Grenzen der Dialektik

Dialektik hat bei jenen, die unverdrossen nach einer Alternative zum globalen Kapitalismus suchen, immer noch einen guten Klang. Es rettet uns kein höhres Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun – aber vielleicht die Dialektik? Im traditionellen Marxismus wurde die Dialektik als allgemeine Methode der Philosophie der Siegesgewissheit überhöht. Kann sie heute wenigstens eine Philosophie der Hoffnung tragen? Alles fließt, alles entwickelt sich – also wird auch das heute Schlechte überwunden werden, wir müssen nur den dialektischen Gang der Geschichte verstehen und dementsprechend handeln. So einfach war das einmal – ist es aber wohl doch nicht mehr.

In früheren marxistisch-leninistischen Vorstellungen folgte die Welt den dialektischen Grundgesetzen: Ihre Erscheinungen folgen demnach einem Entwicklungsweg mit sprunghaften Qualitätsveränderungen. Dabei kommen die Verhältnisse durch Widersprüche in eine Entwicklung; die zuerst nur quantitativen Veränderungen schlagen in qualitative um und dabei wird der vorherige Zustand auf einer höheren Ebene wieder hergestellt. Alle möglichen Erscheinungen entwickeln sich so und unsere Erkenntnis kann diese Entwicklung nachvollziehen. Der historische Verlauf enthält diese Logik und sie wird in abstrakter Weise abbildend in der Erkenntnis nachvollzogen.

Hegels Dialektik hat nicht irgendwelche Dinge oder Prozesse außerhalb des Erkennens zum Thema, sondern jeweils das Denken der inneren Bewegung der Verhältnisse. Weil sie nur das Denken der Bewegung zum Gegenstand hat, und nicht irgendetwas, wie es wäre, wenn wir es nicht denken würden, wird ihr Idealismus vorgeworfen. Hegels Thema ist nicht die historische Veränderung, sondern es geht ihm um das „zeitlose Begreifen“. Beim späteren Umstellen „vom Kopf auf die Füße“ (also der materialistischen Uminterpretation der Hegelschen Dialektik) wurde aus der logischen Entwicklung umstandslos eine historische und das Ordnungssystem der Wissenschaften wurde als zeitliche Entfaltung ihrer Gegenstände verstanden. Da die logische Entwicklung vollständig bestimmt (also „deterministisch“) ist und das System vollständig, wurde daraus eine Entwicklungsvorstellung, die zeitliche Abläufe als vollständig determiniert und das System als „totalitär“ missverstehen konnte.

Während im Hegelschen System jede Negation eindeutig bestimmt ist (in Richtung des jeweils systematisch Folgenden), gibt es in der historischen Entwicklung jedoch im Zustand der Gegenwart immer Alternativen. Statt einer Stufenform entspricht dem historischen Verlauf eher eine Verzweigung. Die strenge Logik der Hegelschen Dialektik muss in der materialistisch-historisierenden Uminterpretation ergänzt werden durch die Hinzufügung von nicht dialektisch ableitbaren „historischen Voraussetzungen“ bei Marx (die historische erstmalige Entstehung der Klasse der Proletarier, die sich aus der (noch nicht entstandenen) Kapitalreproduktion noch nicht erklären lässt) und Veränderungen im „Umweltpol“ (bei Holzkamp), um jeweils die Überschreitung einer Grundqualität in der historischen Entwicklung zu beschreiben bzw. zu begründen. Das wird dann auch bei Marx „Grenzen der Dialektik“ genannt.

Es ist also kein Zufall, dass gerade da, wo es spannend wird – bei der historischen Ablösung der Gesellschaftsformationen – die Dialektik biss- und zahnlos wird. Sie behandelt nur sich selbst vollständig reproduzierende Systeme, sie basiert auf der Selbstbezüglichkeit und wenn diese in der materialistisch-historisierenden Uminterpretation verloren geht, und sie muss dabei verloren gehen – so verliert sie damit ihren Motor, also gerade das, worauf die Philosophie der Hoffnung setzte.

