Dieser Text gehört zum Projekt „Über Utopie und Transformation neu nachdenken“. (Version 1.8 ab 25.10.18)
3. 1 Begriffe und Theorien
Zu den theoretischen Grundlagen gehört die Konzeption von Begriffen und Theorien. Stefan und Simon folgen hier, wie auch sonst vorwiegend, den entsprechenden Ausführungen von Klaus Holzkamp in der „Grundlegung der Psychologie“ (1983).
3.1.1 Begriffe sind mit Theorien verknüpft
Nach Klaus Holzkamp sind die „Kategorien“ Grundbegriffe, mit welchen für eine Wissenschaft ihr Gegenstand bestimmt wird und damit auch „seine Abgrenzung nach außen, sein Wesen, seine innere Struktur, bestimmt sind“ (Holzkamp 1983: 27). Diese Kategorien bestimmen dann auch darüber, was als „Empirie“ fassbar wird (ebd.: 35). Wenn Emotionalität kategorial als Verhältnis zwischen Innerem und Äußerem gefasst wird, nämlich als „Bewertung von Umweltgegebenheiten am Maßstab der eigenen Befindlichkeit“ (ebd.: 98), so ist der Gegenstand anders bestimmt, als wenn Emotionen lediglich (nur innere) „Gemütsbewegungen“ sind wie in Wikipedia (Wikipedia: Emotion). Diese Gegenstandsbestimmung hat auch Folgen für die Theorie, die mit diesen Kategorien arbeitet: „Solche Kategorien schließen stets eine bestimmte methodologische Vorstellungen darüber ein, wie man wissenschaftlich vorzugehen hat, um den Gegenstand adäquat zu erfassen.“ (Holzkamp 1983: 27-28)
Ohne dass Holzkamp dies allgemeiner ausführt, ist damit auch ausgedrückt, dass jeder Gegenstandsbereich mit anderen Kategorien und Theorien erfassbar ist und bei Holzkamps Kategoriensystem geht es um ein „individualwissenschaftlich-psychologisches Kategoriensystem“ (ebd.: 35), kein allgemein gesellschaftstheoretisches.
Wichtig ist auch, dass man Kategorien/Grundbegriffe nicht von ihrer Theorie lösen kann: „In jede Kategorie eines dialektischen Systems reflektiert sich die ganze Theorie.“ (Tomberg 1978: 43).
Wenn die Kategorien/Grundbegriffe für jeweils eine Theorie eines Gegenstandsbereiches gebildet werden, so gehört zur Begründung der Kategorien/Grundbegriffe die Theorie dazu. In der Physik rechtfertigen sich die von Galilei und Newton gebildeten Grundgrößen wie Masse, Geschwindigkeit, Kraft, Impuls usw. dadurch, dass mit ihnen wirkliche physikalische Bewegungsformen erfassbar werden (hier durch Messbarkeit), was sich in der Anwendung der Theorie zeigt. Die von Leibniz vorgeschlagenen Grundbegriffe ließen keine derartige Theorie zu. Und mit dem Übergang zu anderen Theorien, wie etwa der Quantentheorie und der Relativitätstheorie, werden auch andere Grundbegriffe bzw. andere Bedeutungen von Grundbegriffen – wie Masse – erarbeitet. Klaus Holzkamp versuchte die Kategorien unabhängig vom Zusammenhang mit einer psychologischen Theorie durch eine funktional-historische Ableitung zu gewinnen, und dann von daher die Theorie der (Kritischen) Psychologie „grundzulegen“.
