Dieser Text gehört zum Projekt „Über Utopie und Transformation neu nachdenken“.


5.1. Aufhebungstheorie

Das gerade vorgestellte kategorial-utopische Ziel soll durch eine aufhebende Transformation aus dem jetzigen Zustand heraus  erreicht werden. Kategorial-utopisch wurden Bedingungen des Commonismus genannt, die dann verwirklicht sein sollen: Freiwilligkeit und kollektive Verfügung, wie sie auch im idealisierten Commonsbegriff enthalten sind. Aus der Möglichkeit, wie sie erst einmal unabhängig von konkret-historischen Bedingungen entwickelt wurde, soll eine konkret-historische Wirklichkeit nach dem Kapitalismus werden.

Rahmentheoretisch bestimmen Simon und Stefan ihre „Aufhebungstheorie“ im Kapitel 3. ihres Buches „Kapitalismus aufheben“. Die Richtung der Aufhebung ist durch Emanzipation (als Aufhebung der Herrschaft) und durch die Erweiterung/Verallgemeinerung der Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen bestimmt (S&M: 82ff.). Bei der „Aufhebung“ des Kapitalismus müssen sich demnach Veränderungen auf drei Ebenen verbinden: der individuellen, der kollektiven und der gesellschaftlichen (ebd.: 84).

Unklares Verhältnis von Interpersonalität und Gesellschaftlichkeit

Etwas unklar bleibt das Verhältnis von Interpersonalität und Gesellschaftlichkeit. Erst heißt es: „Wir können Emanzipation nicht interpersonal vorwegnehmen“ (ebd.: 86), kurz darauf wird festgestellt: „Das Herstellen* der Lebensbedingungen geschieht in kollektiven, interpersonalen Zusammenhängen.“ (ebd.) Die „Gesellschaft“ wird im zweiten Zitat eher direkt als „menschlicher Kooperationszusammenhang“ gedacht (vgl. ebd.: 27), im ersten Zitat dann doch als davon noch einmal zu unterscheidender „Rahmen“ (ebd.: 22) bzw. als „Systemform“ des Handelns (ebd.: 134). Wenn auf S. 138 die „Systemform“ als „Summe der Handlungen“ betrachtet wird, so werden die emergenten Merkmale eines Systems gegenüber seinen Elementen vernachlässigt. Wahrscheinlich ist diese Betrachtungsweise auch der Grund für die in 3.2. konstatierte fehlende Gesellschaftstheorie.

Bei der Bestimmung des Ausgangspunktes der Transformation, des Kapitalismus, wurde auf die Analyse von Klassenpositionen und -interessen verzichtet (siehe 3.2.2). Das Hauptmerkmal des Kapitalismus wird darin gesehen, dass die Produzenten nur als voneinander getrennte Privatproduzenten produzieren und nicht von vornherein in gesellschaftlicher Kooperation. Die Aufhebung orientiert sich deshalb auch nur auf die Aufhebung der privaten Produktionsweise in eine gesellschaftlich-kooperative Produktionsweise. Es geht damit unmittelbar um Verhältnisse zwischen Individuen und den von ihnen in ihrem Handeln konstituierten gesellschaftlichen Verhältnisse. Damit wird auf eine „Zwischenschicht“ verzichtet, die für das Denken und Handeln von Menschen im Marxismus bisher ausschlaggebend war: die Klassenzugehörigkeit. Dies lässt eine Lücke dort, wo es darum ginge, von den Menschen her die gesellschaftlichen Bedingungen verändern zu können. Einzelne Menschen können nichts ausrichten – deshalb orientierte Klaus Holzkamp noch auf „gesellschaftliche Subjekte“:

 „Nur gesellschaftliche Subjekte können […] jene „historische“ Größenordnung der Wirksamkeit erlangen, mit der tatsächlich eine bewusste Veränderung gesellschaftlicher Lebensbedingungen möglich ist. Demgemäß können die individuellen Subjekte stets nur in dem Maße Einfluss auf ihre eigenen relevanten Lebensbedingungen, die ja immer gesellschaftliche Lebensbedingungen sind, gewinnen, wie sie als Gruppen oder Klassen in gleicher kollektiver Lage als gesellschaftlichen Subjekten mit historisch bestimmendem Einfluss zugehören und somit im Beitrag zur bewussten gesellschaftlichen Realitätskontrolle auch die Kontrolle über ihre eigenen  Daseinsumstände erhalten.“ (Holzkamp 1977/2015: 226-227)

Die Frage nach gesellschaftlichen Subjekten sollte durchaus neu gestellt werden, wenn es um die Veränderung der Gesellschaft geht. Dabei muss auch das Verhältnis der gesellschaftlichen Subjekte, die sich heute in verschiedenen sozialen und ökologischen Bewegungen konstituieren zu den individuellen Subjekten neu bestimmt werden, damit die individuelle Subjektivität nicht wieder untergeht, wie in vielen traditionellen Bewegungen und Parteien.

