Vom 20.-22. Oktober 2017 nahm ich an der Tagung „Der Zukunft auf der Spur“ – Transformation aus der Perspektive Ernst Blochs in Berlin teil und hielt dort folgenden Vortrag (hier schriftliche Version 1.2).


… der Zukunft auf der Spur…

„Zukunft“ klingt immer noch wie etwas Gutes. Aber so wie das Erdbeben von Lissabon einst die Theodizee in Frage stellte und nach Auschwitz auch Gedichte nicht mehr unschuldig sind – so wird der Klima-Umbruch der nächsten Jahrzehnte alles alte Denken über die Zukunft erschüttern und neue Fragen aufwerfen…

Die Katastrophen des 20.Jhd. haben linkes, sozialistisch-kommunistisches Denken nicht grundsätzlich erschüttert. Sie konnten als leider nicht verhinderte Durchgangsstationen zum doch noch erwartenbaren guten Ende der Vorgeschichte der Menschheit betrachtet werden. Die Resultate der Erschütterung des Fortschrittsglaubens, die einen Großteil der Geistesgeschichte, vor allem der Geschichtsphilosophie in Deutschland in diesem Jahrhundert prägten, konnten als Folge des Niedergangs einer Klasse, der Bourgeoisie und ihrer Gesellschaft, des Kapitalismus, abgetan werden. Jürgen Kuczynski betonte in seinen letzten Jahren immer wieder, dass trotz des Endes der Sozialismusversuche im 20. Jahrhunderts in 100 Jahren Kommunismus herrschen würde, auch wenn er es nicht mehr erlebt:

„Der einzige Trost in der gegenwärtigen Situation ist, daß man weiß[…], daß die Geschichte im Zickzack verläuft, und daß sich letztlich stets die fortschrittliche Zickperiode durchsetzt.“ (Kuczynski 1994: 92)

Auch Ernst Blochs Hoffnung setzt auf das „Totum des zu guter Letzt“ (Bloch PH: 237). Alle Umwege auf diesem Weg lassen sich hinwegdeuten wie beim Rabbi von Krakau. Der hatte einst den Tod des Rabbis von Warschau verkündet und als dann Leute aus Warschau berichteten, wie quicklebendig dieser noch sei, meinten die Schüler des Rabbis, dass dieser sich mit seiner Verkündung wohl in den Einzelheiten geirrt habe, aber dennoch… welch seherische Gabe sei ihm doch gegeben.
Zu DDR-Zeiten bemühte man sich, den historischen Optimismus zu begründen. So stand in meinem Staatsbürgerkundelehrbuch noch, die marxistisch-leninistische Auffassung von der Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung „begründet die Überzeugung von der Notwendigkeit des geschichtlichen Fortschritts zuverlässig und wissenschaftlich“ (Hahn, Kosing, Rupprecht 1983: 412).

Von einer solchen Überzeugung ist Ernst Bloch natürlich weit entfernt. Wenn er auf das „Prinzip Hoffnung“ setzt, so muss die Hoffnung auch enttäuscht werden können (Bloch 1975: 233). Trotzdem lässt sein dialektisches Prozessdenken den Prozess in einem „wendungsreiche[n]“ Weg (EM: 132) in einen „totalen Zielinhalt“ (PH 233) münden. Dieses Bild der Mündung führte mich, als ich die Beiträge über die „Dialektik“ und „Prozess“ für das Bloch-Wörterbuch schrieb (Schlemm 2012a, 2012b) über einen Hinweis von Bloch selbst auch zu sehr alten Quellen einer Struktur von Dialektik, die sich nicht im Ungewissen verläuft.

Und mit dem Ende des Prozesses verband Bloch allemal etwas Gutes, da klingt er fast wie Kuczynski: „Die Zeit fault und kreißt zugleich. Der Zustand ist elend und niederträchtig, der Weg heraus krumm. Kein Zweifel aber, sein Ende wird nicht bürgerlich sein.“ (EZ: 15).

