Der folgende Text wurde von Rüdiger Lutz in seinem 1988 herausgegebenen Sammelband „Pläne für eine menschliche Zukunft“ veröffentlicht. Das damals aktuelle Thema war die Gefahr eines Kernwaffenkriegs, die leider immer noch nicht gebannt wurde. Trotzdem schiebt sich heute ein neues Thema in den Vordergrund: der Klima-Umbruch. Deshalb schreibe ich den Text um[1] und nenne ihn auch nicht wie im Original „Die Friedenswerkstatt“ sondern „Die Klimawerkstatt“. Denn der Text, den ich eher zufällig in meiner Bibliothek (wieder)fand, gibt eine Antwort auf eine Frage, die mich schon länger herumtreibt: Wie können wir uns in Gruppen gegenseitig helfen, mit der aufkommenden Verzweiflung und Trauer über den stattfindenden Klima-Umbruch umzugehen, ohne sie zu verleugnen oder in ihr zu versinken? In der Bewegung „Extinction Rebellion“ werden hierzu Methoden, die eng verwandt mit der problematischen Tiefenökologie sind, verwendet (nach Joanna Macy) – mit dem Konzept von Rüdiger Lutz gibt es nun eine Alternative. Obwohl er leider nicht mehr lebt, bin ich mir sicher, dass er erfreut darüber  wäre, dass seine Arbeit erneut genutzt wird.

Brecht schrieb für jene, die im brennenden Haus den Brand nicht wahrnehmen wollen:

„Ohne zu antworten, ging ich wieder hinaus. Diese, dachte ich, müssen verbrennen, bevor sie zu fragen aufhören. Wirklich Freunde, wem der Boden noch nicht so heiß ist, dass er ihn lieber mit jedem anderen vertausche, als dass er da bliebe, dem habe ich nichts zu sagen.“

Mit der Klimawerkstatt wenden wir uns nicht ab, sondern wir wollen miteinander reden über die Gründe des Nicht-Wahrnehmens.


Die Klima*werkstatt

Ein Weg zur Überwindung der apokalyptischen Verzweiflung.

[…]

Artur Koestler, der vor kurzem verstorbene Kulturphilosoph und Gesellschaftskritiker, meint: „Wir leben jetzt im Zeitalter der Angst, doch wir wollen es nicht einsehen, daß es so ist.“ Dies mag die Schizophrenie unserer Gegenwart sein, daß wir die kommende Apokalypse spüren, aber unfähig sind, sie zu erkennen und evtl. zu überwinden. Statt den großen Problemkreis, der die gesamte Menschheit betrifft, anzugehen, flüchten sich viele Menschen – auch gerade Aktivisten im politischen und sozialen Bereich – in Nebenkriegs-Schauplätze. Weil die Weltprobleme so schwierig und komplex sind, so unlösbar scheinen, sucht man sich eine andere Aufgabe, eine kleinere, lösbare. Doch irgendwo im tiefsten Innern weiß jeder von uns daß es nur um die große Frage geht: um das Überleben der Menschheit insgesamt.

Wir können keine kleinen positiven Bereiche mehr schaffen, wenn das Gesamtsystem unserer Welt aus den Angeln zu kippen droht oder sich aufzulösen beginnt. Und hier treffen wir auf den Kern der Arbeit, die die Zukunftswerkstatt[2] […] unternommen hat: Die Problematik des Klima-Umbruchs* öffentlich anzugehen und nicht unter den Teppich zu kehren, sondern sich dieser schwierigen Aufgabe zu stellen, und zu erforschen, welche Möglichkeiten es gibt für jede/n einzelne/n von uns, an diesem Problem zu arbeiten.

Die Klima*werkstatt ist eine speziell ausgearbeitete Methode zur Erfahrung, Erforschung und Überwindung der eigenen Vorstellungen und speziell Ängste vor einem möglichen apokalyptischen […] Ende der Menschheit.

