– ein Gasttext von Christian Schorsch –
Am ersten Juniwochenende lud man ins idyllisch gelegene thüringische Pfarrkesslar zum Seminar „Anders wirtschaften“ ein. Hier wollte nicht nur das Konzeptwerk Neue Ökonomie die Idee von Degrowth näher bringen, es wurden auch Zielsetzungen und Perspektiven des „Buen Vivir“ thematisiert und die Commons sollten einen Raum zur Vorstellung finden. Letzterer Aufgabe widmete sich die in der Szene bekannte Commons-Aktivistin Silke Helfrich persönlich, was auch für mich eine zusätzliche Motivation darstellte, das Seminar zu besuchen, um sie persönlich kennenzulernen. Schließlich beschäftigte ich mich schon länger mit den Commons und war bereits für deren transformatives Potenzial sensibilisiert.
Mein persönliches Anliegen war dabei, nicht nur eine Reihe von gesammelten Fragen an die langjährig erfahrene Referentin zu richten, sondern auch die Spannung darauf, wie man in der nur sehr knappen Zeit von ca. drei Stunden Menschen, die damit noch keine bewusste Berührung hatten, eine Commonswelt eröffnet und vielleicht sogar schmackhaft macht, denn ich hielt dies für ein fast aussichtsloses Vorhaben.
Wie sich am Vortag der Commons-Einheit herausstellte, hatte auch Silke noch keinen festen Plan und spielte gedanklich mit einer Vielzahl an Möglichkeiten. Abends am Lagerfeuer lud sie sogar die Teilnehmer dazu ein, mit ihr gemeinsam darüber nachzusinnen und stellte in den Raum, ein Spiel dafür zu nutzen. Eine Idee, die sie aus einem Erlebnis in Griechenland mitbrachte und die sie bisher allerdings noch nichts selbst umsetzen und anleiten durfte. In dieser Sekunde war ich ehrlich gesagt ein wenig enttäuscht. Nicht nur, dass ich sowieso nicht unbedingt ein Mensch für Gruppenspiele bin und mir dabei immer etwas kindisch vorkomme, sondern, dass sie damit vielleicht sogar viel kostbare Zeit verplempert, die man doch auch gut und gern mit ernsthaften Erklärungen nutzen könnte…
Nach einer morgendlichen Meditationsübung im Freien für die gesamte Gruppe durfte Silke dann endlich durchstarten und wirkte auch ein wenig aufgeregt und angespannt. Nach der Begrüßung lud sie uns – ebenfalls unter freiem Himmel – zu ihrem vorbereiteten Spiel ein: dem Stuhltanz, den viele vielleicht auch unter dem Namen „Die Reise nach Jerusalem“ kennen. Sie hatte sich dafür eine Helferin organisiert, die in ihr Vorhaben eingeweiht war. Die Aufgabe für die Teilnehmer bestand zunächst lediglich darin, ganz bewusst den Ablauf, die anderen Teilnehmer und die Gruppendynamik zu beobachten oder sich gegebenenfalls auch Notizen dazu zu machen! Da ich das Spiel kannte, dessen Regeln auch sonst niemandem weiter erklärt werden mussten, und zu diesem Zeitpunkt noch nicht abzusehen war, wohin das alles führen sollte, machte ich natürlich auch mit.
Die Musik setzte ein und einige begannen sogleich damit, nicht nur im Kreis zu laufen sondern zu tanzen oder rebellierten auch, indem sie entgegen der allgemein eingeschlagene Richtung liefen. Doch davon ließen sich weder ich noch viele andere wirklich beirren. Schließlich war wohl trotz allem ein jeder darauf konzentriert, einen der unterrepräsentierten Stühle zu ergattern. Während dieser ersten Umläufe erinnerte ich mich auch bereits wieder, warum mir schon als Kind dieses Spiel missfiel. Vielleicht hatte ich ab und an sogar mal gewonnen, aber wirklich gefallen hatte es mir wohl nie. Ob es vielleicht an der inneren Anspannung lag, die das drohende Gefühl des Versagens und Ausscheidens mit sich brachte? Heute kann ich die Situation besser reflektieren und bin inzwischen bekennender Ächter von Konkurrenz und Wettbewerb. Ich gehörte zu den ersten, die ausscheiden mussten, weil sie keinen Stuhl abbekamen. Oder eher ausscheiden durften!?
