis nachvollzogen.
Hegels Dialektik hat nicht irgendwelche Dinge oder Prozesse außerhalb des Erkennens zum Thema, sondern jeweils das Denken der inneren Bewegung der Verhältnisse. Weil sie nur das Denken der Bewegung zum Gegenstand hat, und nicht irgendetwas, wie es wäre, wenn wir es nicht denken würden, wird ihr Idealismus vorgeworfen. Hegels Thema ist nicht die historische Veränderung, sondern es geht ihm um das „zeitlose Begreifen“. Beim späteren Umstellen „vom Kopf auf die Füße“ (also der materialistischen Uminterpretation der Hegelschen Dialektik) wurde aus der logischen Entwicklung umstandslos eine historische und das Ordnungssystem der Wissenschaften wurde als zeitliche Entfaltung ihrer Gegenstände verstanden. Da die logische Entwicklung vollständig bestimmt (also „deterministisch“) ist und das System vollständig, wurde daraus eine Entwicklungsvorstellung, die zeitliche Abläufe als vollständig determiniert und das System als „totalitär“ missverstehen konnte.
Während im Hegelschen System jede Negation eindeutig bestimmt ist (in Richtung des jeweils systematisch Folgenden), gibt es in der historischen Entwicklung jedoch im Zustand der Gegenwart immer Alternativen. Statt einer Stufenform entspricht dem historischen Verlauf eher eine Verzweigung. Die strenge Logik der Hegelschen Dialektik muss in der materialistisch-historisierenden Uminterpretation ergänzt werden durch die Hinzufügung von nicht dialektisch ableitbaren „historischen Voraussetzungen“ bei Marx (die historische erstmalige Entstehung der Klasse der Proletarier, die sich aus der (noch nicht entstandenen) Kapitalreproduktion noch nicht erklären lässt) und Veränderungen im „Umweltpol“ (bei Holzkamp), um jeweils die Überschreitung einer Grundqualität in der historischen Entwicklung zu beschreiben bzw. zu begründen. Das wird dann auch bei Marx „Grenzen der Dialektik“ genannt.
Es ist also kein Zufall, dass gerade da, wo es spannend wird – bei der historischen Ablösung der Gesellschaftsformationen – die Dialektik biss- und zahnlos wird. Sie behandelt nur sich selbst vollständig reproduzierende Systeme, sie basiert auf der Selbstbezüglichkeit und wenn diese in der materialistisch-historisierenden Uminterpretation verloren geht, und sie muss dabei verloren gehen – so verliert sie damit ihren Motor, also gerade das, worauf die Philosophie der Hoffnung setzte.
Systemsprengung durch Widerspruch (u.a. zur Umwelt)
Was sprengt eine scheinbar ewige Selbstreproduktion eines Systems auf? Was führt zu einem neuen, besseren System? Die alte Dialektiktradition ging von der Dominanz der „inneren Widersprüchen“ gegenüber äußeren aus. Dies folgte der Hegelschen Argumentationsweise. Tatsächlich ergeben sich dort alle Widersprüche aus dem zuerst Betrachteten, indem es an seine Grenzen geführt wird, bis es sich selbst widerspricht und zu einer höheren Form der Erkenntnis/des Denkens führen kann. Aber, und dies erkannte auch Marx schon: alles was daraus entstehen kann, verbleibt in dem vorausgesetzten Gesamtzusammenhang; es geht nicht wirklich darüber hinaus. Das Gegenteil zum Nordpol, der Südpol, ist immer noch ein Pol. Der „wirkliche Gegensatz“ wäre aber kein Pol mehr; nichts mehr aus dem „übergreifenden Allgemeinen“, Pol zu sein. Dies gilt auch für die Arbeiterklasse als Gegenspielerin zur Klasse des Kapitals. Als Kapitalform (Verkörperung der lebendigen Arbeit im Kapitalismus) hat sie keine wirkliche revolutionäre, also systemsprengende Rolle. Nur wenn sich die arbeitenden Menschen, wie die autonomen Marxisten und Operaisten betonen, ihrer Rolle als lohnarbeitende Kapitalerzeuger entziehen, können sie revolutionär handeln – nur, was sind die Menschen dann? Keine Lohnarbeiterinnen, sondern Menschen, die außerhalb der Kapitalreproduktion ihre Lebensgrundlagen erarbeiten könnten…, wenn sie denn im Besitz wichtiger Lebensgrundlagen und Produktionsmittel hierfür wären; was sie aber nicht sind, solange sie die Revolution nicht gemacht haben…
Was könnte sie nun aber zur Revolution bewegen? Was bewegt sie dazu? Man muss ihnen keine revolutionären Interessen andichten. Aber man kann davon ausgehen, dass Menschen das Ziel verfolgen ihre Lebensbedingungen zu erhalten und zu verbessern. Solange sie die Bedingungen auskömmlich und erträglich finden, werden sie nicht aufmucken. Was sie als notwendige Bedingungen ansehen, welche Bedeutung sie ihn zuschreiben, welche Gründe sie haben sich so oder so zu ihnen zu stellen, darüber zu befinden steht jedem Individuum selbst zu. Ein Aufmucken könnte ja die immer noch vorhandene Erträglichkeit auch noch gefährden.
