Dieser Text gehört zum Projekt „Über Utopie und Transformation neu nachdenken“.


4.3.1 Abstrakter und konkreter Begriff

Der „Begriff des/vom Menschen“ (S&M: 119, 123) ist ein wesentlicher Baustein für die Entwicklung der sog. Kategorialen Utopie. Ein „Begriff“ ist für die Autoren eine „Verdichtung theoretischer Überlegungen“ (ebd.: 22). Theorien können nun unterschiedliche Gegenstandsbereiche haben und für jeden dieser Gegenstandsbereiche gibt es entsprechende Begriffe. Theorien von Menschen gibt es z.B. auf einer allgemein-überhistorisch-anthropologischen Ebene. Da der Begriff einer Sache „das in ihr selbst Allgemeine“ (Hegel HW 5: 26) ist, besteht der Begriff „des Menschen“ in dem, was allen Menschen gemeinsam ist, was sie aber auch gegenüber allen anderen Tieren auszeichnet, was das konkrete Besondere der Menschen gegenüber der Tierwelt ist. Dieses auf dieser Ebene Konkrete wird zum Abstrakten, insofern man von konkreten historischen Gesellschaftsformen abstrahiert. Abstrakt-allgemein im diesem Sinne sind solche Bestimmungen der Menschen, dass sie ihre Lebensbedingungen reproduzieren, ein Bewusstsein mit einem „bewußten-Verhalten-zu“ der Welt und sich selbst haben, dass sie die Möglichkeit haben, mit ihrem Handeln die gegebenen Bedingungen zu reproduzieren und sie zu überschreiten. Solche Bestimmungen kommen allen Menschen zu, sie bezeichnen das Gemeinsame. Diese Charakteristika zeichnen alle Menschen aus, unabhängig von den Lebensumständen und gesellschaftlichen Verhältnissen, sie abstrahieren von letzteren. Auch das „Teilhabebedürfnis“ ist so ein abstrakt-allgemeines menschliches Bedürfnis. Alle Menschen zu allen Zeiten haben es in irgendeiner (jeweils konkret-historischen) Form. Deshalb kann daraus nicht wirklich eine Utopie abgeleitet werden, denn es ist ja das unveränderbare Zugrundeliegende allen menschlichen Lebens. Diese Form des Begriffs ist bei Hegel ein „Begriff als solcher“ (HW 6: 270f.) (hier weiter zur besseren Unterscheidung „Begriff I“ genannt). „Es wird nicht mit in das Werden gerissen, sondern kontinuiert sich ungetrübt durch dasselbe und hat die Kraft unveränderlicher, unsterblicher Selbsterhaltung.“ (ebd.: 276)

Im Begriff eine Utopie zu suchen, unterstellt eine andere Art des Begriffes. In der Hegelschen Philosophie begegnet uns solch ein „Begriff des Begriffs“ (vgl. Schlemm 2002, vgl. auch Schlemm 2013b). Der Begriff (II) unterteilt sich in Unterarten, die jeweils besondere Charakteristika haben. Diese besondren Unterarten werden aber zuerst nicht in ihrem Zusammenhang gesehen. Sie werden als „fixierte, isolierte Unterschiede“ (HW 6: 279) erfasst. Solange die Arten nicht vollständig durch ihr übergreifend-Allgemeines bestimmt sind, sondern z.B. wie Apfelsorten beliebig vermehr- oder verminderbar sind, ohne dass das Allgemeine (das Apfel-Sein) dadurch verloren geht, bezeichnet dieses Allgemeine nur so etwas wie ein Ganzes. Ein Ganzes hat Teile, aber welche Teile das konkret sind, ist unbestimmt. Wenn man die menschliche Entwicklung z.B. als solch Ganzes betrachtet, so gilt die „gesamte Menschheitsgeschichte“ als das Ganze und es setzt sich zusammen aus den aufeinander folgenden (und auch nebeneinander bestehenden) Gesellschaftsformationen.

Welche das jeweils sind, bleibt in diesem Ganzen unbestimmt, das Ganze fasst sie nur zusammen. Auch hier kann aus dem Ganzen heraus nichts Bestimmtes über etwas noch nicht Vorhandenes gesagt werden. Über mögliche neue Apfelsorten kann nur gesagt werden, dass es auch Sorten von Äpfeln sein werden.

