Version 1.0;.17.09.2020
Manchmal ergeben sich in Diskussionen Fragestellungen, die mich herausfordern, eine Position dazu zu beziehen. Das fokussiert sich dann häufig auf ein Thema, das durch die Ausführungen zu einem Begriff behandelt werden kann. Hier also der Text zum Thema „Weltanschauung“:
Kurzdefinition:
Weltanschauung = „die Gesamtauffassung (Theorie) vom Weltganzen, vom Ursprung, von der Natur und der Entwicklung des Weltalls, von der Entstehung und Entwicklung der Menschheit und ihrer Zukunft, vom Wesen und Sinn des menschlichen Lebens, vom gesellschaftlichen Verhalten des Lebens, von den Fähigkeiten des menschlichen Denkens und den Werten der menschlichen Kultur und von ähnlichen grundsätzlichen Problemen“ (Schuffenhauer 1976: 1287-1288)
Wenn unterschiedliche Theorien zueinander ins Verhältnis gesetzt werden sollen, wird schnell deutlich, dass sie auf Voraussetzungen beruhen, die zuerst nicht explizit bekannt oder benannt sind. Wir sind bei der Diskussion über unterschiedliche Theorien des Commoning/des Commonismus darauf gekommen, dass ihnen unterschiedliche Vorstellungen von „Wissenschaftlichkeit“ zugrunde liegen und diesen wiederum, das merkten wir im Gespräch, liegen verschiedene Auffassungen über die „Ontologie der Welt“ zugrunde. Manchmal wurde direkt das, was als Ergebnis der Wissenschaft bekannt war, als Bild von der Welt genommen. Da fiel mir ein, dass es sich für die Physik als wichtig erwiesen hatte, zwischen Wissenschaft und Weltanschauung zu unterscheiden: Newton hatte die Einzelwissenschaft Klassische Mechanik neu begründet und Voltaire machte daraus eine mechanizistische Weltanschauung (Borzeszkowski, Wahsner 1980; Schlemm 2004). Das Wort „Weltanschauung“ war mir auch vertraut, weil der uns von Jugend an gelehrte Marxismus-Leninismus sich ebenfalls als Weltanschauung (der Arbeiterklasse) verstand.
In der Gegenwart scheint der Begriff unmodern geworden zu sein, er wird kaum noch verwendet. Für die eben erwähnten Unterscheidungen gegenüber wissenschaftlichen Theorien und als Begriff für die Kennzeichnung dessen, was als „zusammenhängendes Ganzes“, als die „Totalität aller Eindrücke“ und des Wissens für jeden Menschen doch irgendwie vorhanden ist, möchte ich ihn nicht aufgeben. Die eben verwendeten Zitierungen stammen aus der Begriffsbestimmung für „Weltanschauung“ von Schleiermacher (zit. in Hoffmeister 1955: 662). Der Eintrag in Hoffmeister-Wörterbuch versteht unter Weltanschauung die „einheitliche Gesamtauffassung der Welt einschl. des menschlichen Seins und Sicherverhaltens“ (Hoffmeister 1955: 661). Wer eine Weltanschauung hat, hat „die Welt selbst in den Blick bekommen, erfaßt oder begriffen“ und versteht „in dieses Ganze das Einzelne einzuordnen“ (ebd.: 662). Die Welt wird also nicht nur kontemplativ angeschaut, sondern eine Weltanschauung erschafft man sich. Max Planck, der Physiker, sieht weltanschauliches Wirken z.B. bereits dann am Werk, wenn man (vor aller physikalischen Arbeit) die zu untersuchenden Gegenstände „nach einem gewissen Gesichtspunkt“ einteilt (Planck 1935/1965: 5). Die unterschiedlichen Fachgebiete der Physik wurden z.B. zuerst eingeteilt nach den Sinnesorganen, die die physikalischen Erscheinungen aufnehmen (Mechanik, Akustik, Optik, Wärmelehre), später wurde von der Sinnlichkeit abstrahiert und z.B. die Strahlung in allen Gebieten, in denen sie vorkommt, als Teilthema der Physik betrachtet.
