Dieser Text gehört zum Projekt „Über Utopie und Transformation neu nachdenken“.


Freiwilligkeit bezieht sich insbesondere auf den eigenen Beitrag zur Reproduktion der Gesellschaft und der Erzeugung der zum Leben notwendigen Produkte. Dies ist direkt aus der im „Begriff vom Menschen“ verankerten Situation, dass die gesellschaftlichen Handlungsnotwendigkeiten für die Individuen lediglich Handlungsmöglichkeiten darstellen, abgeleitet bzw. ableitbar. Wie anders als durch lediglich individuelle Gründe sollte ein freies Individuum dazu motiviert sein, sich an der gesellschaftlichen Reproduktion zu beteiligen?

In diese individuelle Begründung sollen im Commonismus keinerlei äußeren Zwänge eingehen. Jedes Individuum hat teil an der Versorgung mit nötigen Lebensmitteln und kann individuell darüber entscheiden ob, in welchem Maße und wie es selbst an deren Herstellung* beiträgt. Die Voraussetzung dafür, dass durchschnittlich gesehen sich hoffentlich genügend Menschen in dem notwendigen Maße und in sinnvoller Weise betätigen, wird in den produktiven Bedürfnissen gesehen, die im „Begriff vom Menschen“ verankert sind. In der Utopie von Alexander Bogdanow zeigt sich dies z.B. in folgendem Wortwechsel:
„Gibt es denn kein Geld, keine Zeugnisse über die geleisteten Arbeitsstunden oder Ähnliches? Und keine Arbeitspflicht?“

„Nichts dergleichen. Wir leiden keinen Mangel an Arbeitskräften: Die Arbeit ist das natürliche Bedürfnis eines entwickelten, sozial denkenden Menschen, und jede Art maskierten oder offenen Zwangs ist völlig überflüssig.“ (Bogdanow 1907/1989: 61)

Nichtsdestotrotz müssen die individuellen Beiträge sich natürlich so koordinieren, dass am Ende die für die Teilhabe aller benötigten Produkte hergestellt* worden sind.

„Die Gegenstände, die wir verfertigen, werden gemacht, weil wir sie brauchen; man macht sie ebensogut für seinen Nächsten, als für sich selbst und nicht für einen unbestimmten Markt, von dem man nichts weiß und über den man keine Kontrolle hat. Und da es kein Kaufen und Verkaufen gibt, würde es reiner Unsinn sein, Güter ins Blaue hinein zu verfertigen, auf die bloße Möglichkeit hin, daß sie vielleicht gebraucht werden…“ (Morris 1890/2004: 113)

Diese Koordination soll durch eine Selbstauswahl bei der Zuordnung zu den Tätigkeiten geschehen, die über „Stigmergie“ koordiniert werden. „Ein Prozess ist stigmergisch, wenn eine von einem Agenten begonnene Arbeit (im Griechischen Ergon) ein Zeichen (stigma) hinterlässt, der andere Agenten dazu anregt, diese Arbeit fortzusetzen.“ (Heylighen 2007: 174) In der Utopie „Der rote Planet“ von Alexander Bogdanow wird die Arbeitsaufteilung z.B. über Anzeigetafeln organisiert: „Die Zahlen ändern sich jede Stunde[…],denn im Laufe einer Stunde haben mehrere tausend Menschen den Wunsch geäußert, den Arbeitsplatz zu wechseln. Die Rechenzentrale registriert das, und stündlich werden die Daten elektrisch überallhin weitergeleitet.“ (Bogdanow 1907/1989: 60) Die „Zentrale“ wäre heute eher eine Netzwerkinfrastruktur, aber die Selbstzuordnung war auch damals schon grundlegend (vgl. zu entsprechenden Utopien Schlemm 2018a: 226ff.). Egal, wie sie technisch verwirklicht ist, eine Koordination der Arbeitsteilung ohne persönlichen Zwang, ohne eine „unsichtbare Hand des Marktes“ und ohne zentralisierende Planung wäre grundsätzlich denkbar:

„Eine commonistische Gesellschaft funktioniert nicht über einen gesellschaftlichen Plan, sondern über die Selbstplanung, die Selbstsetzung der Zwecke durch die Menschen. Es ist keine Plangesellschaft, sondern vielmehr eine Selbstorganisationsgesellschaft. Die commonistische Vermittlung – Commoning – plant nicht die Gesellschaft, sondern ermöglicht die Selbstplanung und Selbstorganisation der Menschen.“ (S&M: 175)