Quellen der Hoffnung in der Dialektik

Zur Dialektik gehört das „zusammenhaltende Ziel der dialektischen Bewegung“ (SO 144). Schon in neuplatonischen Konzepten befindet sich eine Struktur, die insbesondere bei Hegel wieder anzutreffen ist.

So entwickelte der Neuplatoniker Plotin ein Grundmodell, bei dem das Eine, die absolute Einheit und Fülle, aufgrund ihrer Überfülle durch sogenannte Emanationen seinsmäßig niedrigere Stufen (Geist, Seele, Materie) ausbildet, wobei sich die Einheit und Fülle verlieren. Von diesen Stufen her treibt die Liebe zum Ur-Einen die Seele in einem Prozess der Reinigung zurück zum Geist oder gar dem Einen (Plotin 1951f.).
Auch bei Proklos gibt es drei Phasen der Bewegung: das Verweilen, das Fortschreiten und die Rückwendung. Bei Scotus Eriugena wiederum findet aus einer einer (göttlichen) Wesenheit heraus Teilung und Vervielfältigung statt und es wird durch die allgemeinsten Gattungen bis zu den besondersten Arten hinabgestiegen.

Über dieselben Stufen geht es dann wieder in diese Wesenheit zurück (Scotus Eriugena, EN 185, V, 4). Hegels berühmte „Triade“ lässt sich mit den Worten seines Schülers Erdmann so beschreiben: Sie wird bestimmt durch drei verschiedene Darstellungsweisen des Gegenstandes, bei denen dieser

  • „zuerst genommen wird wie er ist,
  • dann wie er sich widerspricht,
  • endlich wie er die concrete Identität der Entgegengesetzten ist“. (Erdmann 1864: 8-9, § 15)

Erdmann beschreibt diese Abfolge als Darstellungsprinzip und auch Hegel denkt nicht daran, diese logischen Schritte direkt als zeitliche Übergänge zu betrachten, denn Philosophie ist für ihn ein „zeitloses Begreifen“ (HW 9: 26). Diese Art der Triade findet sich auch in der Philosophie der Geschichte (HW 12) nicht. Trotzdem wird die materialistische Umstülpung seiner Philosophie traditionell verbunden mit einer Verzeitlichung der Logik. Beim jungen Marx finden wir noch direkt die eben genannte Struktur der Dialektik in verzeitlichter Weise in der Aufeinanderfolge von ursprünglicher Einheit, Entfremdung und Rückkehr zur Einheit von Wesen und Existenz (MEW 40: 536).

Ernst Bloch wirft Hegel das Statische seines Systems (PA: 485) und die Anemnesis seiner Methode (TE 276) vor. Beim Anamnesisvorwurf wird kritisiert, dass in Hegels Methode „Wechsel und Zukunft verächtlich sind“ und „eine fixe Ewigkeit sich wiederkäut“.

Dabei spricht Hegel in der „Logik“ gar nicht von einer zeitlichen Entwicklung. Deshalb können weder zeitliche Veränderungen noch Zukunft verächtlich sein. Bei Bloch jedenfalls ist die Dialektik bestimmt als zeitlich fortschreitende „Gangart der Materie, vorzüglich der im menschlichen Arbeitsprozeß befindlichen“ (MP 255).
Bei einer Verzeitlichung der Logik zeigt sich die Tatsache, dass im logischen Gang der Dialektik bei Hegel das Darzustellende, das zu Begreifende immer schon vorausgesetzt ist, erstens als teleologischer Ablauf hin zu diesem Angezielten und zweitens das Angezielte als Abschluss des Ganzen.

Zeitlich gesehen (also nicht Hegelsch) sieht das aus wie Teleologie und Zukunftslosigkeit. Dem stehen reale Entwicklungsprozesse gegenüber, in denen nur der Pfad in Richtung einer wie auch immer bestimmten Höherentwicklung einem zumindest relativen Ziel näherstrebt, während viele Abzweige dabei nicht berücksichtigt werden. Außerdem ist in Evolutionsprozessen das Ziel wirklich unbestimmt, die Zukunft ist zwar von den Bedingungen des Vergangenen und Gegenwärtigen abhängig, aber ansonsten offen.

