Vieles ändert sich in der Gesellschaft, bisher Unvorstellbares wird gefordert und meist auch eingehalten. Sachlich sind z.B die Abstandsregeln sicher sinnvoll. Gleichzeitig ist es auch vernünftig, die derzeitigen jetztigen staatlichen Regelungen nicht nur auf ihre sachliche Angemessenheit hin zu hinterfragen. Denn sie beinhalten Richtungswechsel im Diskurs, in der Funktionsweise der bürgerlichen Demokratie und mit den finanziellen Hilfen werden auch entscheidende wirtschaftspolitische Weichen gestellt. Die Frage ist, wie diese gesellschaftlichen Veränderungen einzuschätzen sind. Damit verbunden ist die Befürchtung, dass gerade einschränkende und kontrollierende Maßnahmen auch nach der Pandemie weiter aufrecht erhalten werden oder dass demnächst bei weniger gravierenden Problemen schneller auf sie zurück gegriffen wird.
Ich sammle hier mal einige der Punkte, bei denen sich über die Pandemie hinausgehende Änderungen ergeben:
- Neues Infektionsschutzgesetz (Parlament soll die Notlage feststellen, zeitliche Begrenzung auf 1 Jahr, neue Möglichkeiten für de Bund, über die Länderregelungen hinaus…; die jetzige Pandemie soll ausgewertet werden, um dann neue Regelungen zu erarbeiten) (Pläne zur nichtfreiwilligen Nutzung der Handyortung wurden nach Widersprüchen zurückgezogen). (Zu den Nachbesserungen gegenüber insgesamt bedenklichen ersten Vorschlägen)
- Gesetzesplan für Änderung des Insolvenzrechts, Gefahr der „Zombie-Wirtschaft“
- …
Und hier nun einiges, worauf von vornherein kritisch verwiesen werden muss:
- Der Staat testet den Ausnahmezustand und wie weit er gehen kann… (zitiert wird Uwe Volkmann: „Das frühere Ausnahmerecht“ sei „mehr und mehr in das Recht der Normallage hineingeholt worden und in diese eingewandert.“)
- In anderen Ländern gibt es inzwischen gewaltsame Übergriffe von Einsatzkräften wie in Südafrika, …
- Auch die Einhaltung der Entfernungsregeln, sowie das Tragen von Mundschutz reichten nicht aus, dass ca. 500 Menschen in Frankfurt auf die unhaltbaren Zustände in den Flüchtlingslagern am Rande der EU aufmerksam machen konnten. Die Polizei griff „unverhältnismäßig“ ein… Nach einem jw-Bericht kam es zu Körperkontakt nur durch das Wegtragen von Demonstrierenden durch PolizistInnen, die keinen Mundschutz trugen und auch die Abstandsregeln nicht einhielten.
- Es wird an vielen Stellen deutlicher, dass auch Corona nicht „alle Menschen gleich“ macht. Obdachlose, Sinti und Roma und andere sowieso schon benachteiligte Menschen (z.B. im Pariser Norden) leiden übermäßig unter den Erkrankungsrisiken wie auch den Ausgangsrestriktionen sowie geschlossenen Hilfseinrichtungen.
- Dem Gesundheitswesen wird ein finanzieller „Schutzschirm“ versprochen; die Fallpauschalen laufen jedoch auch in dieser Krisensituation weiter und behindern die Vorbereitung auf Corona-Fälle in den Kliniken und eine Finanzierung nach Bedarf.
- Sozialisierung der Verluste von Privatunternehmen, z.B. bei den Bahngesellschaften in GB
- Eine Art „Zuteilungswirtschaft“ entsteht – so priorisiert Amazon die Lieferung von Medizinartikeln und Produkten des täglichen Bedarfs. Die profitorientierte Privatwirtschaft entfaltet dadurch eine bisher nicht bekannte Entscheidungsmacht.
- Google liefert die Daten, die in Deutschland aus Datenschutzgründen offiziell (noch?) nicht per Handy-Auswertung eingeholt werden können.
- Vor Gruppen, „die die Ausnahmesituation ausnutzen könnten“, wird gewarnt. Gemeint sind damit u.a. sog. „Prepper“, die sich auf den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung vorbereiten oder sich ihn geradezu wünschen.
- Dass Corona und Klimaschutz gegeneinander ausgespielt werden, wird sichtbar an der Forderung eines Vertreters der Landesbank Baden-Württemberg, für die EU die Klimaschutzziele neu zu diskutieren.
Vielleicht gibts aus den Erfahrungen der „Stunden des Wir“ auch positive Entwicklungen: „Das Virus macht denkbar, was unmöglich schien. Die Chance muss ergriffen werden“ schreibt Ingar Solty im ND über folgende Aspekte:
- Produzentenstolz – für Arbeitende jener Bereiche, die sich als menschenlebenrelevant erweisen. „Wer systemrelevant ist, sollte besser bezahlt werden!“ (Annette: Warum nur jene? Und: Geht es nur um Bezahlung?)
- Solidarität: vom gemeinsamen Balkonsingen bis zur Sammlung von Lebensmitteln für Obdachlose (Warum gibt es überhaupt Obdachlose? Hätten nicht genügend Leute auch Wohnraum übrig bzw. müsste nicht der soziale Wohnungsbau wenigstens endlich vorangetrieben werden)?
- Umverteilung: Zitiert wird aus dem „Economist“: „Wenn die kapitalistischen Staaten grenzenlos Geld ausgeben können, um die Coronavirus-Pandemie zu bekämpfen, dann werden die Menschen fragen, warum Regierungen das nicht unter anderem auch tun können, um in einen Green New Deal zu investieren?“ (nochmal: Es sollte nicht ums Geld gehen, sondern qualitative Umstrukturierungen: Was wird eigentlich warum in welcher Menge produziert?)
- Relokalisierung: die Produktion wird teilweise in eine Art „Kriegswirtschaft“ in die Nationen zurückverlagert. Das böte, so Solty, „die Chance auf eine langfristige Relokalisierung von Produktion, die etwa auch klimapolitisch geboten ist“.
- Bedürfnisorientierte Produktion (das müsste vor allem anderen stehen).
Wichtig der letzte Satz: „Fiskalische Expansion, Wirtschaftsplanung und Industriekonversion werden aber nicht anhaltend sein und nicht dauerhaft ineine Wirtschaft umfunktioniert werden, die den Interessen der vielen und nicht der wenigen dient sowie dem Schutz des Planeten und nicht der Profite, wenn niemand mit Macht darauf drängt.“ Denn gegen die genannte Chancen stehen zuallererst die oben genannten gefährlichen Trends.
Noch etwas radikaler ist Helmut Dunkhase, der vorschlägt, so etwas wie einen „Kollateralnutzen“ daraus zu ziehen, dass die Corona-krise die Unfähigkeit des Kapitalismus an lebenswichtigen Stellen konkret zeigt. Es komme darauf an, „nicht nur die Unfähigkeit der herrschendenKlasse anzuprangern, sondern auf die Notwendigkeit einer Planung von Produktion und Verteilung der gesellschaftlichen Arbeit zu pochen“.
Mehr zu Covid-19 (Corona) im Philosophenstübchen
Kommentar verfassen