200 Jahre nach seiner Geburt wurde auf einer Tagung vom 19.-21. Februar auch in seiner Heimatstadt gefragt, wie aktuell Friedrich Engels heute noch ist. Ich war für die Marx-Engels-Stiftung mit dort. Nachdem wir von unserer nahe gelegenen Pension zur „Burg“ der (wirklich!) Bergischen Universität Wuppertal gestiegen waren, begrüßte uns erst einmal gähnende Leere im Gelände. Vor dem Hörsaal trafen wir erste Menschengrüppchen und bei der Eröffnung des Kongresses waren dann auch viele der 150 angemeldeten TeilnehmerInnen versammelt. Auf den ersten Blick fiel auf, dass die Veranstaltung wahrhaft international war (lediglich chinesische Teilnehmer waren wegen dem Corona-Virus nicht persönlich anwesend).

Die Begrüßung durch den Oberbürgermeister der Stadt Wuppertal, Andreas Mucke, geriet nicht nur formell, sondern war für mich erstaunlich engagiert. Die Würdigung Engels und die Abgrenzung gegenüber „späteren Marxismen“, für die dieser nicht verantwortlich zu machen sei, fehlten natürlich nicht.

Wolfgang Streeck beschäftigte sich mit dem „Auseinandertreten der gesellschaftlichen Produktionsweise und der gesellschaftlichen Vernichtungsweise“. Der Staat mit seiner Verfügung über die Vernichtungsmittel hat damit nicht mehr nur die Rolle des „Überbaus“. Dass der Klassenkampf schon lange nicht mehr wirklich als Klassenkrieg stattfinden kann, verdeutlichte die „Kill ratio“, d.h. das Verhältnis von Toten auf Seiten der herrschenden Kräfte zu denen auf Seiten von Aufständischen/bzw. Feinden:

  • Pariser Commune (1871): 1: 30
  • Vietnamkrieg (1956 – 1975): 1:50…1:100.
  • Operation Cast Lead (Isrealische Streitkräfte gegen Hamas im Gaza-Streifen) (2008-2009): 1: 233.

Engels hatte 1887 ziemlich genau erkannt, dass ein Weltkrieg droht. Damals zog er daraus sogar noch so etwas wie Hoffnung:

„Und wenn Ihnen nichts andres mehr übrigbleibt, als den letzten großen Kriegstanz zu beginnen -, uns kann es recht sein. Der Krieg mag uns vielleicht momentan in den Hintergrund drängen, mag uns manche schon eroberte Position entreißen. Aber wenn Sie die Mächte entfesselt haben, die Sie dann nicht wieder werden bändigen können, so mag es gehn wie es will: am Schluß der Tragödie sind Sie ruiniert und ist der Sieg des Proletariats entweder schon errungen oder doch unvermeidlich.“ (MEW 21: 351)

Später erkannte er jedoch, dass mit dem Aufkommen von Nationalismus die Gefahr des Staatenkrieges dem Klassenkrieg im Weg stehen könnte. Für die Menschen erschien die Verteidigung der Produktionsmittel wichtiger als die Verteilung der Produktionsmittel. (Formulierungen von Streeck)

Einige andere Beiträge schienen mir eher ein „Verriss“ von Engels zu sein als eine Würdigung. Ein feministischer Beitrag (Carol Gould) meinte, die Dialektik wäre „maskulisierend“; das begründete sie vor allem mit der „antagonistischen Form der Argumentation“ und der Betonung von Antagonismen in der Geschichte. Demgegenüber würde eine feministische Dialektik nicht nur das Falsche zurückweisen, sondern Teile des Alten würden in transformierter Form enthalten bleiben. Statt zurückweisender Kritik würde sie durch „generous critique“ gekennzeichnet sein. Nun ja, ich weiß nicht, welche Dialektik sie kennt, aber sicher nicht die Hegelsche (auf der Marx und Engels, in welcher Weise auch immer, aufbauten).

Gesellschaftspolitisch sprach sie sich dafür aus, „Care ins Allgemeine zu übertragen“, Shared ends, solidarity, reciprocity… und darauf bezogene, nicht nur instrumentelle Kooperation.