Wenn man jedoch in einer Gegenwart steht, ist diese vollständig bestimmt und es gibt aus der Vergangenheit her eine (historische) Entwicklungslinie bis zum Jetzt-Zustand, die rekonstruiert werden kann. Dies ist der Standpunkt der „Eule der Minerva“ (HW 7: 28), den Hegel in der „Geschichte der Philosophie“ und der „Philosophie der Weltgeschichte“ einnimmt. Das „teleologische“ Ziel dieser rekonstruierenden Darstellung ist dann jeweils der Zustand der Gegenwart.

Was ist nun davon zu halten, den Standpunkt der Totalität, die als Vollständigkeit erscheint (HW 6: 280), auf die zukünftige Geschichte zu übertragen? Meine These ist, dass dies unangemessen ist. Man kann sicher logische Operationen wie die „Negation“ auf zeitliche Veränderungen übertragen. Aber wenn man die gesamte (logische) Dialektik verzeitlicht, gehen wesentliche Bestimmungsstücke verloren. Dies muss bewusst bleiben, sonst werden Bestimmungen übernommen, die in einer zeitlichen Entwicklung nicht mehr aus sich heraus zu begründen sind. Dies betrifft auch die Richtung der bestimmten Negation. Indem die logische dialektische Methode ein „Zurückgehen in den Grund“(HW 6: 120) ist – ich erinnere an die Strukturen der Dialektik von Plotin, Proklos und Scotus Erigena, die bei Hegel wieder auftauchen – ist die Richtung der Bewegung hin zu diesem Grund bestimmt. Was könnte dieser Grund für eine zeitliche Entwicklung sein? Marx hat nicht umsonst den Gedanken der Identifikation des Kommunismus mit dem abstrakten „Gattungsleben“ der Menschen aufgegeben und in Gestalt von Konzepten „der Philosophen“ (MEW 3: 34, 69) auch kritisiert. Im Entfremdungskonzept werden die Merkmale der Freiheit und Bewusstheit der wesentlichen menschlichen Tätigkeit, einerseits dem Menschen als Gattungswesen, also als (abstrakt-)Gemeinsames, zugesprochen. Denn gegenüber den Aktivitäten von Tieren sind menschliche Handlungen allemal frei und bewusst, unter wie beschränkten Bedingungen sie auch immer stattfinden mögen. Andererseits wird das Freie und Bewusste dann wiederum in seiner höchsten Qualität nur den Menschen im Kommunismus zugesprochen, in künftiger Erwartung der Aufhebung der Beschränkungen.

Natürlich kann dieses Denkmodell helfen, das zu verbildlichen, was ganz allgemein gewünscht wird für die menschliche Entwicklung. Materialistisch fundieren lässt es sich als Zielerwartung allerdings nicht. Wenn von der Dialektik wenigstens die Orientierung auf die Widersprüchlichkeit im Kern der Bewegung objektivierbar erscheint, so mag für jeweils historisch bestimmte Zustände zwar eine innere Widersprüchlichkeit auffindbar sein – aber wie sich das System zeitlich verhält, ist daraus nicht abzuleiten, denn der realen Geschichte liegt keine begründende Totalität voraus.

Für den realen Geschichtsverlauf wurde nicht immer die zu Anfang zitierte deterministische Aussage über die „Notwendigkeit des geschichtlichen Fortschritts“ behauptet. In wissenschaftlichen Texten stand es schon anders: „Die Entwicklungsrichtung gegebener Sozialsysteme ist – im Rahmen der objektiven materiell-technischen und sozialökonomischen Voraussetzungen – offen. Welche Richtung eingeschlagen wird, bzw. welche konkret-historische Ausprägungsform die entstehende Gesellschaftsformation in einer bestimmten raum-zeitlichen zu fixierenden Totalität annimmt, hängt ab von den empirisch zu rekonstruierenden Bedingungen des jeweiligen „historischen Milieus“.“ (Naumann 1978: 27)

Wir wissen, dass bei der biologischen Evolution so ca. 99% aller Arten von Lebewesen, die es einmal gab, ausgestorben sind und auch in der menschlichen Geschichte gibt es, wie auch Hegel wusste „mehrere große Perioden die vorübergegangen sind, ohne daß die Entwicklung sich fortgesetzt zu haben scheint, in welchen vielmehr der ganze ungeheure Gewinn der Bildung vernichtet worden und nach welchen unglücklicherweise wieder von vorne angefangen werden mußte…“ (HW 12: 76f.).

