Dieser Text gehört zum Projekt „Über Utopie und Transformation neu nachdenken“.
Dass eine kategoriale Utopie notwendig sei, um den Horizont der Veränderungen abzustecken, ist Gegenstand der sog. Rahmentheorie im Kapitel 4 des Buches „Kapitalismus aufheben“. Simon und Stefan nennen ihre kategoriale Utopie „Commonismus“ (Kapitel 6, S. 154ff.).
Letztlich soll eine kategoriale Utopie „die freie Gesellschaft heute nicht vorwegnehmen“ (S&M: 101), sondern sie „lotet auf einer begrifflichen Ebene das Menschenmögliche aus“ (ebd.: 99). Das Menschenmögliche soll einerseits einem (von der Gesellschaftsform abstrahierenden) Begriff vom Menschen, wie er schon immer verwirklicht ist, entstammen, andererseits noch nie verwirklicht worden sein.
(siehe zur Vermengung des Begriffs (I) als abstrakter Allgemeinheit mit dem Begriff (III), der sich zur Idee (als vollendeter Begriff, der als Maßstab für Kritik gelten könnte, wenn die Voraussetzung der Vollständigkeit seiner Momente gegeben ist) mehr im Abschnitt 4.2.1).
An den Inhalten werden wir sehen, dass die zweite Variante gemeint ist, da ja die Utopie auch gerade als Maßstab gilt für die Kritik am Gegebenen, am zu Überwindenden (oder nach den Autoren „Aufzuhebenden“), denn „[o]hne die Bestimmung des Ziels ist weder Kritik des Bestehenden noch der Weg zum Gewollten begreifbar“ (ebd.: 17). Nun also zum Ziel von Simon und Stefan, formuliert auf der begrifflichen Ebene.
In der kategorialen Utopie des „Commonismus“ geht es um eine „Gesellschaft, die Menschen nach ihren Bedürfnissen gemeinsam gestalten“ (ebd.: 26). Die eigenen Bedürfnisse werden nicht auf Kosten anderer verwirklicht, sondern es geht darum, „in generalisierter Weise auf den Einschluss aller Menschen in ihrer Besonderheit“ (ebd.: 127) abzuzielen. Das Gemeinsame steht dabei dem Besonderen nicht gegenüber, sondern das Gemeinsame lebt „von der Verschiedenheit des Besonderen“ und verändert sich „immer wieder mit neuen Besonderheiten“. „Inklusion zielt darauf ab, „gemeinsam verschieden zu sein“.“ (ebd.).
4.4.1 Vorläufer
Letztlich gibt es diese Utopie schon seit sehr langen Zeiten, so etwa in der Bibel, wo dieses Verhältnis sogar auf die Tierwelt ausgeweitet ist, „Wolf und Lamm werden beisammen weiden; und der Löwe wird Stroh fressen, wie das Rind…“ (Jesaja 65.25). Es findet sich auch in Hegels Satz, dass die „wahre Freiheit des Individuums“ nicht beschränkt durch andere wird, sondern „die Gemeinschaft der Person mit anderen muß […] als eine Erweiterung derselben angesehen werden“ (HW 2, DFS: 82). Besonders bekannt ist die Formulierung aus dem Kommunistischen Manifest von Marx und Engels, wonach an die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ (MEW 4, Man: 482), tritt. Friedrich Engels formuliert die Aufgabe, „eine solche Lebenslage für alle Menschen zu schaffen, daß ein jeder seine menschliche Natur frei entwickeln, mit seinen Nächsten in einem menschlichen Verhältnisse leben und vor keinen gewaltsamen Erschütterungen seiner Lebenslage sich zu fürchten braucht…“ (Engels MEW 2: 556). Auch in der sozialistischen Utopie von August Bebel ist dies mitgedacht, denn „[i]n der sozialistischen Gesellschaft ist der Gegensatz der Interessen beseitigt. Jeder entwickelt seine Fähigkeiten, um sich zu nützen, und damit nützt er zugleich dem Gemeinwesen“ (Bebel 1878/1954: 464). In der Utopie „Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887“ findet Edward Bellamy ein schönes Bild für die neue Gemeinsamkeit der Menschen: Während in der alten Gesellschaft jeder einzelne „seinen Regenschirm über sich und seine Frau“ hält, „so daß dieser auf die lieben Nächsten abtropft“, verhalten sich die Menschen im utopischen Jahr 2000 ganz anders: sie „schützten alle diese Köpfe mit einem einzigen Regenschirm“ (Bellamy 1887/2008: 86). Eine solche Gemeinsamkeit ergibt sich bei Alexander Bogdanow auch aus den sachlichen Anforderungen der Arbeit: “Existiert man in der Arbeit aber als einzelner, nur für sich? Keineswegs. Würde man einen Arbeiter aus dem großen Miteinander der Millionen Menschen und der Kette von Generationen herausreißen, verwandelte er sich augenblicklich in ein Nichts. […] Alle Ziele, auf die sich die Mühen des Menschen richten, sind bereits so beschaffen, daß sie ein Miteinander von gewaltigen Ausmaßen voraussetzen.“ (Bogdanow 1912/1989: 230).
„Als Arbeiter ist er nur in der Gemeinschaft real, existiert er nur in der tätigen Einheit unzähliger Menschenpersönlichkeiten, lebendiger wie toter.“ (ebd.: 231)
In der Utopie für „2036“ geht Henky Hentschel davon aus, dass alle die Erde liebten und brauchten, d.h. „alle liebten und brauchten die Erde, alle liebten und brauchten sich gegenseitig. Dies wurde der Maßstab für alle weiteren Entscheidungen. Was sich mit dieser doppelten Liebe nicht vertrug, wurde verworfen“ (Hentschel 1977: 16).
Kommentar verfassen