Dieser Text gehört zum Projekt „Über Utopie und Transformation neu nachdenken“. (Version 1.8, 25.10.2018)


Die Gesellschaftstheorie in dem Buch „Kapitalismus aufheben“ basiert auf allgemeinen Überlegungen zum Verhältnis von Elementarem (Interpersonalem) und Systemischen (Transpersonalem). Beim Zusammenhang zwischen „individuell-interpersonaler“ und „systemisch-transpersonaler Seite“ (S&M: 135) wird darauf geachtet, dass zwar die systemische Ebene bestimmend für die individuelle ist, dass das individuelle Handeln sich aber nicht direkt aus der Systemform ableiten lässt. Individuelles Handeln ist nicht eindeutig durch das System bedingt, sondern die Individuen stehen den gesellschaftlichen Handlungsnotwendigkeiten (die sich aus der Notwendigkeit der Reproduktion der Gesellschaft ergeben) in einer Möglichkeitsbeziehung gegenüber. Marx schrieb dazu in der „Betrachtung eines Jünglings bei der Wahl seines Berufes“ (wobei es hier nicht um Notwendiges als Einigendes geht, sondern um ein „allgemeines Ziel“):

„Dem Tiere hat die Natur selber den Wirkungskreis bestimmt, in welchem es sich bewegen soll, und ruhig vollendet es denselben, ohne über ihn hinauszustreben, ohne auch nur einen anderen zu ahnen. Auch dem Menschen gab die Gottheit ein allgemeines Ziel, die Menschheit und sich zu veredlen, aber sie überließ es ihm selber, die Mittel aufzusuchen, durch welch er es erringen kann; sie überließ es ihm, den Standpunkt der Gesellschaft zu wählen, der ihm am angemessensten ist, von welchem aus er sich und die Gesellschaft am besten erheben kann. Diese Wahl ist ein großes Vorrecht vor den übrigen Wesen der Schöpfung, aber zugleich eine Tat, die sein ganzes Leben zu vernichten, alle seine Pläne zu vereiteln, ihn unglücklich zu machen vermag.“ (Marx MEW 1; BJ: 591)

Wesentlich für Menschen (im Vergleich zu anderen Tieren), ist die „Erkenntnisdistanz“ (Holzkamp 1983: 236), die auch „exzentrische Positionalität“ als „Tatsache, daß er sich setzt, indem er sich außer sich setzt“ genannt wird. (Holz 2005: 581, wobei er mit dem Begriff der „Exzentriztiät“ auf Helmuth Plessner verweist. vgl. auch Holz 2003) Gemeint ist damit das bewusste Verhalten zu sich selbst.

Das Bedeutsame daran ist, dass Menschen nicht eindeutig bedingt durch die gesellschaftlichen Bedingungen handeln, sondern sie jeweils individuell-subjektiv Handlungsgründe entwickeln, die sich nicht direkt aus den Bedingungen ableiten lassen. Nur deshalb können Menschen auch Gründe entwickeln, das vorhandene System nicht mehr (nur) zu reproduzieren, sondern Neues zu schaffen. (vgl. (Holzkamp 1983: 236)

Marxistische Kategorien für die gesellschaftliche, das heißt hier die „systemische“ Ebene, wie Produktionsweise, Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse, wie die Betrachtung der Produktion in ihrem Verhältnis zu Distribution, Austausch und Konsumtion (MEW 42 EG: 24) und „Eigentum“ werden im Buch „Kapitalismus aufheben“ ersetzt durch die Worte „Herstellung*, Vermittlung, Nutzung“ und „Verfügung“. Neu zur Kennzeichnung typisch verschiedener Gesellschaftsformationen werden die Begriffe „Exklusionsgesellschaft“ (S&M: 34) und „Inklusionsgesellschaft“ (ebd.: 149) gebildet, die die Differenzierung in unterschiedliche Gesellschaftsformationen entsprechend unterschiedlicher Eigentumsverhältnisse oder bezogen auf unterschiedliche Klassenverhältnisse ersetzt. Auf diese Weise zeigt sich der gleich im ersten Satz der Einleitung verkündete Abschied vom „traditionellen Marxismus“ (ebd.: 13). Genau genommen wird damit also nicht nur eine Form des Marxismus verabschiedet, sondern der ganze Marx. Das wird sich bei der Analyse des Kapitalismus (hier im Abschnitt 3.2.1) ebenfalls zeigen.

Warum diese Verabschiedung? Im Kapitel über den „traditionellen Marxismus“ (ebd., S. 57) wird die nicht erfolgreiche Praxis, auf marxistischer Grundlage eine neue Gesellschaftsform zu schaffen, berechtigterweise zur Grundlage des Hinterfragens der theoretischen Grundlagen. Die Art und Weise, wie dies geschieht, ist jedoch idealistisch und voluntaristisch und schütten damit „das Kind mit dem Bade aus“.

Idealistisch ist sie deshalb, weil davon ausgegangen wird, dass primär falsche oder unzureichende Theorien zu den Misserfolgen geführt haben. Hier gilt, was Erich Hahn schon 1993 konstatierte: „Die überwiegende Mehrzahl aktueller Analysen dieser Vergangenheit blendet diesen Umstand [den „unablässige[n] Existenzkampf gegen direkte und indirekte äußere Bedrohung“] aus und deduziert die stattgefundene Entwicklung mehr oder weniger unvermittelt aus dem Konzept, aus der Ideologie, aus den Absichten der Kommunisten.“ (Hahn 1993: 56) Der Zusammenhang von Theorie, dem jeweiligen geschichtlichen Kontext und praktisch-politischen Erfahrungen wird völlig ausgeblendet.