Um gleich ein ähnliches Wort einzuführen: Das „Weltbild“ ist nicht synonym mit Weltanschauung, sondern wird vorwiegend als zusammenfassende Vorstellung der Ergebnisse einer Wissenschaft verstanden, so als „mechanisches Weltbild“ oder „biologisches Weltbild“. Dabei werden häufig Modelle aus den einzelnen Theorien über bestimmte Gegenstände vorgestellt, so wie beim Begriff „Atom“ wohl sofort das planetensystemartige Bild der Elektronen, die das Proton umkreisen, einfällt. Auf jeden Fall wird einem „Weltbild“ im Unterschied zur „Weltanschauung“ mehr Statik zugeschrieben (Schuffenhauer 1976: 1287).
Die Weltanschauung umfasst neben den wissenschaftlichen Inhalten auch metaphysische (z.B. über einen Grund, der der Welt zugrunde liegt), anthropologische, ethische und geschichtsphilosophische Aspekte (vgl. Mielke 1976: 1189).
In den Einzelwissenschaften entstehen unterschiedliche Weltbilder. Einzelwissenschaftliche Vorstellungen z.B. über Körper und die Kräfte, die sie anscheinend in Bewegung setzen oder bremsen, werden dann verallgemeinert im Sinne: So funktionieren die Dinge in der Welt ganz allgemein. Das Cartesische mechanische/mechanizistische Weltbild etwa geht davon aus, dass normalerweise ruhende Dinge durch etwas anderes in Bewegung gebracht werden müssen. Die Newtonsche Physik dagegen geht davon aus, dass der „Normalzustand“ der Körper in Bezug auf ihren Bewegungszustand nicht die Ruhe ist, aus der die Körper durch eine Ursache gebracht werden müssten, sondern die geradlinig-gleichförmige Bewegung. Eine auf den Körper einwirkende Kraft verändert diesen Bewegungszustand, indem sie eine (positive oder negative) Beschleunigung hervorruft. Beide Theorien führen zu unterschiedlichen Weltbildern, das Cartesische zu einem eher mechanischen (weil Bewegung, d.h. Geschwindigkeit erst erzeugt werden muss), das Newtonsche zu einem dynamischen (weil Bewegung mit konstanter Richtung und Geschwindigkeit vorausgesetzt wird und Kräfte nicht diese, sondern zusätzlich eine Beschleunigung hervorrufen).
Solche Weltbilder werden häufig wesentliche und die anderen Teile prägenden Bestandteile von Weltanschauungen. Dabei wird nicht beachtet, dass wissenschaftliche Theorien (und damit auch davon abgeleitete Weltbilder) von vornherein nur für einen bestimmten Gegenstandsbereich gelten und die in den zugrunde liegenden Theorien verwendeten Grundgrößen oft eine unterschiedliche Bedeutung haben. In den folgenden aus der Schule bekannten Formeln ist m die Masse, v die Geschwindigkeit, a die Beschleunigung, p der Impuls und F die kraft. Als Ursache einer Bewegung stellen wir uns oft eine „Kraft“ vor, aber das, was Descartes damit z.B. meint, ist in der Physik der Mechanik in Wirklichkeit der „Impuls“ (p = mv), während die beschleunigende Wirkung bei Newton durch eine „Kraft“ hervorgerufen wird (F = ma). Weil sich die meisten mit ihrem Wissen über die Newtonsche Physik aus der Schule dabei aber das Cartesische Weltbild vorstellen (eine „Kraft“ würde die Dinge in Bewegung bringen), unterstellen sie der Newtonschen Physik „Mechanizismus“ – das geht auch den allermeisten Wissenschaftstheoretiker*innen so. Die Verallgemeinerung dieser physikalisch richtigen Newtonschen Physik als „Weltgesetz“, wie das von Newton bestimmte Gravitationsgesetz durch Voltaire, ist eine unangemessene Identifizierung einer wissenschaftlichen Erkenntnis mit einer Weltanschauung (vermittelt über ein Weltbild).
