Dieser Text gehört zum Projekt „Über Utopie und Transformation neu nachdenken“. (Version 1.8, 25.10.2018)
Wie schon erwähnt, kritisierten Marx und Engels in ihrer Auseinandersetzung mit früheren Weggefährten und Vorbildern z.B. an Feuerbach, dass er „die Menschen nicht in ihrem gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhange, nicht unter ihren vorliegenden Lebensbedingungen“, sondern als „Abstraktum „der Mensch““ betrachtet (MEW 3, DI: 44). Dies kennzeichnet den Wandel vom „anthropologischen Materialismus […] zum historischen“ (Mocek 1988: 222). Übrigens hatte auch Aristoteles vor, „jene staatliche Gemeinschaft zu betrachten, die für Menschen, die möglichst nach Wunsch leben können, von allen die beste ist…“ (Aristoteles Politik: 31). Er unterschied dabei die „schlechthin beste Verfassung“ von der „nach Umständen beste[n]“ (ebd. 123). Die Bedeutung der Umstände zeigt sich auch an der Bedeutung konkreter technischer Möglichkeiten, denn Sklaven als „beseeltes Besitzstück“ (ebd.: 7) wären unter bestimmten Umständen nicht mehr notwendig, denn „wenn so auch das Weberschiff von selber webte und der Zitherschlägel von selber spielte, dann brauchten allerdings die Meister keine Gesellen und die Herren keine Knechte.“ (ebd.)
Auch in den ethnologischen Exzerptheften von Marx findet deren Herausgeber, Lawrence Krader, „den Marxschen Übergang von der Kritik des abstrakten menschlichen Gattungswesens zur empirische Erforschung besonderer Gesellschaften“ (Krader 1976: 91). Marx begreift demnach „den Menschen zunächst als gesellschaftlichen Menschen, ohne ein inneres, außerhalb der Zeit stehendes Wesen, ohne von seinen Verhältnissen in der Gesellschaft und in der gesellschaftlichen Produktion, einschließlich seiner Selbsterzeugung, unterschiedenes Wesen.“ (ebd.: 88) Die Theorie „vom Menschen“ kann deshalb keine andere sein, als eine über wirkliche Menschen, und „[v]om Feuerbachschen abstrakten Menschen kommt man aber nur zu den wirklichen Menschen, wenn man sie in der Geschichte handelnd betrachtet“ (Engels MEW 21: 290).
In solch einem geschichtlichen Sinne kann man dann auch von einer „Selbsterzeugung“ der Menschen sprechen: „So wird die Geschichte zum Selbsterzeugungsakt des Menschen von Stufe zu Stufe der Anreicherung und Modifikationen der Bestimmungen seines So-seins. Es gibt nur ein geschichtliches Wesen des Menschen, allerdings stets auf der Grundlage seiner naturhaften Beschaffenheit.“ (Holz 2003: 169)
Geschichtlich zu sein, bedeutet bei Menschen auch, dass sie ihre Geschichte selbst machen. Das „selbst-Machen“ schließt ein, dass sie nicht nur nach Maßgabe der „unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“ (Marx MEW 8: 115) handeln. Das Bewusstsein hat auch eine antizipierende Funktion – Menschen können sich jeweils etwas Besseres als das Gegebene und Überlieferte vorstellen und wünschen (vgl. auch Rehmann 2018). Neben eher vagen Wunschvorstellungen erweisen sich auch wissenschaftliche Denkformen als hilfreich für Antizipationen. Wissenschaften unterscheiden sich vom Alltagsdenken dadurch, dass sie wesentliche Zusammenhänge erkennen, die den alltäglichen Erscheinungen nicht „anzusehen“ sind, ihnen mitunter auch widersprechen, denn „alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen“ (MEW 25: 825). Die Formen des wissenschaftlichen Erkennens wandeln sich im Verlaufe der Zeit. Es wäre sicher vermessen, in den heutigen Formen die endgültigen Formen wissenschaftlichen Erkennens zu sehen. Auch hier finden Aufhebungsprozesse statt, so dass die Weisen der früheren Welterkenntnis nicht nur verworfen, sondern auch aufbewahrt und weitergeführt werden. Aber neue Formen wird es geben. Deshalb sind auch unsere heutigen Erkenntnisse sicher nichts Endgültiges. Sogar die Antizipation ist an ihre jeweilige Zeit gebunden. Ernst Bloch bindet den Begriff der Antizipation an das „Novum einer prozeßhaft-konkreten“ (PH: 726) und Hans Heinz Holz ergänzt: „So hat Antizipation ihren realen Gegenstand in der Welt, und zwar genau in dem Bereich der Möglichkeit.“ (Holz 1955: 140)
Dass wir uns eine „Inklusionsgesellschaft“ als möglich vorstellen, denken und wünschen können, hat etwas mit dem derzeitigen Entwicklungsstand der Gesellschaft zu tun. In Zeiten, in denen die Individualität noch gar nicht in dem „bürgerlichen“ Maße befreit worden war (vgl. Sonntag 1999: 154ff.), wäre die individuelle Selbstentfaltung als einer ihre Momente gar nicht vorhanden gewesen. Deshalb kann die menschliche Entwicklung auch nicht auf eine „feststellbare Gegebenheit“ hin gerichtet sein, denn: „Der Mensch schlechthin ist nur eine Richtung, keine schlechthin festellbare Gegebenheit; äußerstenfalls läßt sich an seinen Negationen, an dem „Entmenschten“, dem „Unmenschlichen“, dem „Selbstentfremdeten“ worthaft zeigen, was es mit dem Positiven des Allgemeinen bereits auf sich habe, jedoch das sogenannte Gattungswesen selbst ist in concreto allemal ein sehr variiertes, sehr gärendes.“ (Bloch PA: 181) Simon und Stefan zeigen, dass die Entwicklung „äußerstenfalls“ bis hin zu einer Inklusionsgesellschaft gehen könnte, dass die „Natur des Menschen“ dies nicht ausschließt. Jedoch käme es dann auf den Übergang zum Konkreten an. So etwas wie eine „ewige Menschennatur“ gibt es nach Bloch im Marxismus überhaupt nicht. Das „Humanum“ kann „nicht als apriorisches Deduktionsprinzip“ dienen (Bloch NR: 219). Auch als Kritikmaßstab sind solche Ideale nach Bloch nicht geeignet. Er stellt den „Kontrast-Abstraktionen“ die „Tendenzen-Latenzen“ der konkreten Wirklichkeit gegenüber (ebd.: 224f.). Ein Ideal, wie die Marxsche Umwerfung aller Verhältnisse, „in denen der Mensch ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1, KHS: 285), ist dann auch nicht „durch die Abstraktion einer Theorie gesetzt“, sondern „durch die Tendenz“ (Bloch NR: 225).