Die Entscheidungen zwischen den verschiedenen Denk- und Verhaltensmöglichkeiten werden immer im Verhältnis zu den eigenen Lebensbedingungen gefällt. Unterdrückung und Ausbeutung führen nicht per se zum Aufstand, wenn ein gewisses Maß an Lebensqualität aufrechterhalten wird. Erst wenn das Leben wirklich nicht mehr gut funktioniert, und wenn die Menschen das nicht mehr aushalten wollen und wenn sie erkennen, dass es auch anders ginge…, dann setzen sie sich in Bewegung (wohin auch immer…).
Um die Welt maßgeblich zu verbessern, müssten sich zu Anfang mehr Menschen in Bewegung setzen, als sich bereits in diese Situation des nicht mehr Könnens, aber auf neue Weise Wollens gestellt sehen. Diese Ungleichzeitigkeit führt zu einem ermüdenden Stop and Go und auch zu Rückwärtsgängen. Und ungerechterweise trifft die Verschärfung der Umweltbedingungen durch den anthropogenen Klimawandel ausgerechnet zuerst jene, die von der Verschwendung der Naturreichtümer am wenigsten hatten und deren Handlungsmöglichkeiten am weitesten eingeschränkt sind.
Die Situation ist festgefahren. Während des Wartens und Drängens verschwinden immer mehr ökologische Grundlagen des Lebens auf dieser Erde und die Bedingungen der Zukunft verschlechtern sich zusehends. Auf die Dialektik des Umschlags zu neuen Qualitäten zu setzen erinnert an ein Pfeifen im Walde. Jede reale Situation kann im historischen Verlauf zu erneuerten anderen Verhältnissen führen; sie kann aber auch in Stagnation und Verfall enden. Gegen die letzten beiden Möglichkeiten hilft keine Dialektik.
Entwicklungslogiken
Wenn Menschen einen Vorteil in der Evolutionsgeschichte haben, dann den, dass sie Prozesse und Verhältnisse antizipieren können, bevor sie existieren. Hegels Dialektik endet beim Standpunkt der Eule der Minerva: Menschen können die Geschichte so analysieren, dass sie von ihrem Standpunkt aus in die Vergangenheit schauen und von einem früheren Zeitpunkt her nachfragen, welche Bedingungen, Prozesse und Handlungen jeweils bis zur gegenwärtigen Situation geführt haben. Auch wenn in jedem gegenwärtigen Zeitpunkt die Entwicklungsalternativen noch offen standen – im Nachhinein kann man sehen, welche Nöte durch den tatsächlich beschrittenen Weg gewendet wurden, welche neuen Not-Wendigkeiten dabei entstanden usw. usf… Diese „Entwicklungslogik“ kann für die Vergangenheit bis zur Gegenwart erkennend nachvollzogen werden.
Für die Phylogenese entwickelte Klaus Holzkamp den Leitgedanken der „fünf Schritte“ einer entsprechenden Analyse. Dies sind Analyseschritte, die in den untersuchten Verhältnissen nicht unbedingt in dieser zeitlichen Reihenfolge stattfinden müssen. Zuerst geht es um die „Keimformen“, die den nächsten Entwicklungszyklus dominieren werden. Die gibt es schon in der früheren Form, aber nur in einer untergeordneten Rolle. Im zweiten Analyseschritt wird die Krise analysiert, auf die der frühere dominante Gesamtprozess nicht mehr angemessen reagieren kann. In der biologischen Evolution sind das häufig die „objektiven Veränderungen der Außenweltbedingungen“. Der Bezug auf den Umweltfaktor wurde für die Menschheit bisher auch nicht als notwendig angenommen. Es galt, dass der Sinn menschlicher Entwicklung gerade darin besteht, sich von der Abhängigkeit von äußeren Natureinflüssen mehr und mehr zu befreien – dies scheint ein Irrtum zu sein. Diese scheinbare Befreiung korreliert mit der Meisterung der natürlichen Umstände, auf die Einfluss genommen wird. Wo die Fähigkeiten zur Meisterung dieser Umstände zu gering ist, wie bei den klimatischen Auswirkungen einer Aufheizung der Atmosphäre durch menschliche Tätigkeiten, entsteht durch eine potentiell schädliche „Veränderung der Außenweltbedingungen“ erneut die Not, diese Situation zu wenden, also eine Entwicklungs-Notwendigkeit. In progressiven Entwicklungsverläufen erhalten die „Keimforen“ unter den verschärften Bedingungen Funktionen, die es verhindern, dass sie zerstört werden – manchmal sind sie sogar für das alte System „funktional“ und deshalb wichtig. Dieser Funktionswechsel kann bereits vor dem Systemwechsel stattfinden. Setzen sich die neuen Verhältnisse erfolgreich durch, dann vollziehen die früheren „Keim“-formen einen Dominanzwechsel, sie werden zu den dominanten Formen der neuen Verhältnisse und damit zur Elementarform der sich herausbildenden neuen Totalität. Die genannten 5 Momente einer qualitativen Höherentwicklung (Keimform, Krise, Funktionswechsel, Dominanzwechsel, Umstrukturierung der Verhältnisse) können rückblickend durchgeführt werden.