Wissenschaften verwenden spezifische Einteilungen und Grundbegriffe, mit denen sie zwar wahre Aussagen über das Verhalten ihrer Gegenstände machen können, aber sie erfassen damit immer nur bestimmte Verhaltensweisen, nie die Gesamtheit seiner möglichen Verhaltensweisen. „Verhalten“ meint hier nicht den biologischen Begriff des Verhaltens von Organismen, sondern löst den Begriff der „Eigenschaften“ ab, bei dem nur auf einen isolierten Gegenstand, das Ding mit seinen Eigenschaften, geschaut wird. Als „Eigenschaft“ klebt etwas quasi an dem Gegenstand selbst, als hinge das Wirken von Gegenständen nicht von dem anderen ab, auf das es einwirkt. Auch dies kennzeichnet unterschiedliche Typen von Weltanschauungen. In der ersten werden die Dinge als voneinander isolierte (und ruhende) unterstellt, die ggf. erst nachträglich zueinander in eine Beziehung bzw. in Bewegung gebracht werden. Die andere geht davon aus, dass es nichts Isoliertes (und sich nicht Bewegendes) gibt, sondern dass das, was die Gegenstände von sich zeigen, jeweils eine Verhaltensweise isst, die auf etwas Anderes gerichtet ist und je nachdem, was das Andere ist, auch unterschiedliche Verhaltensweisen zeigen kann. Die Tatsache, dass Quantenobjekte sich in einem Versuchsaufbau (Einfachspalt) als Teilchen zeigen, in einem anderen (Doppelspalt) als Welle, ist dann nicht mehr ganz so geheimnisvoll, wenn man zugesteht, dass unsere Vorstellung von „nur Teilchen“ und „nur Welle“ nicht auf Quantenobjekte zutrifft. Ein interessanter Test für diese beiden Vorstellungen ist die Frage, ob ein einzelner Körper eine Schwerkraft bzw. Masse habe. In der ersten Vorstellung hat er die irgendwie, in der zweiten können Körper nur gegeneinander schwer sein, was man auch leicht aus der Formel für die Gravitationskraft ablesen kann, in der der Faktor der beiden Massen vorkommt, die, wenn eine Masse Null wird, auch verschwindet. An diesem Beispiel zeigt sich wieder, dass die Newtonsche Theorie keine Theorie über isolierte ruhende Körper ist, auf die quasi von außen eine Kraft einwirkt, sondern dass Kräfte hier als Wirkfähigkeiten der Körper gegeneinander definiert sind. Die physikalische „Masse“ eines Körpers ist übrigens keinesfalls das Maß dafür, „wie viel Materie in ihm enthalten ist“, auch wenn man das im Internet zigfach findet, sondern das Maß für die Trägheit eines Körpers gegenüber Beschleunigungen (siehe richtig in Wikipedia: Trägheit). Auch hier geht es also um ein Verhalten (gegenüber einer beschleunigenden Kraft) statt um eine am isolierten Körper befindliche Eigenschaft.
Weil, um darauf zurückzukommen, einzelne Wissenschaften immer nur einzelne Verhaltensweisen aus der darüber hinausführenden Fülle von Verhaltensweisen von Gegenständen untersuchen, reicht auch die Summe der Wissenschaften nicht aus für eine Weltanschauung. Die Bedeutung von Weltanschauung ist viel umfassender. Seit den Anfängen ihrer Beschreibung in der Romantik umfasst sie neben dem Denken auch das Fühlen, Wollen und Tun sowie die Suche nach dem Sinn des Lebens (Schuffenhauer 1976: 1287). Sie ist damit ein „System philosophischer, ökonomischer und politischer Anschauungen, die zugleich auch bestimmte moralische Überzeugungen, Normen und ästhetische Anschauungen einschließen“ (Fiedler u.a. 1979: 8). Auch die Begründungsmuster, über die in der Kritischen Psychologie die Individuen sich selbst über ihre unterschiedlichen Möglichkeiten, unterschiedliches Verhalten zu begründen bewusst werden können (Holzkamp 1990: 11; Schlemm 2011), sind Bestandteil einer Weltanschauung und durch diese beeinflusst.
