Gerade die individuelle Möglichkeitsbeziehung verweist also auf die Notwendigkeit eines systemischen Zusammenhangs, eines „in sich funktionsfähige[n] Erhaltungssystem[s]“ (Markard 2009: 162), „durch das die Lebenssicherung des Einzelnen vermittelt ist“ (ebd.: 86). Solche „in sich funktionsfähigen Systeme“ sind auch Gegenstand von System- und Selbstorganisationstheorien. Dort wird von ihrem sachlichen Inhalt abstrahiert und allgemeine Zusammenhänge für solche Systeme erkundet. Es wäre unangemessen, direkt aus der dort vorliegenden abstrakten Sphäre direkte Schlüsse auf konkrete inhaltlich bestimmte Systeme, wie z.B. das gesellschaftliche zu ziehen (vgl. Bühl 1987), aber heuristische Hinweise können auf jeden Fall entnommen werden. Was könnte aus diesen Theorien für unser Thema interessant sein?

Zunächst einmal wird davon ausgegangen, dass Systeme „höherer“ Ordnung jeweils auf Grundlage der Bewegung von Elementen der „niederen“ Systeme entstehen, wobei „Hö-herentwicklung“ mit wachsendem Komplexitätsgrad verbunden ist und damit, dass jeweils „niedere“ Systeme ohne die „höheren“ existieren können, aber nicht umgekehrt.

Die Existenzweise „höherer“ Systeme ist ein Prozess der ständigen Selbstreproduktion seiner Teile (für „Selbstorganisation“) und der Grenze nach außen (für autopoietische System). Die jeweils „höhere“ Systemform kann nur aufrechterhalten werden, wenn freie Energie importiert wird und Entropie exportiert wird.

Im Bereich der Physik und Chemie ist Selbstorganisation in Bereichen möglich, für die die eben genannten Bedingungen gegeben sind. In diesen Bereichen können geordnete Bewegungs- oder Farbwechsel entstehen. Mathematisch können solche Strukturentstehungsprozesse als zelluläre Automaten simuliert werden. Hier gibt es bereits einen Übergang zum Bereich der Biologie, nicht umsonst gelten zelluläre Automaten als Simulation von einfachsten Lebensfunktionen. Was kommt jedoch für biologische Formen der Selbstorganisation noch hinzu? Die Systeme müssen ihre eigenen Ränder (Membranen) erzeugen (vgl. Teubner 1990: 238). Das heißt, sie erzeugen eine „Austausch- und Filterzone, die in ihrem Selektionsmuster und ihrem Durchsatz vom System selbst bestimmt wird“ (Bühl 1987: 226). Wenn als äußere Bedingungen Nährstoffe (mit entsprechenden Energien) vorhanden sind, erzeugen die lebendigen Systeme sich selbst. Dies gelingt durch die Weiterentwicklung der schon in der Chemie wirksamen Autokatalyse durch Hyperzyklen, wobei eine Generationenfolge möglich wird, bei der „Information für die Organisation“ (Jantsch 1988: 153) weiter gegeben wird.


(vereinfachte Darstellung des Eigenschen Hyperzyklus)

Außerdem ermöglichen hyperzyklische Strukturen die Autonomie der durch sie gebildeten Systeme (vgl. Teubner 1990: 232), d.h. eine „von außen nicht zu steuernde Selbstbestimmung“ (ebd.: 234). Demnach lässt sich die „Abgehobenheit der Organisation gegenüber ihrem Personenbestand“ durch die „hyperzyklische Verkettung von Systemkomponenten erklären“ (ebd.: 233), d.h. die „zyklische Querverbindung zwischen verschiedenen Systemkomponenten“ (ebd.: 241). Die Produktion dieser Systemkomponenten wird „dadurch umweltunabhängiger“ und stabiler, „da sie sich wechselseitig die Bedingung ihrer Produktion garantieren“ (ebd.: 242). Dies ist schon etwas konkreter und spezifischer als ein bloß allgemeiner Verweis auf „Emergenz“.

Eine „Gruppe“ unterscheidet sich von einer Menge gleichzeitig anwesender und miteinander agierender Menschen dadurch, dass sie durch eine Vereinbarung so etwas wie eine Mitgliedschaft bestimmen. Wenn diese Grenze der Mitgliedschaft gilt, so konstituiert sich das „System“ Gruppe“ auch ohne die gleichzeitige Anwesenheit aller Mitglieder (ebd.: 252). Neben der Selbsterzeugung der Grenze können sich auch die Komponenten selbst in ihrer Identität als „Komponenten der Gruppe“ konstituieren. Eine solche Gruppe mit Komponenten- und Grenzselbsterzeugung ist aber relativ instabil und abhängig von der Aufrechterhaltung dieser Selbsterzeugungen (d.h. von der Fluktuation ihrer Mitglieder). Mehr Stabilität erhält sie durch eine Formalisierung, was abstrakt als Hyperzyklusbildung beschrieben werden kann. Es werden „zwischen Grenze und Struktur sowie zwischen Element und Identität hyperzyklische Verknüpfungen aufgebaut“ (ebd.: 253).


(Hyperzyklus einer formalen Organisation: Die Organisation selbst und nicht die Umwelt kontrolliert die Mitgliedschaft, d.h. die Mitglieder können ausgewechselt sein und die Struktur kann geändert werden)

Als Hyperzyklus kann ein System durchaus alle seine Komponenten und auch seine konkrete Struktur verändern, ohne seine Identität zu verlieren. Ein solches System wird auch „autopoietisch“ genannt.