Jedenfalls nicht ganz zufällig… Das bot mir jedoch die Möglichkeit, meine Beobachtungen
ungestört von außerhalb fortsetzen zu können. Der Ablauf des Spiels war erwartungsgemäß. In jeder Runde waren weniger Teilnehmer in der Mitte aktiv und mehr mehr gesellten sich zu den Ausgeschiedenen, die sich zu einem umgebenden Kreis formierten. Natürlich klopfte ständig im Hinterkopf die Frage, was uns Silke denn damit nur vor Augen führen wolle und was das alles denn mit Commons oder gar Commoning zu tun haben könnte. Plötzlich hatte ich eine Eingebung: repräsentierte dieses Konkurrenzspiel um die knappen Ressourcen an Stühlen vielleicht unser heutiges Wirtschaftsmodell? Diesen Gedanken verfolgte ich ab dem Moment weiter und wurde innerlich immer aufgewühlter als ich mehr und mehr Details entdeckte, die diesen Ansatz untermauerten. Ganz systematisch ist in diesem Spiel niemals genug für alle da, so dass es immer zu einer Vielzahl an Verlieren und letztendlich gar nur einem einzigen Gewinner kommen kann! Dabei zeigt sich immer wieder, dass diejenigen, denen das Gegeneinander entweder grundsätzlich widerstrebt oder die einfach aus mangelndem Stolz, Ehrgeiz oder sportlichem Eifer keine Ellenbogen ausfahren können, zuerst ausscheiden. So findet eine Selektion statt bei der Egoismus, Gier und Durchsetzungskraft auf Kosten anderer von Vorteil sind. Vielleicht sind gar kleine Gemeinheiten oder Betrügereien gewinnbringend. Und ganz oft habe ich bei dem Spiel ja auch schon erlebt, wie Streit ausbricht oder Tränen fließen. Das wird dann aber gerade bei Kindern oft als Unsportlichkeit und mangelnde Frusttoleranz ausgelegt, so dass die Kinder die Schuld am Unmut selbst tragen und verantworten müssen. Doch nicht nur das: die Ausgeschiedenen bilden – aus welchem Grund auch immer – instinktiv einen Kreis um die verbliebenen Mitspieler, stellen diese damit in ihren Mittelpunkt und verbringen ihre Zeit nun ziemlich passiv damit, diese zu beobachten, sie anzufeuern, zu bejubeln, Favoriten unter ihnen auszumachen und sich für diese zu freuen oder auch ihr unglückliches Ausscheiden zu bedauern.
Sich selbst oder gar die anderen Ausgeschiedenen am Rande, verlieren sie ziemlich aus dem Blick. Ganz besonders aufgefallen war das uns allen sicherlich, als Silke nach Abschluss der Runde danach fragte, wer von uns denn Norbert im Blick hatte? Norbert ist ca. 60 Jahre alt und blind. Dass er das Spiel nicht mitspielen konnte, erschien vermutlich allen von Beginn an völlig klar und einleuchtend zu sein. Zwar bedauerlich, aber was soll man da schon machen… Beim beobachtenden Sinnieren im Hinblick auf Parallelen zu unserem Wirtschaftssystem kam mir noch eine andere Idee: Wer repräsentiert hier eigentlich was? Gewinner und Verlierer sind soweit klar. Auch Silke, als Moderatorin und mit der Aufgabe der Überwachung von Regeleinhaltungen und Interventionskraft bedacht, war schnell die Rolle des Staates zugeschrieben. Aber um was ging es denn eigentlich? Im Grunde doch um die Stühle, deren Verfügbarkeit und Verteilung! Stellen sie vielleicht Arbeitsplätze dar? Im Nachgang reflektierte Silke, dass die Stühle die verknappten Ressourcen widerspiegeln. Ich würde da sogar noch einen Schritt weiter gehen und sehe in ihnen das Geld versinnbildlicht, in dessen Gegentausch man ja auch alle denkbaren Ressourcen erwerben kann. Bezeichnend ist doch, dass es immer zu wenig davon gibt! Und auch spannend, dass es irgendwie immer weniger wird!! Aber warum eigentlich? Nun ja. Es gibt da ja noch einen sehr unauffälligen „Beteiligten“, der kaum einem bewusst ist, dessen Rolle eher im Hintergrund bleibt und der, wenn überhaupt, eher wie ein dienstleistender Freund wirken mag: Silkes fleißiges Helferlein erlaubt sich in jeder Runde Stühle wegzunehmen und diese dann im Abseits zu deponieren und damit allen anderen den Zugriff darauf zu entziehen. Welchem Akteur dies nun in unserem Wirtschaftssystem entsprechen mag, darüber ließe sich wohl trefflich streiten.