Da die Welt nur individuell angeeignet wird, ist die Weltanschauung immer die Weltanschauung eines Individuums. Viele ihrer Inhalte können aber auch geteilt werden und vielen Menschen aus derselben historischen Zeit und gesellschaftlichen Situation gemeinsam sein. Der Versuch, die „marxistisch-leninistische Weltanschauung“ zu verbreiten, diente dem Versuch, die Orientierung und das Handeln der Menschen in eine gemeinsame Richtung auszurichten, quasi als „Kompaß“ (Löther 1996: 956) für „praktisch-revolutionäres Handeln“ (Schuffenhauer 1976: 1288).
Diese gewollte Gemeinsamkeit hat sich geschichtlich (erst einmal?) erledigt. Aber auch in der derzeit individualisiert-fragmentierten Wirklichkeit zeigen sich nicht zufällig viele Gemeinsamkeiten, so die Identitäts- und Sinnsuche gerade innerhalb dieser Fragmentierung, die sich nicht zuletzt an den jeweils herrschenden Selbstinszenierungsnormen in Instagram und Co. zeigt. Auch die derzeit vorliegenden Weltanschauungen drücken „in allgemein-theoretischer Form wichtige Interessen, Bedürfnisse, Bestrebungen und Ziele gesellschaftlicher Klassen und Schichten aus“ (Kosing 2015: 805). Lediglich als „geschlossenes System“, wie sie eigentlich in der Begriffsbestimmung von Fiedler u.a. (1979: 8) angenommen werden, sind sie nur schwer entschlüsselbar, obwohl ich vermute, dass ihre Inhalte weniger fragmentiert erscheinen, wenn man sie auf tiefere Hintergründe hinterfragt.
Weltanschauungen sind von der Perspektive des jeweiligen Individuums abhängig, aber sie sagen auch etwas über die wirkliche Welt, vor allem die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse. Diese verändern sich historisch, so dass auch die Weltanschauungen sich mit verändern. Allerdings teilen alle Menschen die gleiche kosmische und (noch nur) irdische Welt und jeweils auch mittlerweile global dominierende gesellschaftliche Verhältnisse.
Angesichts der ökologischen Katastrophen, die auf die Menschheit zukommen, werden die derzeit vertretenen Weltanschauungen in hohem Maße in Frage gestellt (werden). Niemand würde heute mehr ohne Bedenken von „Naturbeherrschung“ sprechen, sondern es deutet sich eher ein Trend zur Ablehnung des sog. „Anthropozentrismus“ an, der auch den modernen Humanismus in Frage stellt (so bei der Umweltbewegung Earth First!, die in der Tiefenökologie ihre theoretische Grundlage sieht, vgl. Schlemm 2019). Entwicklung und Fortschritt werden angesichts ihrer Opfer und Kosten immer negativer gesehen. Dass „Vernunft in der Weltgeschichte“ (Hegel) sei, wird immer unglaubwürdiger (vgl. Schlemm 2018). Wahrscheinlich wird auch der Anspruch der wissenschaftlichen Untermauerung von Weltanschauungen weitgehend aufgegeben werden und mythische Elemente werden wieder zunehmen… Die Anti-Corona-Maßnahmendemos sind ein erster Einblick in die geistigen Verwirrungen, die im Verlauf der Krisen noch zunehmen werden. Im Verlaufe der Versuche der Aufrechterhaltung der menschlichen Zivilisation wird jedoch ein Mindestmaß an Wissen und Rationalität eingesetzt werden müssen, wenn auch die weltanschauliche Einbettung noch offen ist. Dies so zu sehen, ist auch eine Weltanschauung…
Literatur
Borzeszkowski, Horst-Heino von; Wahsner, Renate (1980): Newton und Voltaire. Zur Begründung und Interpretation der klassischen Mechanik. Berlin: Akademie-Verlag.