Solch eine Tendenz hat natürlich einen weiteren Horizont als das bloß-Faktische. Aber den Fakten darf auch kein zu abstraktes, also von Verwirklichungsformen abstrahierendes, Ideal gegenüber gestellt werden. „Je abstrakt höher, das heißt überhistorischer diese Ideale, desto sicherer kommt vielmehr, bei der sogenannten Verwirklichung, ein anderes heraus, und das Ideal verkommt zur Heuchelei oder, bestenfalls, zum Sammelort fragwürdiger und abgestandener Vermissung.“ (ebd.: 226). Stattdessen gilt: „Nicht nur das einigermaßen realisierbare, auch bereits das gültige Ideal, gerade als solches und notwendiges, muß historisch vermittelt sein, muß nachweisbar im gesellschaftlichen Gang seine Tendenz und seine Möglichkeit haben.“ (ebd.).
Kritik ist auch dann noch möglich, wenn nicht das ideale Allgemeine als ihr Maßstab genommen wird, sondern das jeweils konkret mögliche Andere, ausgehend von den je konkreten Zuständen und Bedingungen. „Die objektive Verstelltheit des Besseren betrifft nicht abstrakt das große Ganze. In jedem Einzelphänomen, das man kritisiert, stößt man rasch auf jene Grenze.“ (Adorno 1969/1971: 19). Auch bei Klaus Holzkamp ist das utopische Moment nicht bezogen auf überhistorische Momente des Menschseins, sondern die Erfahrung der Einschränkung ist eine je konkrete. „Die in der gesellschaftlichen Natur des Menschen liegenden Bedürfnisse realisieren sich also hier in der Erweiterung der Handlungsfähigkeit, d.h. sie treten in Erscheinung als subjektive Erfahrung der Einschränkung der Handlungsfähigkeit, was gleichbedeutend ist mit der subjektiven Notwendigkeit der Überwindung dieser Einschränkung.“ (Holzkamp 1983: 241).
In welche Richtung diese Überwindung führen kann, ist keine Frage, die theoretisch entschieden werden könnte. sondern „[d]amit ist zugleich gesagt, dass die Mittel zur Beseitigung der entdeckten Mißstände […] in den […] Produktionsverhältnissen selbst – mehr oder minder entwickelt – vorhanden sein müssen. Diese Mittel sind nicht etwa aus dem Kopf zu erfinden, sondern vermittels des Kopfes in den vorliegenden materiellen Tatsachen der Produktion zu entdecken.“ (Engels MEW 19, ES: 210)
Es ist übrigens sicher kein Zufall, dass die meisten Utopien der besten Welt sich auf Inseln oder abgeschiedenen Planeten finden, denn da braucht man sich um die Bedingungen aus der alten Welt oder Einflüsse aus feindlichen Welten nicht mehr zu kümmern. Auf Huxleys „Eiland“ fragt man sich deshalb: „Wäre es nicht möglich, auf dieser verbotenen Insel, die Krebsgeschwüre zu vermeiden, das Verdorren zu verringern und die einzelnen Blüten schöner werden zu lassen?“ (Huxley 1962/1991: 155). Sehr realistisch zeigt Kim Stanley Robinson in seiner „Marstrilogie“, vor allem im ersten Band (Robinson 1992/1997, vgl. Schlemm 2001) das Aufbrechen von Widersprüchen, weil mit den Menschen letztlich auch die irdischen Widersprüche auf den Mars gelangt sind. Bei der Diskussion eines Verfassungsentwurfs 12 Jahre nach der Verabschiedung eines ersten Programmpapiers kommen die Menschen ins Nachdenken: „Als sie sich diese aber vornahmen und hineinschauten, entdeckten sie, daß die alte Deklaration erschreckend radikal gewesen war. Kein Privateigentum? Keine Aneignung von Mehrwert? Hatten sie wirklich solche Forderungen proklamiert? Wie, hatte man gedacht, sollte das funktionieren? […] In der Deklaration hatte sich niemand bemüht zu sagen, wie ihre erhabenen Ziele verwirklicht werden sollten. Sie hatten diese nur konstatiert. „Die Routine der Steintafeln“, wie Art sie charakterisiert hatte. Aber jetzt war die Revolution erfolgreich gewesen und die Zeit gekommen, etwas in der realen Welt zu tun. Konnten sie wirklich an so radikalen Konzepten festhalten, wie dem Vorliegenden, der Deklaration von Dorsa Brevia?“ (Robinson 1996/1999: 188-189)
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