Die virtuelle Eule der Minerva
Diese eben geschilderten Momente einer Entwicklung werden wahrscheinlich auch in Zukunft für weitere qualitative Umstrukturierungen eine Rolle spielen. Deshalb können wir, auf Grund unserer Fähigkeit zur Antizipation, jetzt schon einmal gedanklich einen Standpunkt ein einer möglichen zukünftigen Welt einnehmen. Es ist ziemlich müßig, dabei den Entwicklungstrend hin zu Stagnation, Verfall und Zusammenbruch einzunehmen. Wenn wir eine lebenswerte Zukunft anpeilen, sollten wir uns auch gedanklich in diesen Zustand versetzen und von daher fragen: Wie konnte es, entgegen aller Wahrscheinlichkeiten, doch dazu kommen, dass sich die Menschheit noch einmal aufgerafft haben wird?
Wir können die Antworten nicht aus einer allgemeinen Dialektik ableiten. Wir können nicht so tun, als wäre die „Menschheit in aller Zeit“ ein Subjekt, das als Ganzes verbürgt, dass auch der folgende Schritt ihrer Entwicklung durch sie in Richtung von Fortschritt, Vernunft und Freiheit gesichert oder nur wahrscheinlich wäre.
Dialektik kommt ins Spiel, wenn wir nach einem neuen Selbstreproduktionsprinzip fragen, das die neuen Verhältnisse angesichts der wahrscheinlich weiterhin turbulenten ökologischen Umwelt stabilisieren kann. Bei der Frage des Übergangs zu diesen neuen Verhältnissen stoßen wir eher auf die „Grenzen der Dialektik“.
Beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus hingen diese beiden Fragen jedoch deutlich zusammen. Die historische Voraussetzung des Kapitalismus war die Trennung der arbeitenden Menschen von ihren wichtigsten Produktionsmitteln, so dass sie seitdem auf Lohnarbeit für die Produktionsmittelbesitzenden angewiesen sind, um zu leben. Diese Trennung der potentiellen Arbeitskräfte von ihren Produktionsbedingungen wird seit der Etablierung der kapitalistischen Verhältnisse immer wieder neu erzeugt und bildet die Basis für deren Dynamik, die Aneignung des durch die Arbeitskräfte erzeugten Mehrwerts und seine Akkumulation als Kapital. Die ständige Reproduktion dieser Verhältnisse macht die „kontemporäre“ Geschichte des Kapitalismus aus. Die Bedingungen für die Möglichkeit des Kapitalismus lassen sich auch aus seiner Vorgeschichte erklären, die schon in früheren Gesellschaftsformen erfolgt. Ellen Meiksin Woods hat neuerdings auf die Bedeutung spezieller pachtrechtlicher Besonderheiten in England aufmerksam gemacht, die die Pächter den Imperativen des Marktes unterwarfen, wie niemals und nirgendwo anders. Dies gehört zur Vorgeschichte der von Marx als Vorbedingung des Kapitalismus betonten Freisetzung der Arbeitskräfte (von ihren Produktionsmitteln). Diese Vorbedingungen ergeben sich nicht mit Notwendigkeit aus den Gesetzmäßigkeiten der vorkapitalistischen Gesellschaft, sie sind demgegenüber kontingent.
Die Aufhebung der kapitalistischen Verhältnisse kann in abstrakter Weise zunächst als eine Negation dieser Trennung von Menschen und Produktionsbedingungen gedacht und realisiert werden: „Kein Privateigentum an Produktionsmitteln mehr“. Aber wie konkret gehen die Menschen dann mit ihren Produktionsbedingungen um? Welche Form gesellschaftlicher Regulierung kann einerseits den einzelnen Menschen die Verfügung über ihre Lebensbedingungen gewähren, andererseits einen gesellschaftlich vernünftigen Zusammenhang stiften? Diese Frage kann durch die abstrakte Negation nicht beantwortet werden.
Was wir suchen, ist nun erstens das mögliche neue selbstreproduktive Prinzip und zweitens das historische Moment, das die neuen Verhältnisse auf ihren Weg bringt. Vielleicht hängen auch diese beiden Faktoren wieder so zusammen wie beim Kapitalismus: das neue historische Moment, das sich nicht „dialektisch“, d.h. durch bestimmte Negation aus dem Alten ableiten lässt, bildet gleichzeitig das neue selbstreproduktive Prinzip bzw. die Voraussetzung dafür.
Marx setzte auf die Arbeiterklasse, als ein Element, das sich aus den inneren Widersprüchen des Kapitalismus als bestimmte Negation entwickelt und aus sich heraus, wenn es seine antikapitalistischen Potenziale befreit hätte, eine neue Gesellschaftsform entwickeln könnte. Autonomer Marxismus betont die Notwendigkeit der Überwindung des „Lohnarbeiterseins“, also die Selbstkritik und -überwindung der früheren Identität.
