Ich hatte bereits einmal mehrere Blog-Seiten über die „Phänomenologie des Geistes“ geschrieben. Den Anfang der Argumentation hatte ich da „unterschlagen“, weil er für den Zweck innerhalb einer damaligen Debatte nicht gebraucht wurde. Derzeit laufen wieder Gespräche, für die ich diesen Anfang jedoch nachliefern möchte:
Der Gedankengang in der „Phänomenologie des Geistes“ (auf dem Weg von der sinnlichen Gewissheit bis hin zum Selbstbewusstsein[1]) ist folgender (wobei hier nur die ersten Schritte referiert werden, und diese noch extrem verkürzt):
- Sinnliche Gewissheit
- Die erste Stufe der Selbst- als Welterkenntnis ist die „sinnliche Gewissheit“ (HW 3: 82). Was weiß ich, wenn ich nur sinnlich fühle? Ich weiß nur „Dieses“. Ich weiß nicht, was das ist, denn die Bestimmung eines „Was“ würde eine Beziehung zu anderem voraussetzen. Wenn ich z.B. weiß: „Dies piekst“, dann setze ich zusätzlich zu dem Beginn als nur „Dieses“ zusätzlich voraus, dass etwas piecksen oder stechen oder streicheln kann. Dies sind alles (allgemeine) Oberbegriffe für mögliche Verhaltensweisen von „Dieses“. Erst recht setze ich Anderes voraus, wenn ich inhaltlich bestimme, was „Dieses“ ist. „Dieses“ ist dann z.B. eine Nadel. „Nadel“ setzt eine allgemeine Bestimmung dessen, was „Nadel-Sein“ bedeutet, voraus.
Zumindest Menschen, die einem begleitenden Wissen nie entkommen können, fühlen also nie nur, sondern die konkrete Bestimmung WAS sie WIE fühlen, greift in eine vorausgesetzte Sphäre des Wissens über Allgemeines hinein.
- Das zeigt sich auch daran, dass wir über das Sinnliche nichts sagen könnten, wenn wir nicht schon Allgemeines darüber voraussetzen würden. Das einzeln-Sinnliche setzt das Allgemeine voraus. Wer das übersieht, „meint“ zwar, nur über das einzeln-Sinnliche zu sprechen, aber kann von ihm doch nur das Allgemeine „sagen“ (ebd.: 92).
- Diesen Bezug zum Allgemeinen (die Vermittlungen des Einzelnen damit) nicht mitzudenken, d.h. im Unmittelbaren zu verbleiben, ist ein Merkmal des „natürlichen Bewusstseins“ (ebd.: 414)
- Genau dies ist abstraktes Denken! Wenn ich etwas „hier und jetzt“ erblicke, sehe ich vieles nicht was zu seinen Beziehungen zur Umgebung gehört. Ich abstrahiere von diesen Beziehungen. Damit „ziehe ich etwas ab“, abstrahiere. [2]
- Die sinnliche Gewissheit scheint zwar als das Wahrhafteste, denn sie hat den Gegenstand in seiner Vollständigkeit vor sich. Tatsächlich aber ist sie „die abstrakteste und ärmste Wahrheit“, denn „sie sagt von dem, was sie weiß, nur dies aus: es ist…“ (HW 3: 82).
„Das sinnliche Bewusstsein weiß daher von diesem [dem Objekt, AS] nur als einem Seienden, Etwas, existierenden Dinge, Einzelnen und so fort. Es erscheint als das reichste an Inhalt, ist aber das ärmste an Gedanken.“ (HW 10: 206) Dabei kommt etwas „zufällig jetzt in mein Bewußtein“ und verschwindet „dann wieder daraus“ (ebd.: 207). Ich weiß nicht, „wo es herkommt, warum es diese bestimmte Natur hat und ob es ein Wahres ist.“ (ebd.) - Etwas nur als dieses unbestimmte „Es“ zu haben, gehört noch NICHT einmal zur WAHRNEHMUNG.Es ist dadurch begrenzt und mangelhaft, dass ich es nicht sagen kann und dass es abgeschnitten ist von seinen eigenen Vermittlungen. An anderer Stelle benennt Hegel diese Form des Zugangs zur Welt „Anschauung“ (HW 10: 206).
- Diese Gefühlsbestimmungen machen den „Stoff des Bewußtseins“ (ebd.) aus, sie sind deshalb eine notwendige Stufe des Bewusstseins. Weil und indem sie „aufgehoben“ wird, wird sie auch im weiteren Fortgang aufbewahrt (vgl. HW 3: 94).
- Wahrnehmung
- Etwas wahrzunehmen beinhaltet, im sinnlich aufgefassten Einzelnen seinen Bezug zu Anderem und zum Allgemeinen zu wissen. Es geht darum, dass nun sein „Bezogen sein“ auf etwas Anderes hinzukommt (HW 10: 208). Es geht um die „Verbindung von sinnlichen und von erweiterten Gedankenbestimmungen konkreter Verhältnisse und Zusammenhänge“ (ebd.: 209). Dadurch wird die noch inhaltlich unbestimmte „Gewissheit“ zu inhaltlich bestimmtem „Wissen“. Das ist immer noch „reines Auffassen“ ( ohne Hinzutun) (HW 3: 96). Das geschieht zuerst in der Form, dass ich das Etwas als „Ding mit Eigenschaften“ bzw. Verhaltensweisen wahrnehme (Etwa die Nadel mit der Eigenschaft/der Verhaltensweise zu pieksen.).