Fiedler, Frank u.a. (1979): Dialektischer und historischer Materialismus. Berlin: Dietz Verlag.
Hoffmeister, Johannes (1955): Weltanschauung. In: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg: Meiner. S. 661-663.
Holzkamp, Klaus (1990): Über den Widerspruch zwischen Förderung individueller Subjektivität als Forschungsziel und Fremdkontrolle als Forschungsparadigma. In: Forum Kritische Psychologie 26, S. 6-19.
Kosing, Alfred (2015): Weltanschauung. In: Marxistisches Wörterbuch der Philosophie. Berlin: verlag am park in der edition ost Verlag und Agentur GmbH. S. 804-808.
Löther, Rolf (1996): Weltbild. In: Philosophie und Naturwissenschaften. Wörterbuch. Wiesbaden: fourier. S. 956-957.
Mielke, Helmut (1976): Weltbild. In: Philosophisches Wörterbuch. (Hrsg. Georg Klaus, Manfred Buhr). Leipzig: VEB Bibliographisches Institut. S. 1287-1289.
Planck, Max (1935/1965): Die Physik im Kampf um die Weltanschauung. Vortrag, gehalten am 6. März 1935. Leipzig: Johann Ambrosius Barth.
Schlemm, Annette (2004): Ist die Newtonsche Mechanik mechanistisch?
Schlemm, Annette (2011): Kritisch-psychologischer Begründungsdiskurs.
Schlemm, Annette (2017): Menschen-Bild.
Schlemm, Annette (2018): Trägt oder trügt die Hoffnung aus einer dialektischen Geschichtsphilosophie? In: Aufhebung. Zeitschrift für dialektische Philosophie. #12/2018. Berlin: Gesellschaft für dialektische Philosophie Eigenverlag. S. 49-69. Online: https://philosophenstuebchen.wordpress.com/2018/11/19/geschichtsphilosophie-2/
Schlemm, Annette (2019): Radikale Öko-Bewegungskonzepte.
Schuffenhauer, Werner (1976): Weltanschauung. In: Philosophisches Wörterbuch. (Hrsg. Georg Klaus, Manfred Buhr). Leipzig: VEB Bibliographisches Institut. S. 1289-1290.
Wikipedia: Trägheit
(Alle Links wurden am 16.09.2020 abgerufen)
September 17, 2020 at 8:31 pm
Liebe Annette,
ich freue mich sehr, dass Du dieses Thema aufgegriffen hast! Weltanschauung ist Bildung, und die ist politisch immer weniger gewollt.
Im Wesentlichen stimme ich Dir zu, allerdings verdienen einige physikhistorische Details Korrekturen:
Descartes stellte folgende Gesetze auf (Le Monde, Kap. VII):
D1: „Dass jeder einzelne Teil der Materie solange immer im selben Zustand verharrt, wie das Zusammentreffen mit anderen ihn nicht zwingt, ihn zu verändern.“
D2: “ Wenn ein Körper einen anderen anstößt, kann er ihm keine Bewegung übertragen, wenn er nicht gleichzeitig ebensoviel von seiner eigenen verliert; und ihm auch keine davon entziehen, ohne dass die seinige sich ebensosehr vermehrt.“
D3: Wenn sich ein Körper bewegt, obgleich seine Bewegung sich meistens in gekrümmter Linie vollzieht, und er niemals eine andere als in irgendeiner Form kreisförmige vollziehen könnte, so wie oben gesagt worden ist, strebt dennoch jeder seiner Teile für sich immer danach, die seine geradlinig fortzusetzen.“
Newtons Axiome lauten (Mach, § 2.7):
N1: „Jeder Körper beharrt in seinem Zustand der Ruhe [sic!] oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung, wenn er nicht durch einwirkende Kräft gezwungen wird, seinen Zustand zu ändern.“
N2: „Die Änderung der Bewegung [des Impulses] ist der Einwirkung der bewegenden [eigedrückten] Kraft proportional und geschieht nach der Richtung derjenigen geraden Linie, nach welche jene Kraft wirkt.“ (F=ma wurde von Newton höchstwahrscheinlich benutzt, steht jedoch das erste Mal in Eulers „Mechanica“ 1736.)