Die Verzweiflung, die dem allem zugrunde liegt, ist der Hauptforschungsgegenstand der Studie […]. Verzweiflung kann nicht einfach verlernt werden. Positives Denken allein genügt nicht, um den tiefsitzenden Vorahnungen des kommenden möglichen Endes zu entgegnen. Man muß durch die Verzweiflung hindurcharbeiten; ähnlich einer Trauer um den verstorbenen Partner oder Verwandten gilt es, die Verzweiflung zu akzeptieren und ihr Zeit zu geben zu wirken. Später muß man jedoch erkennen, daß aus dieser Empfindung auch Kräfte wachsen, die wiederum für die produktive Arbeit gewonnen werden können.

Als wir mit den Überlegungen zur Gestaltung von Klima*werkstätten begannen, hatten wir noch nicht diese Essenz und Bedeutung der Verzweiflung erkannt, sondern verstanden unsere Workshops einfach als Methode der Vermittlung […] relevanter Inhalte. Bald jedoch stellte sich heraus, daß diese Informationen keinerlei Verhaltensänderungen bedeuteten, sondern lediglich die Verzweiflung bewußter machten bzw. Menschen, die vorher ihre Klima*angst einfach unterdrückten, in die Verzweiflung trieb. Schnell kamen wir deshalb darauf, mit den Emotionen, Erwartungen und Zukunftsängsten der Teilnehmer zu arbeiten, statt Vorträge über das Klima* zu halten. Wir entwickelten eine Dia-Serie […]. Schnell kamen die Teilnehmer/innen durch diese Stimulierung in ihre eigene Gefühlswelt bezüglich der Vorstellung des Klima-Umbruchs*. Es wurde deutlich, daß viele diesen Aspekt des Lebens bzw. Sterbens einfach ignorierten.

Platitüden wie „Wenn der Klima-Umbruch* stattfindet, dann ist es eben aus“ […] kamen zum Vorschein. Andere wiederum verbreiteten eine Art Pseudooptimismus, der da hieß: „Ich weiß, wo ich hingehe, wenn […]“. „Auch nach der Klimakrise* wird es irgendwie weitergehen“. All diese Aussagen sind Fluchtreaktionen. Sie eröffnen keine Diskussion, sondern beenden sie. Wir kennen diese Unterhaltungen im Lokal zur Genüge. Wenn man auf derartige Probleme zu sprechen kommt, dann wird offener Fatalismus, blanker Zynismus oder auch ein überhöhter Optimismus verbreitet. Mit der Wirklichkeit der eigenen Gefühlswelt sowie mit der Weltsituation haben derlei Aussagen nichts zu tun. Sie sind Blockaden des Denkens, Ausflüchte, um die Wirklichkeit nicht akeptieren zu müssen. Innerhalb der Klima*werkstatt muß deshalb an der Akzeptanz der tatsächlichen Gefahr und unserem menschlichen Verhalten demgegenüber primär gearbeitet werden.

1. Phase

Dies ist der Inhalt der ersten Phase, des ersten Teils der Klima*werkstatt, genannt Katharsis. Selbstverständlich kann die menschheitsbedrohende Gefahr nicht durch die Klima*werkstatt „ausgetrieben“ werden. Mit Katharsis ist viel eher gemeint, die persönliche Handlungsfähigkeit, die aus der Verzweiflung erwächst, zu erfahren und auszudrücken. Bekanntlich werden durch die Artikulation oder auch die körperliche Abreaktion gewisser Ängste Energien freigesetzt, die dann tatsächlich zum Positiven gewendet werden können. Dies ist die Arbeitshypothese der Klima*werkstatt in dieser ersten Phase.

1.1.

Die kathartische Arbeit wird also – wie schon angedeutet – mit stimulierenden Bildern […] eingeleitet.

Schon dabei beginnen die Teilnehmer*innen, die  […] sehr sensibel gegenüber diesen Darstellungen sind, in das Stadium ihrer persönlichen Verzweiflung eintauchen. Emotionen werden artikuliert und ausgetauscht, man hört voneinander, welche Ängste den einzelnen plagen. Klima-Umbruch*angst bedeutet ja für jeden Menschen etwas anderes. Da gibt es die Angst vor dem eigenen Tod, vor dem Leidenmüssen, die Angst um die Angehörigen, die Kinder, die Frau, den Mann, und es gibt die kollektive Angst um die eigene Kultur oder gar um die Menschheit. Dieses Ergebnis ist eindeutig so, daß wir nicht davon ausgehen können, daß es nur die Angst um das eigene Überleben oder das Überleben der engsten Anverwandten geht. Viele Menschen plagt tatsächlich der Gedanke des Untergangs der Menschheit*.