Nun wurde eine zweite Runde eingeläutet. Alle Stühle wieder auf Ausgangsposition, dieses Mal sogar ein paar mehr Stühle als es Mitspieler gab. Es folgte eine wichtige Ansage von Silke:
„Vergesst für diesen Durchlauf sämtliche anderen Regeln und folgt nur noch dieser hier: ‚Jeder findet einen Platz!‘“
Wie merkwürdig. Die Musik setzt ein, alle machen mit. Alle! Sogar der blinde Norbert beginnt sich zu integrieren, tanzt mit um die Stühle und wird hier und da von dem einen oder anderen
mitgenommen, hingewiesen oder unterstützt. Von Beginn an herrscht eine andere Atmosphäre, die auch ich noch nicht sogleich einordnen kann. Doch mit der Zeit dämmert mir, was die neue Regel bewirkt: Angstfreiheit!
Die Musik stoppt. Rempeln ist nicht nötig, denn es herrscht Überfluss an Stühlen, so dass jeder
problemlos einen Sitz einnehmen kann. Auch Norbert findet in Ruhe einen Stuhl. Selbst in der
nächsten Runde kann noch jeder auf einem Stuhl sitzen, obwohl das Helferlein wieder fleißig damit beginnt, Stühle ins Abseits zu rücken. Bald schlägt die steigende Knappheit jedoch wieder zu. Allerdings beginnt auch die neue Regel ihre Wirkung zu entfalten und zur Angstfreiheit gesellt sich noch die Kreativität. Naheliegend ist zunächst, sich einen Stuhl zu teilen, was im Nachgang immer öfter vorkommt. Ein anderer setzt sich ganz frech auf einen der an die Seite gerückten Stühle.
Irgendwann kommt auch wer auf die Idee, die aussortierten Sitzplätze wieder in die Mitte zu
rücken. Silke interveniert, bereut dies jedoch im Anschluss offenherzig und entschuldigt sich damit, dieses Spiel in dieser Form ebenfalls erstmalig selbst durchgeführt zu haben. Die Kreativität und der Mut in der Gruppe steigen. Warum soll denn eigentlich der Erdboden keinen Platz für mich darstellen? Und ist ein Stehplatz denn am Ende nicht auch ein Platz? Zudem beginnen die Teilnehmer damit, ihre Augen zu öffnen und den Blick zu weiten. Dabei entdecken sie, dass die Umgebung noch viel mehr zu bieten hat als die von der Organisation zur Verfügung gestellten Stühle! An der Hauswand beispielsweise steht eine sehr einladend wirkende Bank. Und auch die Treppe bietet Gelegenheit, einen Platz einzunehmen. Runde um Runde werden es weniger Stühle.
Doch es herrschen weder Unruhe noch Unmut. Ganz im Gegenteil! Der Zusammenhalt der Gruppe wächst, man inspiriert sich gegenseitig und hat viel Spaß dabei, die plötzlich endlos wirkenden neuen Möglichkeiten zu entdecken. Mehr und mehr Mitspieler entziehen sich dem Tanz um die Stühle und plötzlich setzt ein Gemurmel ein: es gibt einen Plan! Zwei Mitspielerinnen hatten eine Idee und verbreiteten sie in der Runde. Viele fühlten sich von ihrem Vorschlag angesprochen und kurz nach dem stoppen der Musik rannten nahezu alle zur fest installierten Sitzgruppe am Haus, um dort gemeinsam den rebellischen Ausstieg zu feiern. Zwar rappelte man sich Silke zu liebe noch einmal auf, um noch eine letzte Runde mit zu spielen, aber die Stühle ließen die Gruppe inzwischen nur noch kalt…
Umso mehr ich darüber nachdachte, was wir da gerade gemeinsam erlebt und erfahren haben, umso beeindruckter war ich von der spielerischen Idee. Kann es einen besseren Einstieg in die Welt der Commons geben, als sie zu erleben, sie zu fühlen und diese Welt tatsächlich erfahrbar zu machen? Die Versicherung „Jeder findet einen Platz!“ stärkt nicht nur das Vertrauen in die Mitmenschen und nimmt jedwede Existenzangst und Furcht vor der Scham des Versagens, sondern eröffnet ganz neue Denkweisen und Möglichkeitsfelder! Ein außenstehender Fremde, der den zweiten Durchgang unseres Stuhltanzes beobachtet hätte, wäre vermutlich erbost gewesen über die entstandene Unordnung, sowie die vermeintliche Regellosigkeit und hätte den Zustand als einfach chaotisch begriffen. Den Gewinn an echter Solidarität, Freiheit und Lebensfreude, den die Teilnehmergruppe in diesem Moment jedoch empfinden durfte, würde er wohl nur schwerlich nachvollziehen können.
Bestenfalls am Lächeln auf den Lippen einer Gruppe, die plötzlich nur noch aus Gewinnern bestand und nun mit großer Erwartung und Spannung der Commons-Theorie entgegen blicken durfte.