Wir suchen nicht einen Katalysator, der selbst nicht in das Neue eingeht; sondern eher die Hefe im Hefeteig. Ein Kandidat für diese Hefe ist die „Selbstentfaltung“, die darin besteht, dass ich mich als Individuum nur dann wirklich entfalten kann, wenn sich auch alle anderen Menschen frei selbst entfalten können und nicht, z.B. durch mich, behindert, unterdrückt oder ausgebeutet werden. Leider ist „Selbstentfaltung durch und für alle“ nur ein zahnloser Wunsch weniger IdealistInnen (zu denen ich mich auch zähle), denn es gibt empirisch gesehen durchaus eine Menge Leute, denen das Maß an Selbstverwirklichung ausreicht, dass sie auf Kosten anderer erreichen und die geschichtlich wesentlich wirkmächtiger sind.
Als alternative Verfügungsform über die Lebensbedingungen gelten häufig die „Commons“. Hierbei organisieren sich Menschen gemeinschaftlich, um ihre Lebensbedingungen gemeinschaftlich zu pflegen und zu reproduzieren. Dies ist eine mögliche Negation des kapitalistischen Privateigentums, die jedoch aus sich heraus kein erweiterndes Prinzip in sich trägt. Sie muss darauf hoffen, dass alle feindlichen Mächte zusammenbrechen und sie sie „bypassen“ kann.
1. Version 03.09.2016, 2. Version 23.09.2017
Dieser Text gehört zu den „Geschichtsphilosophischen Fragmenten“
Siehe auch: Wie weiter nach radikal ent-täuschten Hoffnungen?
Oktober 4, 2017 at 9:51 am
Der Mangel von „Dialektik“ als Erklärung von „Entwicklung“ ist spätestens sichtbar, wenn es um PRAXIS geht – die nicht erst heute, sondern auch schon in den angeblich eher erlittenen als gemachten früheren Übergängen stattfand. Menschen antizipieren nicht erst seit heute, und sie LERNEN dabei, historisch,in historischen Zeiten und Zeiträumen, aber eben da auch schon. Dabei werden sie auf genau das aufmerksam, was wieder und wieder die Grenzen eines scheinbar unhintergehbar abgezirkelten „Gesamtzusammenhangs“ sprengt: Dass jenseits dieses Zusammenhangs etwas existenziell Unabdingbares liegt, das sie in ihr Leben und ihre gesamte darauf aufbauende (Re)Produktionsweise und ihre weitere Welt-Erschliessung aufnehmen müssen. (Für die Vergangenheit wurde das, meine ich, bisher nur sehr nachlässig und begriffslos rekonstruiert. Insofern ist Geschichtsphilosophie und -theorie an der Zeit!)
An einem solchen Punkt sind wir wieder angelangt – einem Epochenübergang.
Solche Übergänge haben in der Vergangenheit in Gestalt vermeintlicher Stagnation und in Wahrheit fieberhafter Entwicklungsarbeit unter der (Betrachtungs)Oberfläche ca.150 Jahre in Anspruch genommen: 150 Jahre von Wyclif bis zur Reformation zB;; oder von Newton bis zu den ersten entscheidenden Schritten in Chemie (Elementbegriff), Mathematik und experimenteller Erforschung elektromagnetischer Zusammenhänge MItte des 19.Jahrhunderts. Nur mal um die Zeitdimension anschaulich zu machen. es sind ja immer Leben, Biographien, durch die hindurch sich derartiges abspielen muss.
Für MaterialistInnen ist genau das wichitg: diese Epochen-sprengenden Erkenntnisse spielen sich nicht in irgendeinem Geselslchaftshirn, einer Schwarmintelligenz, einem objektiven Geist ab; sondern in zahllosen Einzelleben, die miteinander (schlecht und recht; genau das ist ua derzeit das Problem!) verwoben sind.
Die grossen Themen, in denen sich die Schranke des (materiellen!) Weltverhältnisses derzeit zeigt, scheinen keinen inneren Zusammenhang aufzuweisen:
1. das, was bei dir „Selbstentfaltung“ heisst, und vielleicht allgemein als „Bedürfnis-Orientierung“ gefasst werden kann (mit all dem Misstrauen, das heute dazu gehört);
2. das Verhältnis zu den biologischen (im weiteren Sinne auch: geophysikalischen System-)Voraussetzungen unserer Existenz;
3. das Verhältnis zu unserer Geschichte, die in unsagbar bestürzender Weise zeitgenössisch in beinah all ihren Phasen, in Gruppen, Regionen, Schichten, Einzelpersonen wieder begegnet und gegenwärtig ist: Als eine wie ein Spuk wieder und wieder uns heimsuchende – solange sie nicht erledigt ist, in Gestalt von zuverlässigen (zwangfreien, versteht sich) Bildungsgängen, die den Nachwachkommenden das Aufschliessen zu den historisch fortgeschrittenen Lebensformen erlaubt.
Drei historisch komplett unerledigte, „wissenschaftlich“, begrifflich komplett unerschlossene PRAXIS- und LERN-Dimensionen.
Es gibt unendlich viel zu tun für die, die „sich bereits (jetzt) in diese Situation des nicht mehr Könnens, aber auf neue Weise Wollens gestellt sehen“.
Sie müssten die Aufgabe erkennen.
Etliche von ihnen müssten dafür… endlich ihren Idealismus aufgeben. (Ein erster Schritt…? eine Debatte unter nichtreformistischen Linken, die lange ansteht?)