1.2.

Mittels einer weiteren Technik, nämlich einer angeleiteten Phantasiemeditation kann dieses Gefühl noch stärker individuell erfahren werden. Die Phantasiemeditation läuft so ab, daß eine leise, beruhigende Hintergrundmusik ein Grundmuster der Entspannung bietet, und dazu spricht die/der Moderierende* z.B. folgende Sätze: „Wir atmen ganz ruhig und tief. Wie verfolgenden Weg unseres Atems bis hinunter in den Magen. Wir spüren die Energie, die durch den Atem in unseren Körper fließt, bis in die Finger- und Zehenspitzen. Wir fühlen den Untergrund, auf dem wir liegen und sinken allmählich immer tiefer. Gedanken ziehen vorbei, und wir beachten sie nicht. Wir achten nur auf den Atem. Das immer langsamer werdende Ein und Aus des Atems ist unser Hauptinteresse. Jetzt stellen wir uns vor, wir liegen auf einer Wiese vor einer großen Stadt. Wir sehen den blauen Himmel über uns, und eine helle Sonne strahlt und erwärmt uns. […] Doch [dann wird es heiß und immer heißer. Das Gras um uns herum sinkt zusammen, die Erde wird rissig und wir wissen, dass wir verdorren, wenn wir nicht unsere matten Glieder schnellstens aufheben um irgendwo  Kühle und Nässe zu finden – die es aber nicht mehr gibt…)*.  Und wir wissen, dass es keine Rettung mehr gibt […]. Wir spüren die Verzweiflung, die uns erfüllt angesichts dieses Bildes.“

Die Phantasiemeditation dauert ungefähr 40 Minuten, d.h. die Worte werden sehr langsam und in Abstimmung mit der Musik sowie den entsprechend notwendigen Pausen vorgetragen. Es ist selbstverständlich, daß eine derartige Meditation weitaus schwieriger ist, als sog. positive Gefühle zu produzieren. Jeder Mensch hat innere Ausschließungsmechanismen solcher Situationen, wie sie hier explizit hervorgerufen werden. Es muß also vor der Meditation erklärt werden, zu welchem Zweck dieses unangenehme, schmerzliche und aufreibende Unterfangen gemacht wird. Um eigene Einstellungen sowie Empfindungen kennenzulernen, ist es notwendig, die im Normalbewußtein ausgeschalteten Materialien einmal zu berühren. Wir hatten in den Klima*werkstätten oft Menschen, die zum ersten Mal den Gedanken eines Klima-Umbruchs* durchspielten. Die alltägliche Ignorierung wird in der Klima*werkstatt aufgehoben, um die eigenen Gefühle auch wirklich kennenzulernen. Verständlicherweise brechen die Menschen in Tränen aus oder können die Meditation nicht zu Ende führen. Aber dennoch ist die Bewußtmachung einer derartigen Situation unbedingte Voraussetzung für die weitere Arbeit.

1.3.

Die darauffolgenden Gespräche sind gänzlich anderer Natur, als man sie sonst bei Klima*initiativen oder auch Gruppen kennt, die entsprechende Arbeitskreise haben. Statt einer intellektuellen und argumentativen Auseinandersetzung über Klimawandel*, strategische Fragen und Vorgehensweisen zur Verhinderung […] wird nach der Einstimmung durch die Meditation und den davor gezeigten Bildern vom Klima-Umbruch* eine weit tiefere Ebene und Intensität des Gespräches erreicht. Auch ist nach dieser Phase die Intimität der einzelnen Teilnehmer untereinander sehr viel größer. Sich weinen zu sehen, berührt zu sehen, angegriffen zu sein, bedeutet eine Öffnung: Die Masken dürfen fallen. Der therapeutische kathartische Effekt dieser ersten Phase betrifft nun hauptsächlich die Nachbereitung der Erfahrungen. Die Ängste und Vorstellungen, die nun ausgedrückt werden, werden sämtlichst protokolliert und auf eine große Wandzeitung geschrieben. Auf diese Weise entsteht in Gruppenbild von Aspekten und Verzweiflung der Klima-Umbruchs*angst. Die Verbalisierung, Artikulierung und Darstellung der eigenen Ängste befreit die Menschen von den sowieso in ihren Herzen vorhandenen Ängsten. Es gilt zu erkennen, daß nicht die Angst als solches das Problem ist, sondern ihre Nichtverarbeitung und Nichtakzeptanz. Werden diese Gefühle jedoch erst einmal ausgesprochen und wird in der Gruppe erkannt, daß die anderen so “vernünftig“ erscheinenden Menschen ähnliche oder dieselben Gefühle haben, dann entsteht ein befreiender, entlastender Moment. Natürlich ist von Individuum zu Individuum die Reaktion auf die dargestellte Übung verschieden. Doch hier muß der Kompetenz der moderierenden Person* der jeweiligen Klima*werkstatt ein Freiraum eingeräumt werden, verschiedene Techniken zu nutzen.