Fehlende Gesellschaftstheorie

Das Fehlen einer differenzierten Gesellschaftstheorie und entsprechender Begriffe und Konzepte macht sich nun bei der Frage nach möglichen Transformationen bemerkbar. Deshalb gibt es keine Begriffe für jene Faktoren, die wichtig bzw. ausschlaggebend bei einer gesellschaftlichen Transformation sind. Weder die Beziehung von Klassen bzw. Bewegungen untereinander, noch die Dynamik zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen können thematisiert werden, weil die Begriffe fehlen. Auch der Begriff der „ökonomischen Gesellschaftsformation“ (mit den entsprechenden Zusammenhängen zu außerökonomischen Faktoren) wird vage ersetzt durch den Verweis auf „Gesellschaftsformen“ (ebd.: 34f.), was mögliche weitere Inhalte des Begriffs „Formation“ negiert. Die Gesellschaftsformation ist nicht nur eine beliebige Form, sondern eine, bei der es einen „innern Zusammenhang“ (MEW 23: 95) gibt, bei dem eine „Einheit von Werden und Gewordensein als tendenziell „gerichteter“, durch Entstehung, Entfaltung und relativ stabile Reproduktion des Grundverhältnisses der betreffenden Formation bestimmter Prozess“ (Küttler 1978: 730) vorliegt. Die Gesellschaftsformation ist ein Begriff, mit dem der sich selbst reproduzierende Charakter von Gesellschaftsstrukturen betont wird, wobei das Handeln der Menschen sich innerhalb von Widersprüchen vollzieht, die für diese Gesellschaften selbst als für sie spezifische „Widersprüche der Bewegung“ gelten können. Systemtheoretisch gesprochen bildet diese Struktur einen „Attraktor“, der von den Individuen nicht willkürlich verlassen werden kann.

Gesellschaftsformationen sind damit „relativ stabile gesellschaftliche Organismen, die ihre Stabilität gerade dadurch erhalten, daß in ihrem Inneren bestimmte Reproduktionsprozesse ablaufen, die durch ein grundsätzliches ökonomisches Verhältnis bestimmt werden (Pasemann 1978: 224) und einen  spezifischen Vermittlungszusammenhang zwischen menschlicher und außermenschlicher Natur (Tjaden 1977: 9) darstellen. Eine Formation ist mehr als eine Form, sie ist durch stabilisierende wesentliche Zusammenhänge gekennzeichnet, die sich innerhalb der Einheit selbst reproduzieren. Aufgrund der Tatsache, dass sie (in geringerem oder höherem Maße und auf jeweils spezifische Weise) ihre Stabilität durch innere, sich selbst reproduzierende Zusammenhänge, erreichen, muss der Versuch der Aufhebung jeweils auf genau jene stabilisierenden Zusammenhänge zielen und nicht nur irgendeine Formveränderung anstreben.

Auch wenn einfach die Form-Bezeichnung verwendet wird, wäre genauer zu spezifizieren, WOVON es die Formen sind. Simon und Stefan bestimmen „Gesellschaft“ als „transpersonales Kooperationssystem“ (S&S: 24), wobei die „Form einer Gesellschaft […] durch die Art ihrer Vermittlung“ bestimmt sein soll (ebd.: 25). Hier fehlt wiederum eine gesellschaftstheoretische Spezifizierung dessen, was vermittelt wird und zwischen wem oder was vermittelt wird. Wenn wir uns z.B. Marxsche Überlegungen zu Übergängen zwischen Gesellschaftsformationen anschauen, so finden wir hier die Faktoren Arbeitsmittel („Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterschiedet die ökonomischen Epochen.“ (MEW 23: 195)), die damit zusammenhängenden Formen der Arbeitsteilung sowie die Eigentumsformen (MEW 3: 22) und letztlich die „besondre Art und Weise, worin diese Verbindung“ „zwischen Arbeiter und Produktionsmittel“ „bewerkstelligt wird“ (MEW 24: 42). Als weiteres Unterscheidungsmerkmal  innerhalb der Klassengesellschaften kann die jeweilige Form der der Mehrwert-Enteignung (MEW 23: 183) gelten. All dies ist mit dem abstrakten Wort der „Vermittlung“ ohne eine genauere Gesellschaftstheorie nicht mehr thematisierbar. Verloren geht mit dieser Abstraktheit die Bindung aller gesellschaftlichen (Vermittlungs-)Verhältnisse an die jeweils konkret-historischen Bedingungen, speziell diejenigen der Re-/Produktion. Es verändern sich nicht nur irgendwelche Vermittlungen, sondern die Re-/Produktion wird mit unterschiedlichen Arbeitsmitteln, mit unterschiedlichen Arbeitsteilungen, auf der Grundlage anderer Eigentumsverhältnisse (im Sinne von Verhältnissen zwischen Menschen in Bezug auf die Lebens- und Re-/Produktionsbedingungen) durchgeführt und genau diese verändern sich bei den qualitativen Übergängen.