P.S. Für die Physik gab es eine Debatte, ob es eine „Protophysik“, die die Messgrundlagen erarbeitet und sich auf vorwissenschaftliche Handlungen bezieht, vor der physikalischen Theorie geben könne. Von Borzeszkowski und Wahsner arbeiteten heraus, dass zumindest hier die Grundbegriffe nur zusammen mit der jeweiligen Theorie ausgearbeitet werden können. (von Borzeszkowski, Wahsner 1995)
3. 1.2 Ineinandergliederung der Theorien und Metatheorien
Holzkamp unterscheidet die philosophische Ebene, die gesellschaftstheoretische Ebene, die kategoriale Ebene (der psychologischen Individualwissenschaft) und die einzeltheoretische Ebene, bei der er für die Psychologie so etwas wie Motivationstheorie, Wahrnehmungstheorie und Lerntheorie versteht. In der allgemeinen Wissenschaftstheorie werden Theorieebenen unterschieden, bei denen pro Gegenstandsbereich eine Theorie (mit bestimmten Kategorien/Grundbegriffen) zuständig ist, wobei sich die Gegenstandsbereiche ineinander schachteln, was dann auch für die Theorien gilt. Um einen komplexen Sachverhalt (verstanden als System) angemessen zu verstehen, ist demnach das sog. „2+1-Prinzip“ zu beachten (Hörz 1988: 306ff.; Hörz 2010: 27ff.). Die „2“ bezieht sich auf die beiden Faktoren „System und Element“ oder „System und Umwelt“, die „+1“ jeweils auf die Hintergrundtheorie. Je nachdem, welche zwei Faktoren ich untersuche, ergeben sich folgende Beziehungen:
Welche 2 Faktoren betrachte ich? | System – Element | System – Umwelt |
Am Beispiel: der Gegenstand ist das Verhältnis von | See mit seinen mechanischen, chemischen und biotischen Mechanismen, seiner Flora und Fauna, den Eintragungen, Fließgeschwindigkeiten usw | See mit seiner Beziehung zur Umgebung. |
Was ist dabei die Hintergrundtheorie? | Wissen über die Beziehungen zwischen See und Umgebung. | Wissen über Erholungs- und Zerstörungspotentiale, Touristik… |
Die Hintergrundtheorie ist dann jeweils nicht der Gegenstand der Forschung. Ein „Kurzschluss“ zwischen der Theorie der Verhältnisse des Gegenstands und der Hintergrundtheorie wird bei Hörz „Objektwechsel“(Hörz 2010: 27) genannt und kann hier auch als „Ebenenwechsel“ spezifiziert werden.
Nehmen wir die Gesellschaft als das uns interessierende „System“ (schließlich geht es ja um die Entwicklung der Gesellschaft hin zu neuen Entwicklungsformen). Das System-Element-Verhältnis wäre dann das Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und gesellschaftlichen Individuen (vgl. S&M: 134f.). Das System-Umwelt-Verhältnis wäre hier das Verhältnis der Gesellschaft zu ihren natürlichen Umwelt-Bedingungen, die ja notwendigerweise als Quellen und Senken von Stoffen und Energie/Entropie in die Praxis der gesellschaftlichen Re/Produktion einbezogen sind. Diese Hintergrundtheorie bleibt im Buch von S&M bewusst ausgeschlossen, obwohl nicht klar ist, ob die menschliche Geschichte (und darum geht es bei der Frage der Transformation schließlich) davon abstrahieren kann.
Etwas vereinfacht: Es gibt Strukturniveaus, auf denen jeweils unterschiedliche Gegenstände untersucht werden. So werden üblicherweise physikalische Objekte von chemischen und diese wiederum von biotischen unterschieden usw. Auch wenn ich mich für Vermittlungen zwischen diesen Strukturniveaus interessiere, so z.B. biochemische, so brauche ich dazu doch eine ausgearbeitete Chemie und eine ausgearbeitete Biologie. Auch wenn alle Organismen letztlich aus chemischen Elementen zusammen gesetzt sind, so reicht die Chemie dazu nicht aus. Und auch wenn eine Gesellschaft durch das Handeln von menschlichen Individuen konstituiert wird, reichen Begriffe aus einer (psychologischen) Individualtheorie nicht aus, um z.B. geschichtlich bedeutsame Aussagen zu treffen.