Oktober 4, 2017 at 10:08 am
Danke, Franziska, für Deinen Kommentar.
Du meinst, dass etliche noch Idealismus aufgeben sollten… Du selbst verweist aber zu Beginn auch eher auf ideelle Faktoren, wie das Lernen der Menschen… Was verbürgt sonst eine gewisse Kontinuität außer ideellen Faktoren? So etwas wie Gene, die das in der Evolutionsbiologie tun, gibt es ja in der menschlichen Geschichte nicht (mit den Genen als Trägern der Evolution begründet ja auch Holzkamp seine auf die Evolution zurückgehende Methode).
Oktober 4, 2017 at 10:10 am
„das, was bei dir „Selbstentfaltung“ heisst, und vielleicht allgemein als „Bedürfnis-Orientierung“ gefasst werden kann“
Nein, es meint – in Bezug auf Bedürfnisse – eine besondere Form der Bedürfnisbefriedigung, nämlich eine, in der sie NICHT AUF KOSTEN ANDERER geschieht. Das ist eine Begriffsbildung, die mal im „Keimform-„Kontext eingeführt worden ist (zur Unterscheidung von der bürgerlich eingefangenen „Selbstverwirklichung“).
Siehe auch: http://keimform.de/2012/selbstentfaltung/
Oktober 4, 2017 at 10:16 am
Ich muss nicht zu allem was sasgen, aber… hierzu fällt mir kurz ein: Ist nicht, NICHT im gegensatz zu andern leben, ein äusserst wichtiges Grundbedürfnis? Und jede Selbstentfaltung, bei der man „die Andern“ ignorieren MUSS, eine beschädigte? Sodass wir also damit ganz im Umkreis des Bedürfnis-Themas bleiben, ohne Zusatz… (diese Argumentationsweise wird man von mir öfter hören oder lesen…)
Oktober 4, 2017 at 10:54 am
Tja, das ist eine wichtige Knackfrage. “ Ist nicht, NICHT im gegensatz zu andern leben, ein äusserst wichtiges Grundbedürfnis?“
Wie kann man das begründen? Und warum zeigt es sich so selten?
Oktober 4, 2017 at 10:14 am
Nun, so einfach mach ich kein „Sollen“ geltend, aber wenigstens „Debatte“ (ich sehe für mich da durchaus eine Bringschuld…)
Lernen ist eine extrem materielle Sache, die gesamte Reproduktion ist ein einziges riesiges Experiment, die Vergeselslchaftung ist eins, und massgeblich ist das Denken der Rahmen-Hypothesen, unter denen Menschen (seit Beginn ihrer Geschichte; seit Erfahrung sprachlich tradiert werden kann und man nicht mehr „dabei gewesen sein muss“, um mitlernen zu können) dieses Experiment machen und kollektiv (statt als Einzelorganismen) lernen.
Nebenbei, Lernen und Lehren sind materiell aufwendig, man muss Leute oder Lebenszeiten freistellen dafür. Da geht viel reichtum (Überschuss) drauf… Ein zentrales materielles Thema!
(Zur Erinnerung: Kopf/Hand, Stadt/Land, Zentrum/Peripherie, männlich/weiblich… – hat alles mit Lernen zu tun!)
Oktober 4, 2017 at 10:53 am
Aber macht dieses Lernen das Irreversible/Kontinuierliche in der Geschichte aus? Letztlich heißt es doch eher, dass aus der Geschichte erfahrungsgemäß nichts gelernt wird… und aus der Gegenwart häufg auch oft das Falsche (vor allem, wenn man dem „objektiven Schein“ in den „verkehrten“ Verhältnissen des Kapitalismus folgt).
Oktober 24, 2017 at 4:04 pm
„Unterdrückung und Ausbeutung führen nicht per se zum Aufstand, wenn ein gewisses Maß an Lebensqualität aufrechterhalten wird. Erst wenn das Leben wirklich nicht mehr gut funktioniert, und wenn die Menschen das nicht mehr aushalten wollen und wenn sie erkennen, dass es auch anders ginge…, dann setzen sie sich in Bewegung (wohin auch immer…).“
Das klingt für mich nach Verelendungstheorie – zum Aufstand kommt es um so wahrscheinlicher, je mehr die Lebensqualität den Bach runtergegangen ist. Das gilt vielleicht gelegentlich, aber generell erscheint es mir zweifelhaft. Ist das Leben so richtig schlecht, haben die Menschen wahrscheinlich mit dem bloßen Überleben so viel zu tun – z.B. wenn sie zwischen mit 3 miserable bezahlten Teilzeitjobs und ihrer Familie rotieren, oder wenn sie arbeitslos und gedemütigt zu Hause rumhängen – das ihnen zum „Aufstand“ gar keine Zeit und/oder Kraft mehr bleibt.
Wenn es den Menschen hingegen gut geht, werden ihre Ansprüche und Erwartungen höher, und zwar womöglich so hoch, dass sie den Kapitalismus selbst in Frage stellen. So war es etwa zur Zeit der 68er – das war ja noch das kurze „Goldene Zeitalter“ des Kap. mit weitgehender Vollbeschäftigung und sicheren Perspektiven, und gerade da hatten viele Menschen die Lust und den Willen, noch viel mehr zu fordern und damit bisweilen das ganze System in Frage zu stellen. Leider dürften solche Umstände nicht wiederkommen.