Es geht also nur an wenigen Stellen der offen ausgefächerten möglichen Zukünfte tatsächlich weiter. Wir gehen z.B. bei der Betrachtung der Entstehung des Kapitalismus häufig davon aus, dass diese Entstehung eine „Möglichkeit [sei], die ergriffen werden muss, wo immer und wann immer es möglich ist“ (Wood 2015: 14). Es wird dann gefragt, warum in den Städten Oberitaliens oder anderswo trotz vieler begünstigender Faktoren der Kapitalismus doch nicht durchgestartet ist (Insofern sprechen auch die bekannten großen Zentren und Geldansammlungen in Oberitalien und Flandern nicht dafür, dass daraus bereits Kapitalismus erwachsen wurde, denn tatsächlich nahm er dort noch keine Fahrt auf). Es war war das Zusammenkommen vieler Faktoren, die in England zu seinem Take-Off geführt haben, sehr kontingent gegenüber den feudalen Zuständen. England unterschied sich von anderen feudalen Gebieten z.B. schon dadurch, dass die Bauernaufstände von 1831 (unter Wat Tyler) zwar niedergeschlagen wurden, aber sich die Bewirtschaftung der Güter durch die Grundherren änderte und die Zahl der Unfreien zurückging. Auch die Rosenkriege, die zur Auslöschung des alten Adels führten, erleichterten das Zur-Ware-Werden der Böden. Die Enteignung der Klöster im 16. Jahrhundert ebenfalls. Mit der Wolle und später dem Tuch als Handelsprodukt und nicht zuletzt durch die Düngung der Böden durch Schafkot konnte der Anteil des Mehrwerts für die Herrschenden gesteigert werden, ohne die feudalen Fesseln wieder anzuziehen, wie in anderen Ländern. Hier fand dann die „ursprüngliche Akkumulation“ statt, die wesentliche Bedingung für den Kapitalismus (Marx MEW 26.2: 236f., Kuczynski 1984, Wood 2015). Erst von da aus breitete sich der Kapitalismus aus. Man kann sagen, dass er anderswo vielleicht nur später entstanden wäre… aber letztlich kann das nicht überprüft werden. Worauf ich hinaus will, ist die viel geringere Wahrscheinlichkeit, aus einer bestimmten Gegenwart heraus zu einer bestimmten Zukunft zu gelangen als wenn man von dem erreichten Standpunkt aus (als „Eule der Minerva“) in die Vergangenheit blickt und nur notwendige Entwicklungsschritte und bestimmte Negationen entdeckt. Von der Gegenwart aus ist die Entstehung von Neuem und die Höherentwicklung nicht das „Normale“, sondern es erfordert das Zusammenkommen von (in Bezug auf das Alte) kontingenten Faktoren. Dass so etwas geschieht, ist möglich, aber für lange Zeiten und in vielen Regionen nicht sehr wahrscheinlich.

Diese Beschreibung der menschlichen Geschichte bezieht sich ohne Zweifel auf die sogenannte „Vorgeschichte“, in der die Menschen ihre Geschichte noch nicht mit Bewusstsein selbst machen, wie es für die Zukunft schon von Marx erwartet wurde. Grundsätzlich mag das möglich sein, aber in der Gegenwart ist, nachdem die „realsozialistischen“ Versuche der bewussten Gestaltung von Gesellschaft und Zukunft erfolglos waren, davon nichts zu spüren und auch nicht zu erwarten.
Trotzdem ist die Fähigkeit zur realen Antizipation (Bloch PH 273f.) auch heute schon wichtig. Wir, als ein Teil der Menschheit, können eine zukünftige gewünschte Möglichkeit antizipieren und als „Virtuelle Eule der Minerva“ (Schlemm 2009/2010) „zurückschauen“ auf mögliche Wege dahin. Welche Bedingungen braucht der Weg hin in diese gewünschte mögliche Zukunft? Wie können wir diese Bedingungen vom heutigen Zustand aus derart verändern?