Beim Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Verhältnissen und Individuen gibt es einerseits Theorien über die gesellschaftlichen Verhältnisse, die üblicherweise Gegenstand der Marxschen Theorie sind und für die er Begriffe wie „Produktionsweise“, „Produktionsverhältnisse“, „Produktivkräfte“, „Eigentumsverhältnisse“, „Klassen“ usw. gebildet hat. Andererseits war die Individualtheorie ziemlich unausgarbeitet, wobei das Konzept des Menschen als „biopsychosoziale Einheit“ (Geißler, Hörz 1988, vgl. Brenner 2004) erste Schritte ging. Hier begann man sich mit „Überspitzungen“ auseinander zu setzen, „in denen die genetisch-biotischen Faktoren vernachlässigt, die Psyche nicht berücksichtigt und die Individualität nicht gefördert wurde“ (Hörz 1988: 8). Diese Theorie galt als Persönlichkeitstheorie für die Elementebene, wobei die Gesellschaftstheorie die Rahmentheorie darstellt. Zu einer Persönlichkeit gehört dabei die „eigenständige Regulation seiner Wechselbeziehungen mit der natürlichen und sozialen Umwelt“ (Kossakowski 1988: 163). In der als Individualtheorie verstandenen Theorie vom Menschen als biopsychosozialer Einheit kam es in diesem Forschungsprogramm darauf an, verschiedene Sichtweisen, also die biologische, die psychologische und die gesellschaftliche Ebene nicht auseinanderfallen zu lassen. Das Individuum ist dabei selbst immer gesellschaftlich, einerseits im allgemein anthropologisch-überhistorischen Sinne; aber jedes wirkliche Individuum ist als gesellschaftliches Individuum immer zugleich das Individuum seiner jeweils konkret-historischen Gesellschaftsform. Das Element-System-, also das Individuum-Gesellschaftsverhältnis gestattet keine einfache Ableitung des Systemverhaltens aus dem Elementverhalten, was bedeutet, dass sich Qualitäten des Systemverhaltens nicht einfach aus der Summe der einzelnen Elementverhaltensweisen erklären lassen. Es werden Vermittlungsbegriffe gebraucht, wie z.B. die „Handlungsfähigkeit“ aus der Kritischen Psychologie (siehe 4.1.). Soweit diese „Handlungsfähigkeit“ in der Kritischen Psychologie jedoch genau genommen als „personale Handlungsfähigkeit“ bestimmt ist (als „Verfügung des Individuums über seine eigenen Lebensbedingungen […] als Verfügung über den gesellschaftlichen Prozess“ (Holzkamp 1983: 158)), ist dies ein Begriff der Individualtheorie und kann nicht Begriffe aus der Gesellschaftstheorie ersetzen oder obsolet machen. Auch die im Begriff vom Menschen bei Stefan und Simon gefundene „Potenz des Menschen“ bezieht sich auf die individuelle Fähigkeit der Menschen und bedarf zu ihrer Verwirklichung eines Bezugs zu ganz konkret-historischen gesellschaftlichen Möglichkeiten, für deren Kennzeichnung eine Gesellschafts- und Geschichtstheorie benötigt werden, die sich nicht auf individualtheoretische Begriffe reduziert.
Hinzu kommt, dass die vom Individuum ausgehende Theorie von Holzkamp im Unterschied zu anderen Individual- oder Persönlichkeitstheorien explizit Begriffe/Kategorien für die Analyse des Weltbezugs vom Standpunkt des Subjekts aus bereit stellt, während eine Gesellschaftstheorie die gesellschaftlichen Verhältnisse aus objektiver Sichtweise analysiert. Das dabei gewonnene Wissen über die gesamtgesellschaftlichen Bedingungen geht dann als Wissen in die Begründungsanalyse im Subjektstandpunkt ein, in der neben den Bedingungen andere subjektwissenschaftliche Kategorien wie Bedeutung, Prämissen, Gründe etc. eben auch die objektiven Bedingungen eine wesentliche Rolle spielen.