Ich will natürlich nicht umgekehrt behaupten: „Je schlechter es den Menschen geht, desto stabiler das System.“ Das wäre sicher ebenfalls so kurz gegriffen. Aber der Verweis auf das schlecht funktionierende Leben, das zum Aufstand motivieren könnte, scheint mir eben auch fragwürdig.
Oktober 25, 2017 at 7:27 pm
Historisch gesehen war es leider so, wie ich es beschreibe. Ich habe mich grad mit der englischen und deutschen Geschichte beschäftigt, alle Bauernaufstände etc. erfolgten nur, wenn die Bedrängnis so schlimm wurde, dass sowieso das Überleben kaum noch möglich war (z.B. Wat Typer-Aufstand England 1381 nach verheerenden Mißernten (1/10 der Bevölkerung stirbt, Pest (50% sterben) und auslösend dann nach schon hohen Steuerforderungen noch die Erhebung einer Kopfsteuer für Krieg gegen Franzosen; z.B. örtlich isolierte, aber massenhafte Bauernaufstände in Europa zwischen 1340 und 1350 in einem „Jahrhundert der Krisen“ mit Pest, Hungersnöten, Raubrittertum, wachsender sozialer Kluft, rapider Geldentwertung, Wüstungen entstehen… ).
Mein Satz entstammt also nicht einer abstrakten „Verelendungstheorie“, sondern den Erfahrungen der Geschichte.
Die 68er müssen da, glaube ich, extra betrachtet werden, die waren etwas Neues im Sinne einer vorwiegend kulturverändernden Revolte und besonders kapitalismusüberwindend ist es ja nicht geworden…
November 3, 2017 at 5:03 pm
OK, schlimme Bedrängnis kann zu Aufständen führen. Aber führen die dann auch zu etwas Neuem, zu Umbrüchen der Produktionsweise? Das war etwa bei den Bauernaufständen, sofern mir bekannt, eher nicht der Fall. Die Entstehung des Kapitalismus war (jedenfalls Wood zufolge) unabhängig von irgendwelchen Aufständen. Natürlich spielten da Auseinandersetzungen eine Rolle, aber eher Auseinandersetzungen innerhalb der Elite um die Machtverteilung zwischen Grundherren und Krone.
Im Text schreibst du: „Um die Welt maßgeblich zu verbessern, müssten sich zu Anfang mehr Menschen in Bewegung setzen“, und das tun sie „erst wenn das Leben wirklich nicht mehr gut funktioniert“. Das scheint mir Bewegungen, die wirklich zur Veränderung der Produktionsweise führen, nicht gut zu charakterisieren.
Generell scheint mir etwas Neues zu entstehen, wenn Leute auf veränderte Umstände reagieren. Das kann aber heißen, dass neue Möglichkeiten untersucht und ausgenutzt werden (wie bei der Entstehung des Kapitalismus) oder neue Rechte eingefordert werden (etwa bei den Kämpfen um die Abschaffung der Sklaverei oder bei der Einforderung von gleichen Rechten für Frauen). Beim Ende des Römischen Reichs, woraus letztlich der Feudalismus hervorging, war es wohl noch am ehesten so, dass das Neue entstand, weil das Alte nicht mehr da war bzw. nicht mehr funktionierte — aber auch da weiß ich nicht, ob das von den Leuten als „das Leben funktioniert nicht mehr“ wahrgenommen wurde oder ob sie nicht eher pragmatisch auf sich verändernde Umstände so reagierten, wie ihnen naheliegend schien.
November 4, 2017 at 9:07 am
Die Aufstände aus einer Bedrängnis heraus führten im Feudalismus i.a. zu bestimmten territorialen Besonderheiten der Herrschaftsausübung. In Sachsen und Thüringen, die sich im 6. und 8. Jhd. am stärksten gegen die Durchsetzung feudaler Herrschaft wehrten (im übrigen genau da, weil dort die gentilen Strukturen noch weitgehend intakt gewesen waren, das zeigt sich bei anarchistischem Widerstand im 20. Jhd. auch, dass der dort am stärksten war, wo die alten Strukturen und Rechte noch praktisch und im Bewusstsein vorhanden waren), wurde ein besonderer Typ „feualer Hebewirtschaft“ eingeführt, der sich von der Fronhofstruktur anderswo unterschied. „Dabei handelte es sich um eine feudale Ausbeutungsform, in der der Bauer sein Land erblich besaß, es selbständig bewirtschaftete und die feudalen Abgaben nicht in erster Linie als Fron- und Hofdienst, sondern als Naturalsteuer in festgelegtem Umfang an bestimmten „Hebestellen“ ablieferte.“ (Herrmann 1988: „Dt. Geschichte in 10 Kapiteln“)
Die Bauernaufstände in England von 1381 haben meiner Meinung nach allerdings durchaus an der Zersetzung des feudalen Systems beigetragen. Einige der Besonderheiten Englands, die die Entstehung des Kapitalismus erleichterten, (die es in anderen Ländern nicht gab, wodurch sich dort der Feudaladel gegenüber „bürgerlichen“ Tendenzen immer wieder durchsetzen konnte), haben damit (und den späteren Rosenkriegen) zu tun. (Obwohl die Bauern natürlich keinen Kapititalismus wollten…). Die Leibeigenschaft war in England z.B. im letzten Teil des 14. Jhd. praktisch verschwunden.