Systemsprengung durch Widerspruch (u.a. zur Umwelt)

Was sprengt eine scheinbar ewige Selbstreproduktion eines Systems auf? Was führt zu einem neuen, besseren System? Die alte Dialektiktradition ging von der Dominanz der „inneren Widersprüchen“ gegenüber äußeren aus. Dies folgte der Hegelschen Argumentationsweise. Tatsächlich ergeben sich dort alle Widersprüche aus dem zuerst Betrachteten, indem es an seine Grenzen geführt wird, bis es sich selbst widerspricht und zu einer höheren Form der Erkenntnis/des Denkens führen kann. Aber, und dies erkannte auch Marx schon: alles was daraus entstehen kann, verbleibt in dem vorausgesetzten Gesamtzusammenhang; es geht nicht wirklich darüber hinaus. Das Gegenteil zum Nordpol, der Südpol, ist immer noch ein Pol. Der „wirkliche Gegensatz“ wäre aber kein Pol mehr; nichts mehr aus dem „übergreifenden Allgemeinen“, Pol zu sein. Dies gilt auch für die Arbeiterklasse als Gegenspielerin zur Klasse des Kapitals. Als Kapitalform (Verkörperung der lebendigen Arbeit im Kapitalismus) hat sie keine wirkliche revolutionäre, also systemsprengende Rolle. Nur wenn sich die arbeitenden Menschen, wie die autonomen Marxisten und Operaisten betonen, ihrer Rolle als lohnarbeitende Kapitalerzeuger entziehen, können sie revolutionär handeln – nur, was sind die Menschen dann? Keine Lohnarbeiterinnen, sondern Menschen, die außerhalb der Kapitalreproduktion ihre Lebensgrundlagen erarbeiten könnten…, wenn sie denn im Besitz wichtiger Lebensgrundlagen und Produktionsmittel hierfür wären; was sie aber nicht sind, solange sie die Revolution nicht gemacht haben…

Was könnte sie nun aber zur Revolution bewegen? Was bewegt sie dazu? Man muss ihnen keine revolutionären Interessen andichten. Aber man kann davon ausgehen, dass Menschen das Ziel verfolgen ihre Lebensbedingungen zu erhalten und zu verbessern. Solange sie die Bedingungen auskömmlich und erträglich finden, werden sie nicht aufmucken. Was sie als notwendige Bedingungen ansehen, welche Bedeutung sie ihn zuschreiben, welche Gründe sie haben sich so oder so zu ihnen zu stellen, darüber zu befinden steht jedem Individuum selbst zu. Ein Aufmucken könnte ja die immer noch vorhandene Erträglichkeit auch noch gefährden.

Die Entscheidungen zwischen den verschiedenen Denk- und Verhaltensmöglichkeiten werden immer im Verhältnis zu den eigenen Lebensbedingungen gefällt. Unterdrückung und Ausbeutung führen nicht per se zum Aufstand, wenn ein gewisses Maß an Lebensqualität aufrechterhalten wird. Erst wenn das Leben wirklich nicht mehr gut funktioniert, und wenn die Menschen das nicht mehr aushalten wollen und wenn sie erkennen, dass es auch anders ginge…, dann setzen sie sich in Bewegung (wohin auch immer…).

Um die Welt maßgeblich zu verbessern, müssten sich zu Anfang mehr Menschen in Bewegung setzen, als sich bereits in diese Situation des nicht mehr Könnens, aber auf neue Weise Wollens gestellt sehen. Diese Ungleichzeitigkeit führt zu einem ermüdenden Stop and Go und auch zu Rückwärtsgängen. Und ungerechterweise trifft die Verschärfung der Umweltbedingungen durch den anthropogenen Klimawandel ausgerechnet zuerst jene, die von der Verschwendung der Naturreichtümer am wenigsten hatten und deren Handlungsmöglichkeiten am weitesten eingeschränkt sind.

Die Situation ist festgefahren. Während des Wartens und Drängens verschwinden immer mehr ökologische Grundlagen des Lebens auf dieser Erde und die Bedingungen der Zukunft verschlechtern sich zusehends. Auf die Dialektik des Umschlags zu neuen Qualitäten zu setzen erinnert an ein Pfeifen im Walde. Jede reale Situation kann im historischen Verlauf zu erneuerten anderen Verhältnissen führen; sie kann aber auch in Stagnation und Verfall enden. Gegen die letzten beiden Möglichkeiten hilft keine Dialektik.

Entwicklungslogiken

Wenn Menschen einen Vorteil in der Evolutionsgeschichte haben, dann den, dass sie Prozesse und Verhältnisse antizipieren können, bevor sie existieren. Hegels Dialektik endet beim Standpunkt der Eule der Minerva: Menschen können die Geschichte so analysieren, dass sie von ihrem Standpunkt aus in die Vergangenheit schauen und von einem früheren Zeitpunkt her nachfragen, welche Bedingungen, Prozesse und Handlungen jeweils bis zur gegenwärtigen Situation geführt haben. Auch wenn in jedem gegenwärtigen Zeitpunkt die Entwicklungsalternativen noch offen standen – im Nachhinein kann man sehen, welche Nöte durch den tatsächlich beschrittenen Weg gewendet wurden, welche neuen Not-Wendigkeiten dabei entstanden usw. usf… Diese „Entwicklungslogik“ kann für die Vergangenheit bis zur Gegenwart erkennend nachvollzogen werden.