- „Das viele Einzelne der Sinnlichkeit wird […] eine breite Mannigfaltigkeit von Beziehungen, Reflexionsbestimmungen und Allgemeinheiten.“ (HW 10: 208) Das Sinnliche wird „auf ein nicht unmittelbar zu beobachtendes Allgemeines“ bezogen, „jedes Vereinzelte als ein in sich selber Zusammenhängendes“ (ebd.: 209) erkannt. Dieser Standpunkt der Wahrnehmung ist „der Standpunkt unseres gewöhnlichen Bewußtseins“ (ebd.: 209).
- „Während daher das bloß sinnliche Bewußtsein die Dinge nur weist, d. h. bloß in ihrer Unmittelbarkeit zeigt, erfaßt dagegen das Wahrnehmen den Zusammenhang der Dinge, tut dar, daß, wenn diese Umstände vorhanden sind, dieses daraus folgt, und beginnt so, die Dinge als wahr zu erweisen.“ (ebd.)
- Aber auch diese Stufe ist noch mangelhaft. Der Mangel dieser Erkenntnisstufe ist, dass Einzelnes und Allgemeines nur „vermischt“ vorkommen, noch nicht als „wahrhafte Einheit“ (HW 10: 206) (was das ist, kommt dann im „verständigen Bewusstsein“ und noch später im „vernünftigen“). Dieser Mangel zeigt sich daran, dass vieles irgendwie zusammenhängt, aber nicht klar ist, ob sich in diesem Durcheinander von Wahrgenommenem etwas Stabileres findet, das einen tieferen Grund für das Wahrgenommene bildet.
- Deshalb kann ich das Wahrgenommen nur anschauend als Gegebenes hinnehmen. (HW 3: 96).
- Verständiges Bewusstsein
- Hier wird die Vielfalt der wahrgenommenen Erscheinungen auf einen tieferliegenden (inneren) Grund zurück bezogen. Dieser Grund ist das Wesen, das allen Erscheinungen in ihrer Mannigfaltigkeit zugrunde liegt. Die Erscheinungen sind in ihrem gemeinsamen Wesen begründet. Das Wesen als Grund bleibt, während die wahrgenommenen Erscheinungen sich verändern. Es bleibt „in dem Wechsel der Erscheinungen mit sich identisch“ (HW 10: 210).
- Das „verständige Bewußtsein“ (ebd.: 211) dringt zum Wesen/Grund als „unsinnlichem Innern“ vor und erkennt die Phänomene als Äußerung einer Kraft oder als Wirkung einer Ursache bzw. dem Zusammenwirken mehrerer Kräfte (im Gesetz) und Ursachen. Auf dieser Ebene kann man die Erscheinungen auch erklären (HW 3: 125).
- Erst jetzt ist es möglich, die Erscheinungen nicht nur in ihrer Gegebenheit hinzunehmen (wie bei der Wahrnehmung), sondern als Folge von Ursachen und Kräften zu verstehen, die beeinflusst werden können.
Diese aufeinanderfolgenden Stufen der „Fortbildung des Bwußtseins“ erscheinen „als eine Veränderung der Bestimmungen seines Objekts“ (HW 10: 209 vgl. ebd.: 202). Das zu Erkennende gilt auf der Stufe der sinnlichen Gewissheit nur als „Dieses“, es wird dann näher bestimmt als wahrgenommenes Ding mit Eigenschaften und schließlich verstanden als Erscheinungsform eines Wesens. (Begreifen ist eine noch spätere Form des Sich- und Welterkennens durch die Vernunft[3]). Alles, was erkannt wird, ist (1. Stufe), zeigt sich als wahrnehmbare Erscheinung (2. Stufe) und kann schließlich (3. Stufe) durch ihre Begründung z.B. als Ergebnis zusammenwirkender Kräfte verstanden werden. Jede der Stufen, wenn sie dem Erkenntnisobjekt auf dieser Stufe angemessen ist, ist nicht falsch, aber die jeweils folgende erweist sich als „wahrer“ als die vorherige. Etwas ist… aber „in Wahrheit“ ist es tiefgründiger (und als veränderbar) verstanden.
Mehr zur „Phänomenologie des Geistes“:
https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2010/02/07/die-phanomenologie-des-geistes-i/
Fußnoten:
[1] der auch in der „Enzyklopädie…“ (HW 10) noch mal nachvollzogen wird.
[2] In Hegels Schrift „Wer denkt abstrakt?“ gibt es das Beispiel über einen Menschen, der als Mörder zu seiner Hinrichtungsstätte geführt wird. Wenn man diese Person hier und jetzt als „Mörder“ wahrnimmt, ist dies eine Abstraktion, ein Hinwegnehmen vom Vollständigen, Ganzen: „Dies heißt abstrakt gedacht, in dem Mörder nichts als dies Abstrakte, daß er ein Mörder ist, zu sehen und durch diese einfache Qualität alles übrige menschliche Wesen an ihm [zu] vertilgen.“ (HW 2: 578).
[3] Siehe „Den Verstand zur Vernunft bringen“: https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2012/01/20/verstand-vernunft-1/
Juni 1, 2020 at 8:13 am
Danke, finde ich sehr verständlich geschrieben 🙂
Juni 7, 2020 at 9:24 am
[…] Er ging dabei davon aus, dass sinnliche Erkenntnis nur die allererste und für viele Themen viel zu vereinfachende Stufe der Erkenntnis ist. Er ist also ziemlich „rationalistisch“, weil es ja für ihn gerade darum geht, das an Zusammenhängen in der Welt zu begreifen, was man nicht nur fühlt… Er geht eher davon aus, dass gerade wir der begreifen-könnende Teil der Welt sind, was eben eine Distanz gegenüber dem Nur-Gefühlten und einer tiefer in die erscheinende-fühlbare Welt hinein führende Erkenntnis ermöglicht. (mehr siehe hier) […]