Christian Schorsch
Juni 26, 2018 at 1:27 pm
Der Haupt-Fehler dieser Veranschaulichung ist aus meiner Warte: dass das, was man traditionell das Produktionsverhältnis, also Konkurrenz, Staat usw nennt, dabei als allein verantwortlich und zugleich „abwählbar“ dargestellt wird. Die Frage, ob es da eine „materielle Basis“ (durch die künstlich verknappten Stühle als „Knappheit“ reichlich bürgerlich reduziert illustriert) gibt, die grundsätzlich anders gestaltet werden muss – sie kommt so garnicht auf. Die Konzentration aufs Klassen- und Produktionsverhältnis ist notorisch bei grossen Teilen der verbliebenen nicht-staatssozialistischen Linken; die Anbindung an die Produktivkräfte und ihre Entwicklung findet allenfalls noch derart statt, dass diese ständig „wachsen“ und darum unter kap. Bedingungen den tendenzielen Fall der Profitrate bzw die zunehmende Ausschaltung der (Lohn)Arbeit als einziger Profitquelle (mit welchen Folgen auch immer, Unterkonsumtion, strukturelle Lohnarbeitslosigkeit) bewirken.
Könnte es sein, dass wir GERADE DURCH das (vermeintlich9 unbeschränkte Wachsen DER PRODUKTIVKRÄFTE vor völlig neue Aufgaben beim Umgang mit ihnen gestellt sind – und GENAU DIESE neuen Aufgaben einzig durch eine völlig andere Art der Vergesellschaftung lösen können? Und dass beide, die Produktions- wie die Vergesellschaftungs-Aufgaben, unmöglich auf EINEN schlag („Revolution“) zu lösen sind, sondern ein ganzes Epochenprogramm für die nächsten zwei, drei Jahrhunderte darstellen; sofern wir die (mit der neuen Produktionsweise, hoffentlich) überleben.
Juni 26, 2018 at 6:09 pm
Hallo,
bei Veranstaltungen mit Silke Helfrich kommt das dann noch. Commons haben ja genau die Eigentumsfrage wieder aufgemacht, die so lange vergessen worden war. Das kommt zwar nicht mit marxistischen Begriffen daher, gehört aber zu jenen neuen Denk- und Praxisformen, die das so lange Erstarrte wieder aufbrechen.
Ich denke, es wäre sinnlos zu hoffen, die Leute setzen sich in MASCH-Seminare, um den „echten“ Marxismus zu lernen und dann anzuwenden. Viele kommen aber zu vielem, was wenigstens ansatzweise solche Denk- und Praxisansätze enthält und können sich dann von daher weiter entwickeln (z.B. anhand der Erfahrungen, die sie dort hoffentlich machen über die Grenzen dessen, was sie ausprobieren, wie wir z.B. im regionalen Klimanetz).
Juni 26, 2018 at 7:48 pm
Meinen Einwand bringe ich aber vor ganz unabhängig davon, wer sonst noch ähnliches oder ähnlich klingendes gesagt hat. Und… der verwendete Jargon sollte nur der altbekannte sein, weil ich weiss, dass du ihn kennst. Den kann man leicht in andre Ausdrucksweisen übersetzen.
Vergeselslchaftung ändern, scheint leicht (und in unserer Verfügung; damit kann man – redend – schon mal anfangen.)
Das Wissen, die Wissenschaft und die darauf beruhende Industrie ändern ist – schier unmöglich; wer macht sowas?
Die (unbewiesene) (Gegen-)Behauptung zur (impliziten) These von Silke lautet: Ohne diese Änderung geht garnichts – gibt es keinen Fortschritt.
Darf ich dich zitieren
(von da:
http://keimform.de/2018/facette-jeder-moeglichen-zukunft-klimawandel/#comment-1258313):
„Fällt Euch auf, dass wir wirklich mal durchmüssen durch das Akzeptieren, dass die Welt nicht mehr so einfach zu retten ist, wie wir das gerne hoffen? Erst wenn wir durch diese Ent-Täuschung durch sind, können wir wieder sinnvoll darüber nachdenken, wie wir die Fallhöhe noch etwas erniedrigen und was wir dann tun können…“
Juni 28, 2018 at 10:31 am
Und Du schreibst anderswo “ In diesem, durchaus katastrophen-trächtigen Umfeld werden die diversen (!) Keimformen aufgebaut werden, in ihm muss es gelingen, sie zusammenwachsen und zusammenwirken zu lassen zur robusten, lebensfähigen, und wegen ihrer erwiesen überlegenen Problemlösefähigkeit allgemein zur Übernahme einladenden neuen Epochen- „Elementarform“.“
Da sind wir uns tatsächlich einig. Und ich denke einige Menschen werden auch durch solche Seminare und solche Spiele wenigstens dazu angeregt, mitzumachen im Sinne der Entwicklung von solchen neuen Lebens- und Produktionsformen.