Voluntaristisch ist die Kritik, weil sie einfach hehre Wünsche, wie und wohin eine Transformation stattzufinden habe, mit der Realität konfrontiert und die Realität sich dabei natürlich nur blamieren kann. Es war ja z.B. nicht einfach nur eine theoretische Setzung, dass um die politische Macht zu kämpfen sei (Marx MEW 16: 12), sondern entsprang den Erfahrungen, dass „die Herren von Grund und Boden und die Herren vom Kapital […] ihre politischen Privilegien stets gebrauchen zur Verteidigung und zur Verewigung ihrer ökonomischen Monopole“ (ebd.). Daran hat sich seither nichts geändert (vgl. Klein 2009). Und es war gut begründet anzunehmen, dass die Übergänge vom Feudalismus zum Kapitalismus und jener vom Kapitalismus zum Sozialismus/Kommunismus sich in einem wichtigen Punkt unterscheiden: Während die Früh-Kapitalisten schon im Feudalismus ökonomisch an Macht gewinnen konnten, können Menschen ohne Produktionsmittel aus dem Kapitalismus heraus keine ausreichend wirkmächtige ökonomische Alternative entwickeln: „Da das kapitalistische Eigentum die Trennung des Arbeiters von den Produktionsmitteln voraussetzt, kann die für die sozialistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse typische Vereinigung der Arbeiter mit den Produktionsmitteln im Kapitalismus nicht entstehen.“ (Autorenkollektiv 1975: 430) Wie wir sahen, geben die Autoren des Buches „Kapitalismus aufheben“ im Transformationskapitel auch zu, dass ihr Aufhebungsszenario 2, das eine „sukzessive Ausdehnung der Commons“ vorsah, nicht mehr zu halten ist (S&M: 226). Für sie spricht nun auch „alles dafür, dass ein funktionierender Kapitalismus […] auf seinem eigenen Terrain, der Verwertungslogik, nicht auskonkurriert werden kann“ (ebd.: 230). Sie führen dies jedoch nicht auf die Eigentumslosigkeit der meisten Menschen an wichtigen Produktionsmitteln zurück, weil dies – in Abgrenzung gegenüber dem „traditionellen Marxismus“ – für sie keine wesentliche Bestimmung des Kapitalismus mehr ist.

Ich denke, mit dieser Verabschiedung des „traditionellen Marxismus“ haben sie mehr verloren, als durch ihre eigene Theorie gewonnen werden kann. Anstatt ausdifferenzierte Begriffe aus der marxistischen Gesellschaftstheorie einfach zu entsorgen, hätten sie sich hier besser an eine typische Methode des Umgangs mit früheren Theorien aus ihrer „Leib- und Magentheorie“, der Kritischen Psychologie, gehalten: einer sorgfältigen „Kritik/ Reinterpretation/ Weiterentwicklung“ (Holzkamp 1983: 515; vgl. Markard auch 2009: 299ff. ).

Letztlich fehlt eine eigenständige Gesellschaftstheorie, die marxschen  Begriffe hierfür (wie Produktionsweise, Produktionsverhältnisse, Klassen, Eigentum… ) wurden entsorgt und die eigene Alternative auf vage Benennungen wie „Herstellung*“, „Vermittlung“ und „Nutzung“ beschränkt. Vermutlich wird die  Notwendigkeit einer eigenständigen Gesellschaftstheorie deswegen nicht gesehen, weil die gesellschaftliche „Systemform“ letztlich doch als „Summe der Handlungen“ der Individuen gedacht wird (S&M: 138) und dem System so keine eigenständigen, nicht aus den Handlungen ableitbaren  („emergenten“) Charakteristika zugesprochen werden. Marx selbst sieht zwar die Gesellschaft auch als „Produkt des wechselseitigen Handelns der Menschen“ an, aber wie sie handeln können, ist nicht nur von ihrem Handeln abhängig, sondern mindestens ebenso sehr vom „bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte“ bzw. der „Entwicklung der Produktion, des Verkehrs und der Konsumtion“ (MEW 27: 452)

Die undifferenzierte „Alles-oder-nichts“-Logik bei der Begriffsbestimmung zeigt sich auch an der auffallendsten begrifflichen Neuerung, der „Exklusions-“ und der „Inklusionslogik“ (S&M: 31, 34). Dabei bedeutet Exkludieren nicht, wie der Begriff zuerst nahelegt, nur, dass jemand exkludiert, also ausgeschlossen wird, sondern dass es den Menschen durch bestimmte gesellschaftliche Strukturen (auf der Systemebene) nahegelegt wird, „ihre Bedürfnisse auf Kosten der Bedürfnisse anderer zu befriedigen“ (ebd.: 31). Im Gegensatz dazu gibt es eine Inklusionslogik unter „Bedingungen, die es nahelegen, Bedürfnisse anderer einzubeziehen“ (ebd.: 34). Alle bisherigen Gesellschaftsformationen seit sehr alter Zeit bis jetzt sind dabei von einer „Exklusionslogik“ bestimmt, nur die realisierte Utopie verwirklicht dann endlich eine „Inklusionslogik“. Wer würde das nicht wollen?


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