Erste Antworten darauf von Hilmar und Albert aus Hamburg

Dabei schiebt sich jedoch derzeit ein großer Schatten auf den hoffnungsvollen Gestaltungswillen. Zu den realen Möglichkeiten gehört nicht nur das Erhoffte, sondern auch das Gefürchtete (vgl. Teller 1956: 72). Die Evolution ist irreversibel, weil sich durch die Existenzweise der jeweiligen Verhältnisse die Bedingungen verändern. Die sich dabei entfaltenden Möglichkeiten können durch die Produktivkraftentwicklung das Tor zur Höherentwicklung öffnen, aber durch die Entfaltung der damit verbundenen Destruktivkräfte auch wieder schließen.

Ent-Täuschte Hoffnungen

Auch für uns gilt: „Hoffnung muss enttäuscht werden können.“ (Bloch 1975: 233). Dies gilt einerseits theoretisch: Die Hoffnung auf einen guten Verlauf der Geschichte kann nicht aus der verzeitlichten Hegelschen Dialektik heraus begründet werden. Blochs Dialektik enthält Momente, die weiter darauf setzen. Das Logikon der Materie „heißt Ideal des Guten“ (MP 476), die Möglichkeit in der materiellen Wirklichkeit ist bei ihm nicht neutral gegenüber Gut und Böse, das Gute bekommt einen kategorialen Vertrauensvorschuss, denn an der Front stehen die Menschen und ihre Handlungen und es macht keinen Sinn, dass deren Handeln bewusst das Böse anstrebt.
Praktisch jedoch muss diese grundsätzliche Hoffnung am Anfang des 21. Jahrhunderts durch ein Nadelöhr: Nichts deutet darauf hin, dass in den nächsten 3 Jahren, also bis 2020 die radikale Schubumkehr im Ausstoß der Treibhausgase erfolgen könnte, die notwendig ist, um das Klima-System am Überschreiten von Kipp-Punkten und Schwellwerten zu hindern und andere zerstörte Wechselwirkungssysteme, wie die Stickstoff- und die Phosphorkreisläufe wieder in Ordnung zu bringen, die Versauerung der Meere und das massenhafte Artensterben aufzuhalten. Seit den 90ern schleppen wir die Hoffnung, dass dies doch noch gelingen könnte, mit uns herum, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Manchmal ist die Fähigkeit zur Antizipation auch ein Fluch, denn mit allergrößter Wahrscheinlichkeit wird es genauso kommen, wie es niemals durfte.

Dass die Menschheit in das sog. Anthropozän eintritt, ist keine gute Botschaft und wen das Entsetzen über das zu Befürchtende noch nicht erfasst hat, ist bloß noch nicht informiert (oder will es nicht sein). Im Jahr 2020 verschwindet die Möglichkeit, den globalen durchschnittlichen Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu beschränken, im Jahr 2035 schließt sich auch die Möglichkeit für die 2-Grad-Grenze, wobei mit jedem Jahr Verzögerung die erforderliche Reduzierungsrate exponentiell steigt. Während also im Jahr 2020 eine jährliche Reduktionsrate von über 3% erreicht werden müsste, um das 2-Grad-Ziel zu halten, liegt die notwendige Reduktionsrate bei einer Reduzierung ab 2030 schon bei 5%.

Über ungefähr 11 000 Jahre hinweg konnte sich die Menschheit erstaunlich stabiler klimatischer Verhältnisse erfreuen.

Während des sog. Holozäns – auch während der Warmzeit des Mittelalters und der folgenden Kleinen Eiszeit – schwankte die globale durchschnittliche Temperatur nur um +- 0,75 Grad um den Mittelwert.