Für die Phylogenese entwickelte Klaus Holzkamp den Leitgedanken der „fünf Schritte“ einer entsprechenden Analyse. Dies sind Analyseschritte, die in den untersuchten Verhältnissen nicht unbedingt in dieser zeitlichen Reihenfolge stattfinden müssen. Zuerst geht es um die „Keimformen“, die den nächsten Entwicklungszyklus dominieren werden. Die gibt es schon in der früheren Form, aber nur in einer untergeordneten Rolle. Im zweiten Analyseschritt wird die Krise analysiert, auf die der frühere dominante Gesamtprozess nicht mehr angemessen reagieren kann. In der biologischen Evolution sind das häufig die „objektiven Veränderungen der Außenweltbedingungen“. Der Bezug auf den Umweltfaktor wurde für die Menschheit bisher auch nicht als notwendig angenommen. Es galt, dass der Sinn menschlicher Entwicklung gerade darin besteht, sich von der Abhängigkeit von äußeren Natureinflüssen mehr und mehr zu befreien – dies scheint ein Irrtum zu sein. Diese scheinbare Befreiung korreliert mit der Meisterung der natürlichen Umstände, auf die Einfluss genommen wird. Wo die Fähigkeiten zur Meisterung dieser Umstände zu gering ist, wie bei den klimatischen Auswirkungen einer Aufheizung der Atmosphäre durch menschliche Tätigkeiten, entsteht durch eine potentiell schädliche „Veränderung der Außenweltbedingungen“ erneut die Not, diese Situation zu wenden, also eine Entwicklungs-Notwendigkeit. In progressiven Entwicklungsverläufen erhalten die „Keimforen“ unter den verschärften Bedingungen Funktionen, die es verhindern, dass sie zerstört werden – manchmal sind sie sogar für das alte System „funktional“ und deshalb wichtig. Dieser Funktionswechsel kann bereits vor dem Systemwechsel stattfinden. Setzen sich die neuen Verhältnisse erfolgreich durch, dann vollziehen die früheren „Keim“-formen einen Dominanzwechsel, sie werden zu den dominanten Formen der neuen Verhältnisse und damit zur Elementarform der sich herausbildenden neuen Totalität. Die genannten 5 Momente einer qualitativen Höherentwicklung (Keimform, Krise, Funktionswechsel, Dominanzwechsel, Umstrukturierung der Verhältnisse) können rückblickend durchgeführt werden.

Die virtuelle Eule der Minerva

Diese eben geschilderten Momente einer Entwicklung werden wahrscheinlich auch in Zukunft für weitere qualitative Umstrukturierungen eine Rolle spielen. Deshalb können wir, auf Grund unserer Fähigkeit zur Antizipation, jetzt schon einmal gedanklich einen Standpunkt ein einer möglichen zukünftigen Welt einnehmen. Es ist ziemlich müßig, dabei den Entwicklungstrend hin zu Stagnation, Verfall und Zusammenbruch einzunehmen. Wenn wir eine lebenswerte Zukunft anpeilen, sollten wir uns auch gedanklich in diesen Zustand versetzen und von daher fragen: Wie konnte es, entgegen aller Wahrscheinlichkeiten, doch dazu kommen, dass sich die Menschheit noch einmal aufgerafft haben wird?

Wir können die Antworten nicht aus einer allgemeinen Dialektik ableiten. Wir können nicht so tun, als wäre die „Menschheit in aller Zeit“ ein Subjekt, das als Ganzes verbürgt, dass auch der folgende Schritt ihrer Entwicklung durch sie in Richtung von Fortschritt, Vernunft und Freiheit gesichert oder nur wahrscheinlich wäre.

Dialektik kommt ins Spiel, wenn wir nach einem neuen Selbstreproduktionsprinzip fragen, das die neuen Verhältnisse angesichts der wahrscheinlich weiterhin turbulenten ökologischen Umwelt stabilisieren kann. Bei der Frage des Übergangs zu diesen neuen Verhältnissen stoßen wir eher auf die „Grenzen der Dialektik“.

Beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus hingen diese beiden Fragen jedoch deutlich zusammen. Die historische Voraussetzung des Kapitalismus war die Trennung der arbeitenden Menschen von ihren wichtigsten Produktionsmitteln, so dass sie seitdem auf Lohnarbeit für die Produktionsmittelbesitzenden angewiesen sind, um zu leben. Diese Trennung der potentiellen Arbeitskräfte von ihren Produktionsbedingungen wird seit der Etablierung der kapitalistischen Verhältnisse immer wieder neu erzeugt und bildet die Basis für deren Dynamik, die Aneignung des durch die Arbeitskräfte erzeugten Mehrwerts und seine Akkumulation als Kapital. Die ständige Reproduktion dieser Verhältnisse macht die „kontemporäre“ Geschichte des Kapitalismus aus. Die Bedingungen für die Möglichkeit des Kapitalismus lassen sich auch aus seiner Vorgeschichte erklären, die schon in früheren Gesellschaftsformen erfolgt. Ellen Meiksin Woods hat neuerdings auf die Bedeutung spezieller pachtrechtlicher Besonderheiten in England aufmerksam gemacht, die die Pächter den Imperativen des Marktes unterwarfen, wie niemals und nirgendwo anders. Dies gehört zur Vorgeschichte der von Marx als Vorbedingung des Kapitalismus betonten Freisetzung der Arbeitskräfte (von ihren Produktionsmitteln). Diese Vorbedingungen ergeben sich nicht mit Notwendigkeit aus den Gesetzmäßigkeiten der vorkapitalistischen Gesellschaft, sie sind demgegenüber kontingent.

Die Aufhebung der kapitalistischen Verhältnisse kann in abstrakter Weise zunächst als eine Negation dieser Trennung von Menschen und Produktionsbedingungen gedacht und realisiert werden: „Kein Privateigentum an Produktionsmitteln mehr“. Aber wie konkret gehen die Menschen dann mit ihren Produktionsbedingungen um? Welche Form gesellschaftlicher Regulierung kann einerseits den einzelnen Menschen die Verfügung über ihre Lebensbedingungen gewähren, andererseits einen gesellschaftlich vernünftigen Zusammenhang stiften? Diese Frage kann durch die abstrakte Negation nicht beantwortet werden.

Was wir suchen, ist nun erstens das mögliche neue selbstreproduktive Prinzip und zweitens das historische Moment, das die neuen Verhältnisse auf ihren Weg bringt. Vielleicht hängen auch diese beiden Faktoren wieder so zusammen wie beim Kapitalismus: das neue historische Moment, das sich nicht „dialektisch“, d.h. durch bestimmte Negation aus dem Alten ableiten lässt, bildet gleichzeitig das neue selbstreproduktive Prinzip bzw. die Voraussetzung dafür.

Marx setzte auf die Arbeiterklasse, als ein Element, das sich aus den inneren Widersprüchen des Kapitalismus als bestimmte Negation entwickelt und aus sich heraus, wenn es seine antikapitalistischen Potenziale befreit hätte, eine neue Gesellschaftsform entwickeln könnte. Autonomer Marxismus betont die Notwendigkeit der Überwindung des „Lohnarbeiterseins“, also die Selbstkritik und -überwindung der früheren Identität.

Wir suchen nicht einen Katalysator, der selbst nicht in das Neue eingeht; sondern eher die Hefe im Hefeteig. Ein Kandidat für diese Hefe ist die „Selbstentfaltung“, die darin besteht, dass ich mich als Individuum nur dann wirklich entfalten kann, wenn sich auch alle anderen Menschen frei selbst entfalten können und nicht, z.B. durch mich, behindert, unterdrückt oder ausgebeutet werden. Leider ist „Selbstentfaltung durch und für alle“ nur ein zahnloser Wunsch weniger IdealistInnen (zu denen ich mich auch zähle), denn es gibt empirisch gesehen durchaus eine Menge Leute, denen das Maß an Selbstverwirklichung ausreicht, dass sie auf Kosten anderer erreichen und die geschichtlich wesentlich wirkmächtiger sind.

Als alternative Verfügungsform über die Lebensbedingungen gelten häufig die „Commons“. Hierbei organisieren sich Menschen gemeinschaftlich, um ihre Lebensbedingungen gemeinschaftlich zu pflegen und zu reproduzieren. Dies ist eine mögliche Negation des kapitalistischen Privateigentums, die jedoch aus sich heraus kein erweiterndes Prinzip in sich trägt. Sie muss darauf hoffen, dass alle feindlichen Mächte zusammenbrechen und sie sie „bypassen“ kann.

1. Version 03.09.2016, 2. Version 23.09.2017


Dieser Text gehört zu den „Geschichtsphilosophischen Fragmenten“


 Siehe auch: Wie weiter nach radikal ent-täuschten Hoffnungen?