Diese Organisationsform gilt nicht nur für die Gesamtgesellschaft, sondern auch andere „Körperschaften“ oder „Institutionen“ (Herrmann-Pillath 2002: 268ff.), die sich selbst gegenüber Teilnehmerwechseln und Strukturänderungen stabil erhalten. Aber auch für die Gesamtgesellschaft ist diese Art verkoppelter Selbstreproduktionszyklen anwendbar. Hier darf nicht die Selbstreproduktion der Individuen als Teilzyklen betrachtet werden, sondern die miteinander zyklich verkoppelten Teilmomente der Gesellschaft, wie Institutionen und Organisationen (vgl. Mandelbaum 1975: 208ff.).

Eine mathematische Simulation von
autopoietischen Prozessen stellt Zeleny (1977) vor.

Damit sich das System stabil selbst reproduzieren kann, müssen die Energie- und Materialflüsse jedoch gut aufeinander abgestimmt sein. Außerdem muss solch ein System die Balance finden zwischen genügend großer Variabilität (um Anpassungsfähigkeit zu erreichen) und genügend großer Stabilität (Bühl 1987: 13). Für gesellschaftliche bzw. ökologische Systeme ist hierfür eine sog. lose Kopplung sinnvoll. D.h., daß nur wenige Variablen stark bzw. daß sehr viele Variablen schwach miteinander verbunden sind“ (ebd.: 18). D.h. es gibt Subsysteme mit engerer Verknüpfung ihrer Komponenten, die untereinander verbunden sind. Das System läuft dann immer noch nicht „von selbst“, sondern bedarf einer „Selbststeuerung“ mit „primitiven Voraussetzungen der Input-Output-Kontrolle, der internen Nutzen-Kosten-Abstimmung, der Zielkontrolle und einer wenigstens negativen Rückkopplung“ (ebd.: 24).

Die bisher besprochen systemtheoretischen Strukturen gehören zur sog. „Kybernetik II“, die bei der Betrachtung von Gesellschaften auf jeden Fall noch durch die „Kybernetik III“ (zielsuchende Systeme) und „Kybernetik IV“ (Kontrolle der Organisationsziele und – struktur durch die Akteure) ergänzt werden müssen (vgl. Bühl 1987: 20). Für diese „höheren“ Formen der Systeme ist die Funktionalität der „niederen“ Formen wie die eben geschilderten jedoch eine Voraussetzung.

Für alle quantifizierten Betrachtungen gilt, dass sie von dialektischen Widersprüchen als „Motor“ der Prozesse abstrahieren ( vgl. Schlemm 2006). Deshalb kann die „reale Entwicklung der Produktivkräfte und des materiellen Reichtums […] auf der quantitativ-mathematischen Oberfläche […] überhaupt nicht erfaßt“ (vgl. Leiser 1978: 169) werden.

Hier müsste es jetzt mit Ausführungen zum Problemkomplex „Handlung und Struktur“ weiter gehen, dazu komme ich jetzt aber nicht…


Literatur:

Berger, Johannes (1977): Handlung und Struktur in der soziologischen Theorie. In: Das Argument 101/1977, S. 56-66.

Bühl, Walter L. (1987): Grenzen der Autopoiesis. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Nr. 29, 1987, pp. 225-254.

Holzkamp, Klaus (1977a/2015): Kann es im Rahmen der marxistischen Theorie eine Kritische Psychologie geben? In: Klaus Holzkamp: Schriften VI. Hamburg: Argument Verlag 2015. S. 214-241.

Herrmann-Pillath (2002): Grundriß der Evolutionsökonomik. München: Wilhelm Fink Verlag.

Holzkamp, Klaus (1988): Die Entwicklung der Kritischen Psychologie zur Subjektwissenschaft. In: Klaus Holzkamp: Schriften I. Normierung. Ausgrenzung. Widerstand. Hamburg: Argument-Verlag. 1997. S. 19-39.

Jantsch, Erich (1988): Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

Leiser, Eckart (1978): Widerspiegelungscharakter von Logik und Mathematik. Frankfurt am Main: Campus.

Mandelbaum, Maurice (1975): Gesellschaftliche Tatsachen (Societal facts). In: Jürgen Ritsert (Hrsg): Gründe und Ursachen gesellschaftlichen Handelns. Frankfurt, New York: Campus. S. 196-214.

Markard, Morus (2009): Einführung in die Kritische Psychologie. Hamburg: Argument Verlag.

Schlemm, Annette (2006): Ersetzt Selbstorganisationsdenken die Dialektik? In: Vorschein Nr. 25/26. Jahrbuch 2004/2005 der Ernst-Bloch-Assoziation (Hrsg. Doris Zeilinger). Nürnberg: Antogo-Verlag. S. 127-158.

Teubner, Gunther (1990): Hyperzyklus in Recht und Organisation. Zum Verhältnis von Selbstbeobachtung, Selbstkonstitution und Autopoiese. In: Wolfgang Krohn, Günter Küppers (Hrsg.): Selbstorganisation. Aspekte einer wissenschaftlichen Revolution. Braunschweig/ Wiesbaden: Vieweg & Sohn. S. 231-263.

Zeleny, Milan (1977): Self-Organization of living systems: A formal model of autopoiesis. Int. J. General Systems, 1977, Vol. 4, pp. 13-28.