Die Bezugsebenen bei Holzkamp (philosophische, gesellschaftstheoretische, kategoriale und einzeltheoretische, siehe Holzkamp 1983: 27ff.) verweisen darauf, dass eine Ebene von den jeweils anderen beeinflusst wird, aber nicht mit ihnen gleichgesetzt werden kann.
John Erpenbeck (1982: 116ff.) macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass es keine ausreichende Bestimmung des Verhältnisses der (kritisch-)psychologischen Begriffe zu den philosophischen analogen Begriffen (wie „Subjekt“, „Mensch“, „Bewusstsein“) gibt und deshalb kurzschlüssige Übertragungen nahe liegen Auch die Übertragung der dialektischen (philosophischen) Methode in eine „Methodik einer Einzelwissenschaft“ gehört demnach zu den „methodisch fragwürdigen Weiterungen“ (siehe dazu auch Abschnitt 5.2).
Im Zusammenhang mit der Methodik des Buches von S&M zeigt sich dort ein nicht immer ausreichend ausgewiesenen Unterschied der gesellschaftstheoretischen Ebene und jener der kategorialen Grundlegung der psychologischen Individualwissenschaft.
3.1.3 Reduktion der Begriffe
Im Buch „Kapitalismus aufheben“ werden einerseits die kritisch-psychologischen Kategorien von Holzkamp übernommen, teilweise durch einen „Objektwechsel“ von daher in die gesellschaftstheoretische Ebene übernommen und teilweise durch einfache Festlegungen definiert, wodurch der Bedeutungsbereich des jeweiligen Begriffes gegenüber anderen Verwendungen extrem eingeschränkt wird und es auch vorkommt, dass sie einfach den vorhandenen „bürgerlichen“ Definitionen entsprechen. Letzteres wird z.B. bei der Kategorie „Eigentum“ deutlich (siehe 3.2.3). Die Kategorie „Eigentum“ wird als „soziale Beziehung zwischen Menschen, bei der die eine Person (oder Gruppe) andere von der Verfügung über materielle, symbolische oder soziale Ressourcen oder Mittel ausschließen kann“ (S&M: 25, vgl. S. 141) definiert. Damit wird die Bestimmung aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch, die ihre Quellen im römischen Rechtsverständnis hat, unkritisch übernommen: „Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen“ (BGB § 903). Alle anderen Verhältnisse in denen es im allgemeinen Sinne um Verhältnisse zwischen Menschen in Bezug auf Sachen geht, werden dann nicht als „Eigentum“ bezeichnet, sondern fallen irgendwie unter die schwammige Bezeichnung „Verfügung“. (Mehr zum Fehlen einer allgemeinen Kategorie der Eigentumsverhältnisse weiter unten)
Zwar schreiben Stefan und Simon, dass es ihnen nicht um Worte gehe, sondern um Inhalte, aber mit ihren Definitionen schneiden sie anderen, die das Wort für einen inhaltlich weiter bestimmten Begriff verwenden wollen (etwa: Eigentum = Verhältnisse zwischen Menschen in Bezug auf Sachen), die Sprachmöglichkeit innerhalb ihres theoretischen Rahmens ab. Damit üben sie, ob sie wollen oder nicht, eine Definitionsmacht aus: „Indem mit den Diskursen gewissen positive Sprachmöglichkeiten mit Bezug auf Bereiche […] geschaffen werden, sind damit gleichzeitig andere Sprachmöglichkeiten darüber als ungehörig und unwahr ausgeschlossen.“ (Holzkamp 1994/2018: 145)
Letztlich entstehen bei ihnen „Alles-oder-Nichts“-Begriffe. Wenn das Wort „Eigentum“ nur für ausschließendes Eigentum, das identisch gesetzt wird mit „Privateigentum“ (S&M: 25, Fußnote 8), verwendet wird, gibt es nur dieses Eigentum und was es sonst gibt an Verhältnissen zwischen Menschen in Bezug auf Sachen, kann nicht mit einem Allgemeinbegriff ausgedrückt werden außer mit schwammigen Ersatzworten wie „Verfügung“. Auch bei dem Begriff „Arbeit“ bleiben sie dabei, ihn nur für nicht selbstbestimmte Tätigkeiten zu verwenden (ebd.: 23), so dass die allgemeinmenschliche Spezifik der menschlichen „Tätigkeiten“ unbenannt bleiben muss. Auch die „Interessen“ soll es nur in einer Form geben, in der sie notwendigerweise gegeneinander gerichtet sind (ebd.: 50, vgl., auch Meretz 2013). Die Begriffe einer allgemeinen Gesellschaftstheorie wie Eigentum, Arbeit oder Interesse werden durch die ausschließliche Verwendung für die kapitalistische Gesellschaftsform quasi der allgemeinen Gesellschaftstheorie und auch geschichtlichen Studien entzogen, d.h. „enteignet“ und andere gleich völlig beschwiegen (Produktionsweise, Klassenverhältnisse…). Problematisch daran ist vor allem, dass die geschichtliche Entwicklung dann nicht mehr mit Hilfe von allgemeineren Begriffen dieser Bedeutung analysiert werden kann.