1.4.

Für den Schlußteil dieser kathartischen Phase hat es sich oft als nützlich erwiesen, bestimmte bioenergetische Übungen durchzuführen. So ist z.B. die folgende einfache Methode sehr effektiv gewesen, wenn die Gruppe in eine Art depressive Melancholie zu verfallen droht: Alle Teilnehmer bilden einen großen Kreis, so daß jeder Ellbogenfreiheit besitzt. Jede/r stellt sich  mit den Beinen schulterbreit hin, versucht sich also gut zu „gründen“. Des weiteren wird gemeinsam langsam ein- und ausgeatmet und die Muskeln allmählich angespannt. Dazu werden nun Fäuste gebildet und dann auf Zeichen und gemeinsames Einstimmen der leitenden Person* ein lautes „Nein“ ausgestoßen. Dieser Schrei sollte aus dem Innersten, also von unten, vom Bauch her kommen. Meist ist es notwendig, diese Übung drei- bis viermal zu wiederholen, bis tatsächlich ein kraftvoller, vibrierender Schrei erfolgt. In diesem Zusammenhang ist auch der klar inhaltliche Kontext für diese Verneinung klar ersichtlich. Es geht hier um ein Nein zu [den Bedrohungen des Klima-Umbruchs]*. Nein zu der Bedrohung und der damit produzierten Angst. Aber auch unabhängig von diesen Inhalten erweist sich die Übung als energetisierend und motivierend für die/den einzelne/n und für die Gruppe. Es ist darauf zu achten, daß die Körper tatsächlich vibrieren. Es geht nicht so sehr um die Lautstärke des Schreies, sondern um die innere Vibration. Das Heilende dieser bioenergetischen Übung ist die kraftvolle Körperhaltung und das Erzittern des ganzen Körpers bei dem Ausstoß des „Neins“. Aufgrund unserer kulturellen und sozialen Konditionierung sind viele Menschen einer derartigen Übung erst einmal abgeneigt. Erst durch das Mitmachen entsteht eine Art Akzeptanz und Verständnis für den Nutzen der Übung, und oft bekamen wir Wochen oder Monate später die Rückmeldung, daß nun die Teilnehmenden*r im stillen Kämmerchen zu Hause diese Übung wiederholen. […]

2. Phase

Der Übergang zur zweiten Phase, nämlich der „klimaverträglichen* Utopie“, gestaltet sich dadurch, daß die an der Wandzeitung befindlichen Angst- und Verzweiflungsaspekte ausgewertet werden.

2.1.

Durch simple Punktvergabe – also jede/r Teilnehmer/in erhält z.B. fünf Punkte (Klebepunkte) und soll damit die ihr/ihm am wichtigsten erscheinenden Probleme oder Ängste benennen. Mit dieser Methode erreicht man zweierlei. Zum einen ergibt sich durch diese Abstimmung eine Strukturierung des gesamten Materials. Hautpanliegen und gruppendemokratisch ermittelte Prioritäten lassen sich so herausfinden. Zum anderen wird jede/r Teilnehmer/in durch diese Punktvergabe aufgefordert, das gesamte Material noch mal zu lesen, was durch die bloße Aufforderung alleine erfahrungsgemäß nicht geschieht.

2.2.