Welche meinst Du mit den „Bewegungen, die wirklich zur Veränderung der Produktionsweise führen“? So wichtig ich die Abschaffung der Sklaverei und die Einforderung von gleichen Rechten finde – zu neuen Produktionsverhältnissen haben sie nicht geführt. Und meinst Du wirklich, der Kapitalismus sei entstanden, weil „neue Möglichkeiten untersucht und ausgenutzt werden“? Von wem überhaupt? Denen, die die Mittel zur Gesellschaftsumgestaltung schon hatten oder den Unterdrückten, Ausgebeuteten?
November 9, 2017 at 6:41 pm
@Annette:
Beigetragen insofern wahrscheinlich schon, dass sie spezifische Bedingungen schufen, die für die spätere Entwicklung des Kapitalismus nützliche oder notwendige Voraussetzungen waren. Allerdings deutet schon die zeitliche Verzögerung von etwa 200 Jahren darauf hin, dass diese Entwicklung keine direkte Folge der Bauernaufstände war.
Naja, ob Sklaven oder ihre Arbeitskraft selbst verkaufende Lohnarbeiter_innen produzieren, ist für die Analyse der Produktionsweise ja nicht irrelevant. Und auch der allmähliche Wechsel von einem „Familienvater als Brötchenverdiener / Mutter als Hausfrau“-Modell zu einem, wo die meisten (Ehe)Männer voll- und die meisten (Ehe)Frauen zumindest Teilzeit arbeiten, führt zwar nicht über den Kapitalismus heraus, macht aber schon einen Unterschied.
Sicher nicht von den Unterdrückten. Bei der Entstehung des Kapitalismus waren es Wood zufolge die Grundherren, die begannen, ihr Land meistbietend zu verpachten, nachdem sie die politische Macht großteils verloren hatten und damit auch ihr Interesse an möglichst vielen „Untertanen“, das ein derartiges Pachtregime vorher unattraktiv gemacht hätte. Die unglücklichen Pächter wurden gezwungen, „kapitalistisch“ zu denken und möglichst effizient zu wirtschaften, wenn sie ihr Pachtland behalten wollten. Für die Pächter war das ein Zwang, für die Grundherren aber eine neue Möglichkeit zur Bereicherung.
November 10, 2017 at 9:19 am
Haben wir hier aneinander vorbei geredet?
AS: “ Welche meinst Du mit den „Bewegungen, die wirklich zur Veränderung der Produktionsweise führen“? So wichtig ich die Abschaffung der Sklaverei und die Einforderung von gleichen Rechten finde – zu neuen Produktionsverhältnissen haben sie nicht geführt.“
CS: „Naja, ob Sklaven oder ihre Arbeitskraft selbst verkaufende Lohnarbeiter_innen produzieren, ist für die Analyse der Produktionsweise ja nicht irrelevant.“
Das bestreite ich ja nicht. Aber welche „Bewegungen“ sollen dahin geführt haben?
November 14, 2017 at 4:43 pm
OK, dann haben wir wohl wirklich aneinander vorbei geredet. Welche Bewegungen? Na, beides, Emanzipation der Sklav_innen und der Frauen, wurde doch ganz bewusst und gezielt erkämpft. Im Falle der Frauen vor allem von diesen selber, in Falle der Sklav_innen vielleicht eher von Nicht-Sklaven, die diese Zweiteilung der Menschheit nicht mehr akzeptieren wollten. Wobei der Sklavenaufstand auf Haiti ( https://de.wikipedia.org/wiki/Haitianische_Revolution ), durch den sich eine halbe Million Sklav_innen befreiten und der erste unabhängige Staat ehemaliger Sklaven entstand, aber wohl auch eine ganz beträchtliche Rolle spielten, weil sie den Sklavenhaltern anderswo deutlich vor Augen führte, dass die Situation auch für sie nach hinten losgehen könnte.
November 10, 2017 at 9:24 am
CS:“ Beigetragen insofern wahrscheinlich schon, dass sie spezifische Bedingungen schufen, die für die spätere Entwicklung des Kapitalismus nützliche oder notwendige Voraussetzungen waren.“
Genau um diese spezifischen Bedingungen geht es mir ja. Bisher wurden sie zu stark ausgeblendet. Wie auch in der biologischen Evolution spielen „evolutionäre/historische Zufälle“ eine sehr große Rolle, die z.B. von der Keimformtheorie systematisch ausgeblendet werden, weil da nur noch die „große Linie“ aus der Vergangenheit in die Zukunft rekonstruiert wird und das Ganze von daher deterministischer aussieht, als es war (und auch so für Antizipationen angenommen wird).