Ich denke, dass die Reduktion der Begriffe/Kategorien zwar eine Vereindeutigung ermöglicht, aber dafür Widersprüche ausblendet. Bei der strikten Entgegensetzung von „Eigentum“ (als ausschließendem Privateigentum) und „kollektiver Verfügung“ (wobei „niemand abstrakt… von verfügbaren Mitteln… getrennt werden darf“ (S&M: 162)) bleiben wichtige Fragestellungen auf der Strecke, so die nach konkreten Aneignungsprozessen (z.B. des Mehrprodukts). Es wird so getan, als sei die abstrakte Entgegensetzung bereits die Lösung der Probleme, wobei wichtige Probleme einfach ausgeblendet werden, was durch die Fokussierung auf kategoriale theoretische Arbeit auch leicht möglich ist. (siehe zur Eigentumsfrage insb. Abschnitt 3.2.3.).
Oktober 6, 2018 at 9:19 am
Hallo Annette,
vielen Dank für Deine Analyse in der besten Tradition der Kritik!
Wie ist es mit dem Begriff Molekül? Inwieweit bestimmt er die Untersuchungsmethode?
Beste Wünsche,
Peter
Oktober 6, 2018 at 2:25 pm
Er orientiert in der Chemie z.B. darauf, nach sog. „Reinstoffen“ zu suchen, um klar definierte Merkmale der Stoffe auch auf physikalischer Ebene unterscheiden zu können. Er orientiert auf die Praxis, die Stoffe eines Stoffgemischs nach Atomen/Molekülen zu trennen, um sie dan wieder aus dem Zusammenwirken der zuerst vereinzelt beschriebenen und analysierten Bestandteile erklären zu können.
Sie gehören zu der Praxis, dass in der Wissenschaft die Untersuchungsgegenstände erst mal auf ihre möglichst „reinste Form“ gebracht werden, wie sie oft in der Natur gar nicht vorliegen.
Oktober 7, 2018 at 5:13 am
Liebe Annette,
Deine Antwort ist richtig, ist allerdings so allgemein, dass sie genauso gut auf „Atom“, „Körper“ usw. zutrifft, mithin auf die Wissenschaften insgesamt. Wie verhält es sich mit den einzelnen Wissenschaften/-zweigen und ihren spezifischen Gegenständen und Untersuchungsmethoden?
Oktober 7, 2018 at 7:39 am
Ja genau, das ist allgemein so. Die Wissenschaft untersucht die Gegebenheiten der Welt üblicherweise nicht einfach so, wie sie gegeben sind, nämlich komplex miteinander wechselwirkend. Sondern sie isoliert bestimmte Aspekte, bildet dafür bestimmte Grundgrößen und setzt dann diese Grundgrößen miteinander ins Verhältnis. Für die Physik hat das Renate Wahsner gut studiert, für andere Wissenschaften (Chemie, Biologie…) müssten das Leute machen, die sich speziell damit beschäftigen, aber das Grundprinzip ist ähnlich. Das, was dann als Grundgrößen oder Begriffe entstanden ist, sind einerseits Produkte des menschlichen Erkenntnisprozesses, aber nicht beliebig „konstruiert“, sondern genau so, dass wirkliche Verhaltensweisen der wirklichen Gegebenheiten damit untersucht werden können.