Für die zweite Phase nun werden die meistbepunkteten Begriffe oder Aussagen in positive Fragestellungen umformuliert. Nehmen wir z.B. an, daß die Gruppe den Aspekt der Machtlosigkeit gegenüber dem  Klima-Umbruch* als das Hauptproblem und die Hauptangst ansieht. Dieser Begriff wird nun beispielsweise umformuliert in die Frage: „Wie können wir Einfluss nehmen auf die Machtinteressen der Staaten oder Supermächte?“

2.3.

Diese Fragestellung kann nun zum Ausgangspunkt der klimaverträglichen* Utopie werden. Die Phase der klimaverträglichen* Utopie ist nun der erste[n] kathartischen Phase diametral entgegengesetzt. In der Utopiephase geht nämlich alles, Ängste gibt es quasi nicht mehr, alles wird positiv, ja euphorisch bearbeitet. Dieser Stimmungsumschwung ist natürlich nicht von einer Minute auf die andere machbar, sondern meist durch einen Tag getrennt; d.h. der erste Tag, der die Katharsis enthielt, wird gefolgt durch einen nächsten der utopischen Phase. Verschiedene theatralische und spielerische Elemente können die friedliche Utopie unterstützen. So können Emphatiespiele die Entspannung in der Gruppe fördern. Körperliche Berührungen und Bewegungsformen fördern diesen Prozeß. auch eine Meditation, die nun, statt in den Klima-Umbruch* wie bei der ersten Phase in eine Art „kollektives Paradies“ führt, hat sich als sehr positiv erwiesen. Auch die vielbekannten „New Games“ eignen sich als Elemente am Anfang der Utopiephase.

Kernstück dieses Abschnitts ist jedoch die Erarbeitung kreativer Lösungsansätze in der Klima*arbeit. Auf die vorgenannte Frage werden deshalb nun im Brainstorming-Verfahren Antworten gesucht.

Eine erste Brainstormingrunde, die vielleicht eine Stunde dauern darf, ergibt schon bei 20 Teilnehmer/innen ungefähr 100 bis 300 Stichworte. Es muß also unbedingt nach dieser freien assoziativen Sammlung das Material strukturiert werden. Diese Strukturierung kann ebenfalls wieder durch Punktvergabe geschehen, genauso aber durch klar ersichtliche, inhaltliche Zusammenhänge, die die Gruppe sieht […]. Erfahrungsgemäß wird jedoch die Punktvergabe effektiver sein. Denn während bei einer inhaltlichen Strukturierung gruppendynamische Prozesse zu heißen Kontroversen führen können, wird durch die reine Punkteabstimmung sehr schnell ein Konsens gefunden. Die ermittelten Schwerpunkte werden dann auf Kleingruppen verteilt, d.h. zu jedem Schwerpunktbereich finden sich drei bis fünf Menschen, die daran arbeiten wollen. Sie entwickeln zusammen ein kleines Szenario, das sehr utopisch oder unrealistisch sein darf, welches dann wieder der Gesamtgruppe präsentiert wird. Entscheidend für die zweite Phase ist immer wieder, daß die/der Moderator/in darauf achtet, daß keine „Killerphrasen“ oder negativen Aspekte von den Teilnehmern kommen.