Jetzt sind wir bei über einem Grad Anstieg seit dem Beginn der Industrialisierung und das Gefährliche ist nicht ein langsamer Anstieg, sondern die wachsende Gefahr, dass Schwellwerte überschritten werden oder schon wurden, die zu schnellen und massiven Veränderungen in klimatischen und anderen geophysikalischen Systemen der Erde führen. Wenn das Klima aus den Holozän-Bedingungen herausgekickt wird, erwarten wir nicht etwa ein nur um ein leichtes erwärmtes neues stabiles Niveau, sondern chaotisch-turbulente Umweltbedingungen, wie sie die Menschheit seit Beginn der großen Zivilisationen und des Beginns der Landwirtschaft noch nie erleben musste. Das neue Zeitalter, in dem die Menschheit nicht mehr nur punktuell oder regional, sondern global die Erde radikal verändert, wird inzwischen häufig „Anthropozän“ genannt – und dies ist leider keine gute Botschaft. Den dabei überschrittenen Grenzen der Selbstregulierungsfähigkeit vieler irdischer Systeme kann auch nicht mehr durch ein „Wachstum der Grenzen“ (Bloch, Maier 1984) begegnet werden. Das Wissen über die Sensibilität dieser Wechselwirkungssysteme kommt ja gerade aus den Selbstorganisationstheorien, die Bloch und Maier noch gegen plumpe Untergangsszenarien in Anschlag bringen konnten. Inhalt der Selbstorganisations- und Komplexitätstheorien sind ja leider nicht nur jene Systemveränderungen in Richtung auf steigende Komplexität und Autonomie, sondern zu ihr gehört auch die Katastrophentheorie als mögliches Szenarium des Verhaltens komplexer Systeme.

Weder großindustrielle Landwirtschaft noch die bisherigen bäuerlichen Erfahrungsregeln werden die Ernährung aller Menschen unter diesen Bedingungen gut ermöglichen können. Ob man mit einer solchen Natur Allianzverhältnisse eingehen kann, etwa durch eine vielleicht sogar High-Tech-basierte permakulturelle Bewirtschaftung, muss erst noch ausprobiert werden. Und das wird viel Arbeit und Kraft kosten – noch dazu ein einer Welt, in der menschliche Arbeit nicht mehr durch Energie“sklaven“ ersetzt werden kann (Schlemm 2011) –, so dass alle Träume von einem Übergang in ein arbeitsfreies oder -armes „Reich der Freiheit“ für lange Zeit ausgeträumt sind.

Mehr zum Klima-Umbruch:
„Achtung, wir verlassen die sichere Zone!“
Informationsmaterial zum Klima-Umbruch
(Schlemm 2017)

Ich denke, dass für die Menschheit diese kommenden Verwerfungen jene Entwicklungs-Notwendigkeiten setzen, die zu einer Neuschaffung der Zivilisation auf ökologisch nachhaltiger Basis führen kann. Allianztechnische Naturbeziehungen werden zu Existenzbedingungen der Menschheit. Aber wir, die wir auf einen revolutionären Umschwung für uns oder unsere Enkel, die es jedesmal besser machen sollen, setzten, müssen eine neue Kränkung verarbeiten, ob es nun der Zählung nach die 4. oder die 11. ist: Nicht wir stehen an der Schwelle zu einem neuen, besseren Zeitalter, sondern wir und unsere Nachkommen müssen mit der Wirkung unseres verhängnisvollen Erbes ungebremster Destruktivkräfte leben. Die „mehrschichtige Dialektik“ (EZ 122) bekommt noch eine Schicht mehr. Neben den „ungleichzeitigen“ Widersprüchen aus der Vergangenheit und dem Übergleichzeitigen, das auf das Hoffnungsvolle der Zukunft gerichtet ist, muss die Antizipation der Gefahr, des Befürchteten in den Vordergrund treten.

Transformation – ausgerechnet jetzt?

Dietmar Dath mag solche Leute wie mich nicht, die das eben Gesagte aussprechen, genauer noch, er hasst sie. Denn wenn man „wirklich glaubt, die Welt sei im Eimer“ sollte man sich am besten gleich umbringen oder wenigstens die Klappe halten (Dath 2017). „Solange es die Sonne gibt“, sei Hoffnung, weil es mit der Energieversorgung dann nicht auf Null gehen könne. Ich habe auch nicht gesagt, dass die Menschheit „auf Null“ geht, aber die Verwerfungen werden extrem viel schlimmer werden, als bisher vorsichtig antizipiert wird.