Die Hoffnung darauf, dass die freiwillige Selbstauswahl bei den individuellen Arbeitsbeiträgen ausreichend ist, um die gesellschaftlich notwendige Arbeit zu erledigen, und dies unter allen Bedingungen, unterscheidet die kategoriale Utopie des Commonismus von Simon und Stefan durchaus von den allermeisten anderen Utopien, auf die ich (im Abschnitt 4.4.1) verwiesen habe. Natürlich will niemand auf „Zwang“ als unmittelbaren Gegenbegriff von Freiwilligkeit zurückgreifen. Allerdings gingen die damaligen Utopie-Autoren erstens davon aus, dass aufgrund der relativ geringen Arbeitsproduktivität doch ziemlich viele Menschen täglich weit mehr als 8 Stunden wirklich arbeiten müssten und zweitens die ausbeutenden „Schmarotzer“ endlich auch mal arbeiten sollten. Eine freiwillige Bereitschaft zur Arbeit im notwendigen Maß sollte durch Erziehung und Charakterbildung (bei Owen) bzw. menschliche „Veredlung“ (Bogdanow), also die Entstehung eines „Neuen Menschen“, erreicht werden. Bis zu deren Entstehung gibt es in den meisten utopischen Gesellschaften Regelungen, die absichern, dass alle mitarbeiten (vgl. Schlemm 2018a: 224ff.). Nur auf Grundlage einer hohen Arbeitsproduktivität durch Wissenschaft und Technik oder bewusste Genügsamkeit der Bedürfnisse werden in solchen Romanen Zustände vorstellbar, in denen nicht mehr alle Menschen arbeiten müssen.

Simon und Stefan machen sich solche Sorgen nicht. In ihrem „Begriff vom Menschen“ steckt genügend Potential für die Motivation, ausreichend zu arbeiten, und dies nicht erst für „Neue Menschen“:

„Wir tun nicht nur, was uns Spaß macht, sondern wozu wir motiviert sind, auch wenn das Notwendige mühselig sein sollte. Motivation ist eine Abwägung zwischen erwarteter positiver Veränderung und verbundenen Anstrengungen und Risiken.“ (S&M: 163-164)

Als Beispiel nennen sie z.B. die sehr hohe Motivation, „etwa dem Schreien eines Kindes nachzugehen und sich um sein Wohlergehen zu kümmern“ (ebd.: 164). Nun ja, dies mag durchaus funktionieren, solange es nicht 20 Kinder sind, die auf einmal und ständig schreien. Bei dieser Vorstellung sehe ich es als sehr problematisch an, dass dabei sensiblere Menschen sich viel stärker veranlasst sehen, einzugreifen und „harthörige“ Menschen sich eher zurückziehen können – durchaus „auf Kosten“ der Sensiblen, aber eben auf beiden Seiten „freiwillig“. Da zu den Bedürfnissen von Menschen auch die Anerkennung durch andere gehört, ist auch die Gefahr des Gruppendrucks bei einer ungleichen Verinnerlichung von Verantwortung nicht auszuschließen.

Interessant finde ich dazu in einem Blogtext von Brigitte Kratzwald die klare Abwehr dagegen, auch die Arbeitskraft der Menschen als „gemeinsam verwaltete Ressource“ zu betrachten (Kratzwald 2017). Sie unterstellt, dass solch eine Zuordnung bedeutet, dass die Menschen (mit der von ihnen unabtrennbaren Arbeitskraft) wieder fremdbestimmt würden. Sie fordert, dass Individuen „frei entscheiden können, wieviel Arbeitskraft und sonstige Dinge sie in welches Commons einbringen wollen“ und meint: „Die Sichtweise auf Arbeitskraft als gemeinsam genutzte Ressource widerspricht dieser Autonomie.“ Wieso schließt die Ressourcenperspektive Freiwilligkeit aus? Auch der Zugriff auf Ressourcen bedarf des freiwilligen Einverständnisses etwa der Bewohner der Regionen, in denen es Ressourcen gibt. Und genau so, wie alle Beteiligten autonom und in ungewungener, d.h. freiwilliger Weise über die durchaus konfliktträchtige Nutzung anderer knapper Ressourcen verhandeln können, könnten sie dies auch über das Arbeitskräftepotential. Ich glaube, sie müssen es sogar, denn ich z.B. wäre nicht bereit, einen großen Teil meiner Arbeitskraft beizutragen ohne abschätzen zu können, wieviel andere Menschen beitragen, damit das von mir Bearbeitete auch wirklich bis zu einem sinnvollen Ergebnis geführt werden kann. Ich würde also z.B. eine Abschätzung der benötigten Arbeitskraft für ein Projekt, eine Transparenz der tatsächlichen und geplanten Beteiligung anderer Menschen und ähnliches als Grundlage meiner Motivation benötigen. Rein praktisch wird dies sicher nicht bestritten werden. Aber wäre das dann nicht doch so etwas wie eine Abstimmung über die „Ressource Arbeitskraft“? Nur das ermöglicht es mir, mit guten Gründen meine Arbeitskraft beizutragen. Letztlich ist der Einsatz der Arbeitskraft das wesentliche Moment bei allen Arbeits- bzw. Herstellungs*-Prozessen. Wenn dieser Faktor nicht auch der kollektiven Abstimmung unterliegt, er also quasi nicht als „Ressource“ betrachtet wird, ist eine ausgewogene Koordination der Arbeitstätigkeiten kaum denkbar. Vielleicht ist die Bezeichnung „Ressource“ hier wirklich zu eng, stattdessen müsste der Begriff des Commoning von der Bindung an „Ressourcen“ gelöst werden und alle Faktoren beinhalten, die Menschen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse, d.h. in Herstellungs*-Prozessen brauchen. Es gibt keinen Grund, den Einsatz der Arbeitskräfte auszunehmen vom Commoning, für das an anderer Stelle ja auch durchaus klar ist, dass es Konflikte geben wird.