Sehr gut gefiel mir der Beitrag von Tom Rojek über die „Aktualität von Engels wissenschaftstheoretischen Reflexionen“. Da er seinen Text viel zu schnell vorlesend herunterratterte, werde ich wohl nicht umhin kommen, mir die Veröffentlichung dazu zu besorgen. Inhaltlich gaben für mich nur wenige Beiträge Anlass zu einer solchen weiteren Beschäftigung. Zu den Highlights gehörte auch der (frei gehaltene) Beitrag von Martin Küpper über „Die Zukunft des Materialismus im Lichte der Dialektik der Natur“. Trotzdem denke ich auch, dass, wie ein Diskutant am Ende des Vortrags vermerkte, eine genauere Einarbeitung des Themas „Arbeit“ weiterführend sein kann (siehe auch hier).

Ebenfalls sehr inhaltsreich und interessant war der Vortrag von Smail  Rapic mit der Frage „War Engels dialektischer Materialist?“. Hier blieb mir nur unverständlich, warum er am Schluss ausgerechnet bei Habermas und Apel landet und bei diesen dann die Dialektik nachträglich einarbeiten will (was dabei rauskommen kann, hat er leider nicht mitgeteilt).

Wenn man nur Vorträge hört über Themen, die man schon kennt, kann man sich meistens nur ärgern und nicht mehr so viel dazu lernen. Anders war es für mich bei einer Literaturanalyse über die „diskursive  Modellierung sozialer Unterschichten in Literatur und theoretischen Schrifttum des Vormärz“ von Wolfgang Lukas. Innerhalb nur weniger Jahre erschienen einige Romane, in denen die „Unterschicht“ eine Rolle spielte. Die AutorInnen (auch Louise Otto-Peters gehörte dazu) schildern die Unterschichten als „roh und ungesittet“, ihre darstellungswürdigen ProtagonistInnen erweisen sich dann meist doch als illegitime Kinder der Adligen. Wenn Engels schreibt: „Es sind zwei ganz verschiedene Völker, so verschieden, wie sie der Unterschied der Rassen nur machen kann“ (Quelle nicht mitgeschrieben), so sei das eindeutig als Metapher erkennbar, während es bei den genannten Autoren eher eine „ethnologische Perspektive auf das radikal Andere“ sei. Bei ihnen liege eine „implizite Ontologisierung der Schichtdifferenzierung“ vor, die die Klasse zur Rasse mache. Insgesamt wird in den Romanen der Klassenkonflikt auch personalisiert und psychologisiert.

Micha Brumlik sprach über den „deutsche[n] Bauerkrieg und Thomas Müntzer bei Friedrich Engels und Ernst Bloch“. Vor allem Ernst Bloch hatte erkannt, dass die „ökonomische Begierde nicht die einzigste“ sei, sondern vor allem in „religiös bewegten Zeiten“ ganz andere Motive wirkmächtig werden. Nach Bloch konnte Marx allein auf materialistischer  Grundlage (mit tendenziellem Fall der Profitrate oder Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen) die Notwendigkeit der Revolution kaum nachweisen – Bloch dagegen brachte „eine anthropologische Komponente“ hinein, nämlich die „Sehnsucht nach Freiheit und dem Paradies“. Nach diesem Vortrag wurde kritisiert, dass sich Engels und Bloch nicht wirklich auf umfassende historische Studien bezogen hätten und für sie – sowie Brumlik, der sich auf sie stützte, der Bauernkrieg nur noch als „Chiffre für das, was man sagen will“ gegolten habe.

Inhaltlich kam der internationale Charakter dieses Engels-Kongresses für mich vor allem durch Prabhat Patnaik herein, der über die Notwendigkeit des externen Marktes für den Kapitalismus sprach.

Wie fast immer waren aber auch die (viel zu kurzen) Pausen mit mehreren Gesprächen inspirierend. Ich traf mehrere Freunde von der Ernst-Bloch-Assoziation, die im November ebenfalls in Wuppertal eine Tagung durchführen wird. K., der mich aus dem Internet kannte, empfahl mir, mich mit dem vielgeschmähten aber schmählich missverstandenen Friedrich Heinrich Jacobi zu beschäftigen. Aus einem von ihm geborgten Buch (von B. Sandkaulen) las ich dann in einer Veranstaltungspause und exzerpierte drei Kapitel. Und auch das „Zitat des Kongresses“ kam für mich nicht vom Referentenpult, sondern das flüsterte mir ein Bekannter zu: „Engels hat in der Welt gestanden – Marx hat auf Büchern gesessen.“ 😉