Denn in dieser Utopiephase ist alles möglich: Die Kreativität und schöpferische Entfaltung des einzelnen soll provoziert werden. Es soll kein Argumentationswechsel stattfinden. Dies ist der kommenden dritten Phase vorbehalten. Die inhaltliche Seite der zweiten utopischen Phase betrifft die Ausgestaltung der klimaverträglichen* Utopie. dies hat seine ganz besondere Schwierigkeit darin, daß wir zwar gewohnt sind, […] Probleme uns vorzustellen, aber uns äußerst schwertun, [die Lösung] zu konkretisieren. […] Die Erfahrung innerhalb der Klima*werkstätten zeigten, daß über die anfänglichen Trivialitäten, die ruhig einmal ausgesprochen werden sollten, ein konsensfähiges Bild […] erarbeitbar ist. Allerdings berührt diese […]-Vorstellung sehr tiefgehende und gleichzeitig abstrakte Bereiche. Es zeigt sich, daß die Vorstellung einer klimaverträglichen* Welt zusammenhängt mit weltanschaulichen ideologischen Konzepten. So ist z.B. das westliche Ideal der Kleinfamilie mit Häuschen im Grünen und wirtschaftlich hohem Lebensstandard eine innerhalb der […]-Utopie auftauchende Vorstellung. Mit dem Wissen jedoch, daß genau diese Lebensform für andere Menschen die Vernichtung bedeuten kann, sind diese Konzepte relativierbar. Die Funktion der Einsicht in die Ambivalenz individueller […]-Träume ist ein notwendiger Schritt innerhalb der Klima*utopie. Praktisch geschieht dies in Kleingruppenarbeit, d.h. wo drei bis fünf  Personen ihre Klima-Utopie*-Vorstellungen austauschen und dann der Gesamtgruppe wieder vorstellen. Des einen Klima-Utopie* kann des anderen Problem sein oder werden. Diese Erkenntnis muß in der zweiten Phase an irgendeiner Stelle auftauchen, d.h. man muß dies nicht programmieren, sondern es geschieht von selbst, wenn die Gruppe ausreichend interagiert. Konsequenterweise berührt also dann die Konstruierung eines klimaverträglichen* Szenarios sämtliche lebensrelevanten Bereiche: Wirtschaft, Gesellschaft, Technik und persönliche Beziehungen spielen alle mit der Frage: Wie ist Klimaverträglichkeit* erreichbar, wie können wir ein stabiles Klima* in dieser Welt schaffen? Damit unterschiedet sich diese Klima*werkstatt von vielen Klima*initiativen, die oft steckenbleiben in [technischen Fragen]*. Damit soll diese Arbeit nicht angegriffen werden. Es ist richtig und wichtig, daß Menschen sich heute gegenüber den aufoktoyierten, strategischen Konzepten wehren. In der Klima*werkstatt jedoch gehen wir weiter: Wir versuchen die Ausgestaltung der Klimaverträglichkeit*, und dazu ist die Erforschung unserer eigenen Zukunftsvorstellungen notwendig. […]

Oft tauchte auch das Problem auf, daß die Teilnehmer/innen die Notwendigkeit der Entwicklung alternativer Zukünfte angesichts der bestehenden Klima-Umbruch*-Bedrohung nicht akzeptieren wollten, – zuerst. Diese Reaktion ist verständlich. Wer sich die alltägliche Gefahr vor Augen führt, glaubt, daß es erst einmal notwendig ist, diese Gefahr zu bannen und dann über die bessere Zukunft nachzudenken. Doch diese Logik greift zu kurz. Gerade wenn wir erkennen, dass Klimaverträglichkeit* ein Weg in eine bessere Zukunft ist, dann müssen wir uns befreien von der Problemlast und dem Moment der Gefahr selbst. Die Fokussierung* auf die Klima*-Gefahr führt letztlich dazu, und wir, wie viele Klima*forscher es leider tun, uns nur noch über [technische Fragen]* unterhalten. Diese Problemfixierung lähmt die Beteiligten schließlich derart, daß es zu überhaupt keiner Aktion mehr kommt bzw. daß die Realität so akzeptiert wird, wie sie ist. Aus der Lernpsychologie ist diese Phänomen bekannt. Die Problemorientierung kann zum Denkgefängnis werden. Tiefenpsychologisch gesprochen könnte man sogar von einer Verliebtheit in das Problem sprechen bzw. von einer Identifikation mit der Problemlage. Diese Identifizierung hilft leider bei der Lösung des Problems nicht. Aus der ausschließlichen Beschäftigung mit dem Problem kommt nicht zwangsläufig eine Lösung. In der Klima*werkstatt wird diese Erkenntnis deshalb so umgesetzt, daß Alternativen produziert werden, die das bestehende Denkgefängnis erweitern und durchbrechen. Unser Gehirn arbeitet nicht nur linear sequentiell, sondern eben auch assoziativ parallel. Und die größten Ressourcen an Kreativität liegen eben in der assoziativen Verarbeitung von Information und Erzeugung von Ideen. Deshalb basiert die Klima*werkstatt auf dem intellektuellen logischen Konzept des folgenden Dreischritts:

  • Identifizierung und Vertiefung des Problems – das ist der Inhalt der ersten, der kathartischen Phase.
  • Die Erzeugung alternativer Möglichkeiten, Zukünfte, ‚Vorstellungen.
  • Die Synthese dieses Prozesses.