Andere Konfliktpotentiale sprechen Simon und Stefan in ihrem Buch an. Z.B. wird die Frage, wer das Haus mit Meerblick bekommen kann (S&M: 165) immer wieder diskutiert: „Meine Bedürfnisse stehen nicht einfach unvermittelt den Bedürfnissen anderer gegenüber, sondern es stellt sich die Frage: Wie können wir gemeinsam unsere Bedürfnisse am besten befriedigen? Wie können wir die Häuser mit Meerblick möglichst bedürfnisgerecht nutzen? Dies ist die inklusive Reformulierung des Konfliktproblems.“ (ebd.: 165-166) Das Vorhandensein von Inklusionsbedingungen (also Freiwilligkeit auf Basis kollektiver Verfügung) legt Inklusionshandeln zwar nahe „aber Bedürfniskonflikte können nicht automatisch entschieden werden, sondern müssen von den Menschen selbst vermittelt werden. Sie müssen selbst entscheiden, was die Ziele ihrer Re/Produktion sind“ (ebd.: 174). Was allerdings strukturell ausgeschlossen sein soll, ist die Trennung der Individuen von den „verfügbaren materiellen, symbolischen und sozialen Mitteln“ aufgrund einer „abstrakten Regel“ (ebd.: 162). Dass ebenso direkte Gewalt ausgeschlossen sein soll, wird wohl als selbstverständlich vorausgesetzt. Auch solche historischen Vorgänge wie die „Kommendation“, bei der im Feudalismus Freie aufgrund ständiger kriegerischer Bedrohung „frei beschlossen“, den eigenen Besitz an einen Schutzherren zu übergeben, sollen natürlich ausgeschlossen sein, ohne dass das und geeignete Schutzmaßnahmen dagegen genannt werden. In Mediationen, die bei Konflikten notwendig werden, soll die „grundsätzliche Inklusion der Beteiligten nicht aufgehoben“ werden (ebd.: 162). Dass die Inklusion dominiert, soll vor allem durch die „Abwesenheit von Herrschaftsmitteln“ (ebd.) gesichert sein: „Auch die Konfliktlösungs-Commons haben keine Machtmittel, mit denen sie andere Menschen dazu zwingen können, sich ihren Entscheidungen zufügen. Die Konfliktlösung kann nicht durchgesetzt werden, sie muss überzeugen.“ (ebd.: 184) Zu dieser Überzeugungsarbeit gehört auch, dass im Ergebnis jemand vielleicht seinen „Wunsch nach einem Swimmingpool“ nicht mehr so wichtig ansieht, „wenn er im Konflikt mit der Notwendigkeit nach einem Krankenhaus steht“ (188). Hoffentlich sind dann alle Menschen gleich überzeugungsfähig – im real existiert habenden Sozialismus waren durchaus auch einige davon überzeugt, dass soziale Sicherheit für alle wichtiger sei als Mallorca-Reisen für alle Zahlungsfähigen. Die Art, wie solche Mediationen stattfinden könnten, wird z.B. schon bei Wells beschrieben:

„Aber angenommen, es wäre eine Entscheidung, die allgemein befolgt werden muß, zum Beispiel ein Gesetz, welches die öffentliche Gesundheit betrifft? Wer würde es durchsetzen?“
„Warum sollte es durchgesetzt werden müssen? Es würde freiwillig befolgt werden.“
„Aber angenommen, jemand würde sich weigern, es zu befolgen?“
„Wir würden nachforschen, warum der oder die Betreffende nicht unserer Meinung ist. Er könnte irgendeinen besonderen Grund dafür haben.“ (Wells 1923/2004: 70)

In einem utopischen Roman aus DDR-Zeiten („Andymon“) wurde auch schon einmal eine Gemeinschaft durchgespielt, bei der Kinder auf einem Raumschiff ohne belastende Einflüsse der Herkunftsgesellschaft zur individuellen und kollektiven Selbstorganisierung angehalten werden. Es wird dort immer wieder diskutiert, ob allgemeine Gesetze eingeführt werden müssen. „Die weitere Entwicklung hängt doch nicht davon ab, welche Gesetze wir formulieren, sondern davon, wie wir miteinander leben. Wie wir unsere Kinder erziehen. Wenn unter unseren Kindern Liebe und Eintracht herrschen, brauchen wir keine Gesetze – die sind doch etwas Äußerliches“ (Steinmüller 1984: 248).

In etwas idealisierter Weise werden die historischen und gegenwärtigen Commons-Praxen als Vorbild und Ausgangspunkt für eine Ausweitung des Commoning: „Commons zeichnen sich oft durch Freiwilligkeit, Bedürfnisorientierung und Inklusionsdynamiken aus. An diese Commonsforschung schließen wir an und fragen, wie eine ganze Gesellschaft auf Basis von Commoning organisiert werden könnte.“ (S&M: 156)

„Das Commoning ist ein auf Freiwilligkeit und kollektiver Verfügung basierendes soziales Verhältnis, das eine Inklusionslogik hervorbringt und zu Inklusionsbedingungen führt.“ (S&M: 160-161)

Herrschaft einzelner muss dann, so wird gehofft, auch nicht mehr durch eigene Herrschafts- oder Zwangsmittel ausgeschlossen werden: „Unsere zentrale Hypothese ist: Wenn Menschen zu nichts mehr gezwungen werden können und wenn es keine abstrakt-allgemeinen Möglichkeiten mehr gibt, Menschen von etwas auszuschließen, kann sich auch keine Herrschaft mehr ausbilden. Zum einen ist es subjektiv nicht mehr funktional und nicht mehr naheliegend, andere Menschen beherrschen zu wollen. […] Zum anderen gibt es vielerlei Möglichkeiten, sich den Versuchen von Beherrschung zu entziehen.“ (S&M: 189) Dieses Sich-Entziehen-Können ist auch ein wesentliches Element des Konzepts „freier Kooperationen“ von Christoph Spehr (2003/2018). Im aktuellen SF-Roman „Walkaway“ von Cory Doctorow ist das Sich-Entziehen eine wesentliche Strategie derer, die „weggerannt“ sind und weiter ausweichen vor allen anderen, die sich das von ihnen Geschaffene aneignen wollen. „Du kannst das Haus haben, aber nicht uns. Wie entziehen dir unsere Gesellschaft.“ (Doctorow: 2018: 167). Und direkt zum Titel des Buches: „Wir heißen Walkaways, weil wir weggehen. […] Diese Welt ist riesig. Wir können etwas Besseres bauen…“ (ebd.: 166). Dass die Welt als „riesig“ und offen angesehen wird, was für die allermeisten Flüchtenden auf dieser Welt nun wirklich nicht gegeben ist, ist wohl das Utopische an diesem Roman…

Dass es ausreicht, dass Herrschaft unter gesellschaftlichen Inklusionsbedingungen „nicht mehr subjektiv funktional“ sei, bezweifle ich. Dieser Schluss vom psychisch-Individuellen auf gesellschaftliche Verhältnisse ist meines Erachtens ein Kurzschluss, wie er im methodischen Abschnitt 3.1.2 vorgestellt wurde. (die Eigenschaften von H2O erklären sich nicht direkt aus den Eigenschaften von H und O; genau so sind gesellschaftliche Prozesse nicht direkt aus der Summe von begründeten Handlungen von Menschen zu erklären).

Letztlich werden mit dem Versuch, die zwei Prinzipien „Freiwilligkeit“ und „kollektive Verfügung“ als Grundlage für die inklusionslogische Gesellschaft anzusehen, alle Faktoren, die der gewünschten Wirkungsweise dieser Prinzipien entgegenstehen, gedanklich einfach ausgeblendet oder wegdiskutiert, indem wiederum von der idealisierten Funktionsweise der Prinzipien ausgegangenen wird.


Hier gehts weiter.