Oktober 7, 2018 at 8:31 am
Auch hier gebe ich Dir wieder i. A. recht, mit den konkreten Untersuchungsmethoden hat das aber noch nicht viel zu tun – oder meinst Du, der Begriff bestimmt die Menge aller möglichen/anwendbaren Untersuchungsmethoden nebst Theorien?
Schöne Grüße aus Taras, 🇰🇿
Oktober 7, 2018 at 11:02 am
Es gibt für eine naturwissenschaftliche Theorie nicht EINEN Begriff, der alles bestimmen würde. Ihre Bedeutung haben die Begriffe/Grundgrößen nur innerhalb der Theorie, für deren Gegenstände sie gebildet werden. Insofern hängen Grundbegriffe und Theorien notwendigerweise miteinander zusammen.
Dass es für jede naturwissenschaftliche Theorie NICHT nur EINEN Grundbegriff gibt, hängt auch damit zusammen, dass Naturwissenschaft eben doch nicht nur eine quantitative Analyse ist, wie ihr von Wissenschaftskritiker*innen oft vorgeworfen wird. Sondern die qualitativ unterschiedlichen Verhaltensweisen der Gegenstände werden durch die Erkenntnis der wesentlichen Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Grundgrößen (d.h. den Naturgesetzen) gleichermaßen berücksichtigt, wie auch umgewandelt in eine Form, die die Messbarkeit dieser Verhaltensweisen, d.h. den Vergleich der Theorie mit der Wirklichkeit, ermöglicht.
Oktober 7, 2018 at 12:02 pm
Liebe Annette,
meine Frage ist nicht richtig bei Dir angekommen. Wir waren bei der Behauptung, die Wissenschaft, die sich mit einem Gegenstand beschäftigt, werde durch den Begriff, der ihn definiert, festgelegt. Dagegen war ich bisher der Ansicht, die Wissenschaft, die sich mit einem Gegenstand beschäftigt, werde durch ihn und die Untersuchungsmethode(n) festgelegt.
Oktober 7, 2018 at 12:31 pm
„Behauptung, die Wissenschaft, die sich mit einem Gegenstand beschäftigt, werde durch den Begriff, der ihn definiert, festgelegt.“
Ich glaube, so sieht das Holzkamp auch. Eine „Kategorie“ bestimmt in einer empirischen Theorie demnach den „Gegenstand, seine Abgrenzung nach außen, sein Wesen, seine innere Struktur“. „Solche Kategorien schließen stests bestimmte methodologische Vorstellungen darüber ein, wie man wissenschaftlich vorzugehen hat, um den Gegenstand adäquat zu erfassen.“ (Holzkamp 1983: 27f.)
Das enthält also beides, was Du ansprichst: Die Kategorie (oder auch der Begriff, die Bezeichnungen sind in der Wissenschaftstheorie immer mal unterschiedlich, das Wort „Kategorie“ kommt wohl vor allem aus der Kant-Tradition) bestimmt, wie ich meinen Erkenntnisgegenstand bestimme (definiere) und wie ich ihn erfasse (Untersuchungsmethoden).
Ich selbst würde ergänzen, dass des die Kategorie/den Begriff nicht außerhalb der Theorie gibt, in der er definiert ist und die mit dem damit Untersuchten eine in sich kohärente Beschreibung/Erklärung des Gegenstandsbereichs ermöglicht.
Oktober 6, 2018 at 10:04 am
Zugespitzt könnte man hier (und auch schon im voraufgehenden Absatz 2) fragen: Gibt es im Buch ÜBERHAUPT Kategorien, die die Vergesellschaftung von Verhältnissen zu Sachen thematisieren?