Was bleibt also zu tun?

Natürlich soll auch die Erkenntnis, dass uns die Zeit davonläuft, uns nicht davon abbringen, so stark wie möglich in die Bremsen zu treten und damit Benjamins Ahnung zu bestätigen: „Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse“ (GS I.3: 1232). Illusionäre Hoffnungen auf einen bruchlosen Übergang zu pflegen, wäre unrealistisch und würde die Suche nach übrig bleibenden Entwicklungsmöglichkeiten lähmen. Außerdem würde es mehr und mehr unglaubwürdig. Alle Utopien, die wir so gerne haben, müssen sich dementsprechend einem Crashtest unterziehen (Schlemm 2013a, 2013b). Es wird demnächst kein „Reich der Freiheit“ auf Basis der erblühten Produktivkräfte geben, sondern ein Aufräumen unter ständiger Bedrohung der Wirkung der Destruktivkräfte. Eine wünschenswerte konkrete Utopie muss auch unter diesen Bedingungen die bessere Alternative zu anderen Gesellschaftsverhältnissen sein. Das Neue muss auch unter Worst-Case-Bedingungen das Bessere sein. Dass das möglich ist, zeigen historische Vergleiche. So stärkten sich die Dorfgemeinden in Deutschland und breitete sich die Dreifelderwirtschaft aus, als die Bauern nach der Abschaffung des Allod-Eigentums immer mehr von Adel und Kirche bedrängt wurden (bis die Gemeinden im 15. Jahrhundert in den Kämpfen eine Niederlage hinnehmen mussten, während sich die Dreifelderwirtschaft hielt). Interessant sind auch die Erfahrungen aus dem Unterschied der polynesischen und melanesischen Inseln, wo auf den melanesischen Inseln mit ungleich schwereren ökologischen Bedingungen oder auch beim afrikanischen Volk der Kran unter problematischen und stark veränderlichen Lebensbedingungen sich eher flache Hierarchien hielten, weil egalitär-offene Strukturen besser geeignet sind, alle individuellen Handlungsfähigkeiten zu mobilisieren (Seibel 1978, 1980: 172ff.).

„Transformation heute“ bedeutet schon eine Transformation der öffentlichen Stimmung, bei der die Willkommenskultur zu Beginn der Flüchtlingsankunft schnell durch Abwehr erdrückt wurde. Hier wird es schon große Arbeit erfordern, den bisher erreichten zivilisatorischen Entwicklungsstand überhaupt aufrecht zu erhalten gegenüber barbarisierenden Trends. Das wird nicht gehen, solange die normalen kapitalistischen Verhältnisse weiterhin Konkurrenz und Wohlstand auf Kosten anderer nahe legen und nicht radikal kritisiert und praktisch negiert werden. Wir brauchen neue Kulturen der Gemeinsamkeit und der Inklusivität, das heißt von Verhältnissen, in denen jede Person erkennen und emotional erleben kann, „das ich nur bin, weil die anderen sind, dass ich meine produktiven Bedürfnisse nur befriedigen kann, weil dies andere ebenso können, dass wir einander brauchen und bedingen“ (Meretz 2016). Eine „doppelte Transformation“ (Klein 2017) muss einerseits kämpfen gegen den Kapitalismus, weil er die Welt zerstört und als gesellschaftliche Grundstruktur das Handeln der Menschen maßgeblich in verhängnisvolle Praktiken drängt und sie muss Verhaltensweisen entwickeln, die hier und sofort diese überlebensnotwendige und wünschenswerte Kultur von Humanität, Gerechtigkeit und Inklusivität retten, lebendig halten und stärken.

Literatur

Dieser Beitrag wird im Tagungsmaterial veröffentlicht und enthält dann alle Literaturangaben.
Links ins Internet sind hier schon gesetzt.


Siehe auch: Die Nützlichkeit und Sinnlosigkeit der Dialektik bei der Suche nach einer neuen Vergesellschaftungsform