Der vollständigste Begriff des Begriffs (Begriff III), bei Hegel als „wahrhaft, unendliches Allgemeines“ (HW 6: 279) bezeichnet, hat jedoch noch eine andere Form: Es ist ein Ganzes, bei dem alle möglichen Teile vollständig enthalten sind. In meinem Blogbeitrag zur Frage „Ist Geschichte als Ganzes eine Totalität?“ (Schlemm 2017b) schreibe ich dazu: „Wenn es eins der Bestimmungsmerkmale nicht gäbe, wäre das Allgemeine nicht mehr dieses Allgemeine, das es ist. Alle Bestimmungen gehören dem Allgemeinen notwendigerweise an. Dieses Allgemeine, das seine Besonderungen selbst aus sich hervorbringt, wird auch „Totalität“ genannt.“ In einem weiteren Blogbeitrag (Schlemm 2013) zitiere ich dazu den Hegelschüler Erdmann, wonach es der Begriff der Ellipse ermöglicht, alle möglichen Ellipsen zu konstruieren. Aus einem solchen allgemeinen Begriff der Menschen würden sich alle besonderen Formen des Menschseins mit Notwendigkeit ableiten lassen. Und der allgemeine Begriff selbst wäre der Maßstab, an dem alles Besondere sich zu messen hätte, denn die Endlichkeit des Besondern „ist, dass das Besondere derselben dem Allgemeinen gemäß sein kann oder auch nicht.“ (HW 8: 331) Daraus ergibt sich letztlich, dass eine „vollendete Idee“ von etwas bestimmt werden kann als ein „Zustand, in welchem der Begriff sich völlig realisiert hätte und in welchem das Dasein desselben nichts als die Entwicklung seiner selbst wäre“ (HW 7: 92). Dies ist auch die Denkstruktur, welche in 4.2.2 als anthropologischer Maßstab als Grundlage für eine Kritik konkreter Zustände vorgestellt wurde.

Allerdings muss festgestellt werden, dass wir bei dem „Begriff vom Menschen“ nicht sinnvollerweise von diesem Begriff des Typs III ausgehen können. Die menschlichen Charakteristika wie gesellschaftliche Reproduktion, Bewusstsein der Individuen, Möglichkeitsbeziehung, Teilhabebedürfnisse … sind eher einem Begriff I zuzuordnen. Die Unterteilung der menschlichen Entwicklungsgeschichte in aufeinanderfolgende Gesellschaftsformen entspricht dem Begriff II. Wir können, zumindest auf materialistischer Basis, keine Totalität im Sinne des Begriffs III für die Charakteristika des Menschseins oder die menschliche Entwicklungsgeschichte voraussetzen.

Der Vollständigkeit halber sei auch noch angedeutet, wie sich die Kategorien „Wesen“ und „Begriff“ in der Hegelschen Philosophie unterscheiden: Bei der Betrachtung des Wesens wird dessen Erscheinungsform negiert (Erscheinung und Wesen sind ein Gegensatz) und es wird noch nicht die Einheit von Wesen und Erscheinung erfasst. Hier taucht deshalb auch die typische Denkweise auf, wonach die Erscheinung dem Wesen „entfremdet“ sein könnte (vgl. S&M: 121). Die (widersprüchliche) Einheit von Wesen und Erscheinung wird erst im Begriff erfasst. Dabei wird dann begriffen, dass alle besonderen Formen des im Begriff erfassten Allgemeinen dem Allgemeinen zugehörig sind, es sind seine Besonderungen (die nichtsdestotrotz untereinander und mit dem Allgemeinen im Gegensatz stehen können). Und diese Besonderungen folgen notwendig in dieser Vollständigkeit aus dem Allgemeinen (dem Begriff III).

Gesellschaftsformen sind auch besondere Formen der Gesellschaftlichkeit, aber sie ergeben sich nicht notwendigerweise aus einem Begriff des Typs III. Konkret-historische menschlich-gesellschaftliche Lebens- und Produktionsweisen sind besondere Formen menschlicher Lebens- und Produktionsweisen, keine davon ist wirklich „unmenschlich“ oder dem Begriff vom Menschen nicht entsprechend.


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