Sachen und Verhältnisse von Menschn zu ihnen kommen genau in zwei Formen vor:
Einmal als „Bedingungen“, die, wie die von mir immer wieder (ziemlich bestürzt) zitierte Fussnote 32 S,158/9 bestätigt, von vorneherein aus der Betrachtung ausgeschlossen sind.
Und: Als Masse „vermittelnder“ Mittel, die zwischen den Leuten herumliegen. Wie diese Mittel mit den Leuten und umgekehrt zusammenwirken, damit ihre Vermittlungsleistung überhaupt möglich wird, wird garnicht erst gefragt. Warum?
Weil das Buch Exklusion und Inklusion als gegenüber sachlichen Bedingungen und sach-bezogener Vermittlung INVARIANT bespricht, und damit so ziemlich den gesamten theoretischen Materialismus der radikallinken Tradition selbstbewusst entsorgt: Ex/Inkludierende Beziehungen zwischen Individuen, genauer: den Resultaten ihrer individuierenden psychischen Hauptkategorien (Bedürfnis, Prämisse) sind alles.
Denn: Sach-Bezug kommt vor als Bedürfnis (im gesellschaftlichen Rahmen gebildet) und Prämisse (gibts hier eine „gesellschaftlches“ Andockstelle oder Interface? gibs hier auch Objektives und kognitive Umgangsweisen damit?).
Kognitive Dynamik hingegen, alles Dazulernen über Bestehendes hinaus, wenn denn überhaupt mit ihm zu rechnen ist, gehört offensichtlich von vorneherein „der Gesellschaft“ an. Umgekehrt geschlossen: Alles Lernen ist geradezu genetisch (Marx würde sagen: naturwüchsig) immer schon vergesellschaftet, nicht Resultat eines mühsamen Vergesellschaftungsprozesses, der uU epochal misslingen kann – oder für den in Jahrhunderte andauernden Anstrengungen sachgemässe Formen erst entwickelt werden müssen.
Das ist dann das durch und durch idealistische Pendant zum anti-materialistischen Entsorgen der produktiven (und als wesentlicher Kern: kognitiven) Weltbezüge.
Ich fürchte, dass sich dieses theoretische Unbestimmt-Lassen des Zustandekommens der Vergesellschaftung von Lernfortschritten aus einer bestehenden Praxis von Kollektiven, aber eben auch Einzelnen oder kleinen Gruppen, auch bei Holzkamp findet. Die ganze Gesellschaftlichkeit ist bei H. bereits erschöpft im vorsorgenden produktiven Handeln aller (Angehörigen wie grosser Gruppen?) für alle. Einführung der Sprache (sie ist nicht angeboren) setzt vorsprachliches Routine-Kooperieren voraus; aber welcher Unterschied sich daran anschliesst, ist nicht erfasst, dieser nämlich: Dass ab dann wachsende Gruppen von Menschen kollektiv lernfähig werden und kognitive Errungenschaften, die bis dahin einzig den Einzelwesen angehören, sich auf Gruppen ausweiten, die ihren Erfahrungserwerb koordiniert räumlich getrennt, arbeitsteilig organisieren und die Resultate (im Idealfall) zusammenführen und gemeinsam verarbeitet in neue Lern-Projekte übersetzen und diese biographien-übergreifend tradierbar machen.
Die Gesamtheit der dafür nötigen Prozesse kann als VERSTÄNDIGUNG bezeichnet werden; und ihr Inhalt ist die kollektive (gesellschaftliche) Verarbeitung relevanter neuer Erfahrung (incl. daraus gezogener Konsequenzen) EINZELNER. Vor der Arbeits- und Aufgaben-(Auf)Teilung (divide) kommt die Wissens-(Mit) und Begriffs-Teilung (share).
(Die Schwierigkeit ist: Wie sie „transpersonal“ gelingen kann; die befriedigende Definition inter/trans-personal kann ohne die Kategorie Verständigung und, sagen wir, etwas wie Transitivität der Verständigtheits-Relation, nicht gelingen.)