Dieser dreistufige Prozeß ist von derart allgemeingültiger Kraft, daß wir es sowohl in der Logik, in der Technik, in der Medizin, ja überall dort wiederfinden, wo Probleme gelöst werden müssen. Aus der Krebsforschung z.B. wissen wir, daß alleine schon durch diese Vorgehensweise, nämlich zuerst die Akzeptierung, daß man Krebs hat und evtl. unheilbar krank ist, zum zweiten die völlig befreite Produktion alternativer Weltanschauungen für sich persönlich und drittens die pragmatische Synthese, der Krebs zurückgebildet werden kann.

Übertragen wir dieses Modell nun auf die Klima*forschung und [-politik]*, dann wird verständlich, warum es so wichtig ist, Zukunftsvorstellungen auszugestalten und nicht an der Klima-Umbruchs*gefahr allein hängenzubleiben. […].

3. Phase

[Die dritte Phase der Klimawerkstatt ist] die Synthese und Konkretion. Dort versuchen wir, aufgestellte Hypothesen alternativer Zukünfte und Entwürfe zu hinterfragen. Denn was nützt uns die schönste Utopie, wenn wir in unserm tiefsten Innern doch an eine ganz andere Wirklichkeit glauben? Solche Paradoxien sind vorhanden und bekannt z. B. aus der Problematik um die Frauenbewegung. Viele Männer, die sich äußerlich aufgeschlossen, offen und emanzipiert gaben, hatten in Wirklichkeit ihre innere Einstellung gegenüber der Frau  noch lange nicht erkannt* und überwunden. Sie änderten lediglich ihre Form, das Verhalten nach außen gegenüber Frauen, ihre Grundeinstellung war jedoch nach wie vor dieselbe. Ähnliches ist zu erwarten und inzwischen auch nachzuvollziehen innerhalb der Klima*bewegung. […] Erst wenn die „hidden images“, die verborgenen Bilder unserer Vorstellungswelt freigelegt sind, kommt eine wirkliche rationale Auseinandersetzung zum Tragen. Die kritische Betrachtung der produzierten Utopien innerhalb der dritten Phase hängt somit weitgehend davon ab, wie intensiv und durchdringend die Selbsterforschung in den vorhergehenden Phasen ablief.

Auch die Konkretion der dritten Phase, also die Detaillierung einzelner machbarer Schritte in der näheren Zukunft, wird umso präziser, je umfassender, weitgehender und tiefgehender die Arbeit davor war. Im Idealfall könnte in der dritten Phase schließlich eine Art Stufenplan entwickelt werden, der genau darstellt, wer welche Aktionen demnächst in welchen Zusammenhängen wahrnimmt. Die persönliche Einhaltung der hier planerisch gemachten Versprechen ist natürlich  nicht mehr Teil der Klima*werkstatt, aber eines der Ziele der gesamten Veranstaltung. Persönliche Verantwortung zu übernehmen und teilzuhaben an der gemeinsamen Aufgabe […] hängt davon ab, wie ernsthaft die Teilnehmer sich mit dieser Vorstellung identifizieren. Die Klima*werkstatt selbst kann eine klimaverträgliche Welt* nicht schaffen, sie kann lediglich einzelne Menschen motivieren und somit einen Ausgangspunkt für mögliche Veränderungsprozesse einleiten.

(nach Rüdiger Lutz (1988): Die Friedenswerkstatt. In: Rüdiger Lutz (Hg.): Pläne für eine menschliche Zukunft. Weinheim, Basel: Beltz. S. 305-312.)


[1] Veränderte Worte werden durch * gekennzeichnet. Auslassungen durch […]. Betonungen durch Fettschrift, die Numerierung und das Gendern sind ebenfalls von mir.

[2] Seine Wohnadresse, zuletzt in Tübingen, firmierte auch unter „FutureLab“ bzw. “Zukunftswerkstatt“. Die Materialien wurden von seinem „Betreuer“ leider weggeworfen und sind für die Forschung verloren. Fundstück aus der Geschichte des FutureLab)