Ich möchte genau darauf verweisen, dass es eben nicht der „normale Lauf der Dinge“ ist, dass irgendwelche inneren Widersprüche „notwendigerweise“ zu einer Lösung drängen und dann doch ziemlich erwartbar früher oder später neue Verhältnisse entstehen. Nein, das passiert eben nur selten, nämlich dort, wo diese spezifischen Bedingungen hinzukommen (die dummerweise wohl auch niemand vorher hätte vorhersehen können: das reißt ein Loch in die Möglichkeit der Antizipation/Erkenntnis, was uns natürlich nicht gefällt, weswegen wir es gerne verdrängen).
November 14, 2017 at 4:45 pm
Ja, da sind wir uns einig.
November 10, 2017 at 9:28 am
CS: „Bei der Entstehung des Kapitalismus waren es Wood zufolge die Grundherren, die begannen, ihr Land meistbietend zu verpachten,“
Richtig. Wir sollten aber auch nicht diese Tatsache wiederum verabsolutieren und nur noch davon sprechen, wenn wir von der Entstehung des Kapitalismus reden. Seit ich mehr Texte aus der Geschichte des Feudalismus/Mittelalters lese, merke ich immer mehr, wie vielfältig diese Prozesse waren und jedes Herausziehen von nur einem Zusammenhang macht das Ganze sehr einseitig. Ich genieße hier den Vorzug meiner Bibliothek, in der sich viele Bücher zur Geschichte aus DDR-Zeiten finden, bei denen es eben nicht nur um politische Herrschaftsbeziehungen und -kämpfe geht, sondern in denen sozialökonomische Entwicklungen hervorgehoben werden und auch ein besonderer Blick auf Klassenkämpfe geworfen wird, die heute wieder meist übersehen werden.
November 10, 2017 at 11:31 am
P.S.: das „Mütter/Frauen als Hausfrau“-Modell würde mir sehr helfen, weil ich dann mehr Freizeit für meine wirklich wichtigen Arbeiten hätte. Wenn Frauenlohnarbeit nur freiwillig wäre, wäre es ja okay. Aber dass der zunehmende finanzielle Zwang, es tun zu MÜSSEN, etwas anderes ist, wird meist übersehen.
November 14, 2017 at 4:55 pm
Tja, dass aus dem Recht auf selbstgewählte Lohnarbeit dann auch eine faktische Pflicht wurde, fällt wohl unter unintendierte Folgen. Wobei das nun sicher kein Zufall war, sondern erfolgreicher „Klassenkampf von oben“.
Allerdings war auch vorher die Idee, dass das Gehalt des Ehemannes für die Versorgung der ganzen Familie ausreichen sollte (sog. „Familiengehalt“) wohl oft eher Theorie und gewerkschaftlicher Anspruch anstatt Realität. In vielen Fallen mussten die (Ehe)Frauen sich sicher auch damals eine Arbeit suchen, nur dass das eben noch deutlich schwieriger war, weil die meisten gutbezahlten Jobs weitestgehend Männern vorbehalten waren.
Dezember 15, 2017 at 11:42 am
„Erst wenn das Leben wirklich nicht mehr gut funktioniert, und wenn die Menschen das nicht mehr aushalten wollen und wenn sie erkennen, dass es auch anders ginge…, dann setzen sie sich in Bewegung (wohin auch immer…)“.
Der entscheidende Satz ist: „wenn sie erkennen, dass es auch anders ginge“
Dieses „anders“ ist der Zündfunke einer jeden Revolution, so meine ich.
Das war doch bei zumindest drei der größten Revolutionen der Fall.
Die zündende Idee, der Französische Revolution war, die Idee der Gleichheit (Aufklärung). Motor war die Armut.
Die zündende Idee der russischen Revolution waren die Thesen von Marx und Engels (Kommunismus), der Motor waren die Armut und die Unfreiheit.
Die zündende Idee der Revolution von 1989 war eine Reform des Kommunismus(Glasnost), der Motor war die Unfreiheit, der Überwachungsstaat. Hier sind Hunger und Armut als Ursachen nicht mehr vorhanden. Nur die relative Armut gegenüber dem Westen war ein Motor.
Ich meine, der Zündfunke, die Idee einer Revolution ist vorher schon da. Er setzt den Druck, der sich durch Armut oder Unterdrückung oder beides, vielleicht auch andere Ursachen gebildet hat in Brand.
Ich sehe da sogar das Gleichnis des Sämanns. Die Ideen, die eine Revolution auslösen sind die Samen. Die Erde (Motor einer Revolution) bildet den Boden, dann geht die Saat auf.
Ich denke sogar noch weiter. Jede Revolution hinterlässt die Reaktion. Die Niederschlagung. Erst dann entwickeln sich weitere Varianten der ursprünglichen Ideen und deren Realisationen in Wellenbewegungen der Geschichte. So haben sich etwa die Ideen der Aufklärung in Europa als Fundament der Demokratien entwickelt und dies nach zwei Weltkriegen.
Ich denke, dass die herrschende Klasse sehr wohl weiß, dass das Prekariat versorgt werden muss, damit es nicht revoltiert. Das hat man im Sozialstaat realisiert. Das war ironischerweise das Ziel aller Sozialbewegungen. Eine Teilhabe ist damit aber nicht entstanden. Dass Bildung nicht mehr zur Teilhabe führt, ist meines Erachtens erneut Sprengstoff für die Zukunft.