Die historischen KOGNITIVEN Stufen, die Ausdifferenzierung von Kategoriensystemen der Einzelnen (wie entstehen zB Religion? wie zB Wissenschaft?) und die Mühsal, solche Errungenschaften in Bildungsprozessen zu vergesellschaften und beschleunigt tradierbar zu machen, wird im Buch nichtmal ansatzweise als materielles Problem behandelt. (Das ist natürlich eine kategoriale Leerstelle in der gesamten bisherigen radikallinken Geschichtstheorie. Sie ist auch so eine unentwickelte kognitive Stufe…)
Stattdessen müssen, dem Buch zufolge, einzig subjektive Bedürfnisse+Prämissen, die zu konfligierenden individuellen Lebensentwürfen führen,…
(haben die Leute zu ihrer Vergesellschaftung und zur materiellen (Re)Produktion der Gesellschaft keine (divergierenden) Meinungen? wie kommen die zustande?)
… in ein inkludierendes Verhältnis gebracht werden, dh entweder sie passen irgendwie (dein Nutzen auch meiner), oder es gibt Kompromisse. Annette moniert oben, wie ich: Menschen haben, dem Buch zufolge, offenbar keine authentisch-identische allgemeine Interessen und Projekte, die ihnen allen von vorneherein gemeinsam sind, so dass sie allein DURCH DEREN INHALT schon vergesellschaftet sind. Eingerichtete Routine-Produktion und -Arbeitsteilung ist zwar eines; aber ihre forschend-experimentelle Ausweitung ist auf Dauer wichtiger. Von der universalisierten Neugier und (spielerischen) Experimentierlust, ohne die (wie ich glaube zeigen zu können) die Einführung von Sprache nicht möglich gewesen wäre, weiss Holzkamp, soweit ich sehe, nichts. Oder wo findet man sie in der Grundlegung? Und wo in der radikallinken, materialistsichen Geellschaftstheorie die Probleme mit der Kollektivierung und Tradierung von Lernfortschritten Einzelner?
Oktober 6, 2018 at 2:07 pm
Hallo Franziska,
„Von der universalisierten Neugier und (spielerischen) Experimentierlust, ohne die (wie ich glaube zeigen zu können) die Einführung von Sprache nicht möglich gewesen wäre, weiss Holzkamp, soweit ich sehe, nichts.“
Bei Tieren ist das vor allem als „Kontrollbedarf“ diskutiert, auch im Zusammenhang mit dem spielerischen Erkunden von Möglichkeiten (Grundlegung…., S. 152). Bei Menschen geht das über in das, was u.a. als „produktives Bedürfnis“ erfasst ist (ebd.: 242f.) bei Simon und Stefan auch als „Teilhabebedürfnis“ formuliert (S&M: 128), wo das Spielerische dann wenige eine Rolle spielt.
Oktober 6, 2018 at 2:11 pm
„Probleme mit der Kollektivierung und Tradierung von Lernfortschritten Einzelner“
Soweit sie sich vergegenständlichen, sind die Lernfortschritte in den Bedeutungen tradierbar. Da gibt es einerseits die Gegenstandsbedeutungen: Die Gegenstände selbst tragen kulturell entstandene und kulturell tradierte Bedeutungen und auch Symbolbedeutungen… (Dazu steht was in : Geier, Manfred; Hasse, Antje; Keseling, Gisbert; Schmitz, Ulrich (1977): Bedeutung als Bindglied zwi-schen Bewusstsein und Praxis. In Bericht 1977, S. 101-113)
Ich weiß nicht, ob das Ansätze sind, die für Deine Fragestellung tragfähig sein könnten.
Oktober 7, 2018 at 12:19 pm
PS: Der durch den Begriff bestimmte Teil der Materie bestimmt die Menge der möglichen Untersuchungsmethoden durch die Menge der verschiedenen Wechselwirkungen, die er einzugehen vermag, war das gemeint?
Oktober 7, 2018 at 12:25 pm
Ich glaube nicht, dass es da eine Mengenentsprechung gibt.