N3: „Die Wirkung ist stets der Gegenwirkung gleich, oder die Wirkungen zweier Körper aufeinander sind stets gleich und von entgegengesetzter Richtung.“
Bei Euler werden die (stationären) Zustände der Ruhe und der gleichförmigen geradlinigen Bewegung getrennt behandelt. Und die äußere Kraft verändert diesen Zustand, nicht der Körper selbst. (Auseinandersetzung mit den Wolffianern, gegen die Existenz von Geistern in den Körpern der Mechanik.)
Voltaire hat auf La Mettrie aufgebaut, oder?
Nach heutiger Auffasung besitzen alle bekannten Elementarteilchen intrinsische Eigenschaften, die unabhängig davon sind, wie viele andere Elementarteilchen sich wann und wie weit entfernt von ihnen befinden: Ruhemasse, Ladungen, Spin.
Quantenteilchen bewegen sich nicht entlang klassischer Bahnen. Das erhellt aus der axiomatischen (!) Ableitung der Schrödinger-Gleichung aus der Klassischen Mechanik durch Dieter Suisky und mich. Alle Schlussfolgerungen aus der Annahme klassischer Bahnen verlieren damit ihre Gültigkeit; Interferenz wird möglich.
September 17, 2020 at 8:36 pm
Was ist Fortschritt?
September 19, 2020 at 2:42 pm
Warum fragst Du? Du weißt doch sicher, was damit gemeint ist… Ich meine es in diesem Fall wirklich so einfach, wie es in Wikipedia erläutert wird: https://de.wikipedia.org/wiki/Fortschritt
September 20, 2020 at 9:41 am
Wikipedia: „Fortschritt bezeichnet in der Philosophie, Politik, Technologie und der Wirtschaft grundlegende Verbesserungen durch bedeutende Veränderungen bestehender Zustände oder Abläufe in menschlichen Gesellschaften.“ Werden „grundlegende Verbesserungen“ „zunehmend negativer gesehen“?
September 18, 2020 at 6:12 pm
Liebe Annette,
vielen Dank, dass Du dieses Thema aufwirfst! Denn es gehört zum Thema Bildung, und die ist von den herrschenden Kreisen immer weniger gewollt.
Ich stimme Dir in den meisten Punkten zu, nicht zu
– Descartes (s. die „Gesetze“ in „Le Monde“, Kap. VII),
– Newton (s. „Axiome oder Gesetze der Bewegung“ in „Principia“ – die Bewegungsgleichung F=ma taucht in den Axiomen nicht auf!),
– den Eigenschaften der physikalischen Objekte.
Ruhemasse, Ladungen und Spin der Elementarteilchen sind nach heutiger Auffassung innewohnende Eigenschaften, unabhängig von der Umgebung. (Dagegen ist die (Un-)Unterscheidbarkeit keine Eigenschaft von Teilchen, sondern von Zuständen.) Unter diesen Eigenschaften gibt es welche, die durch die Umgebung verändert werden; die (werbungsorientierten) Fachleute nennen das „Anziehen“. Diese Veränderung baut jedoch auf der innewohnenden Eigenschaft auf.
Seine träge Masse ist die „Standhaftigkeit“ eines Körpers gegenüber der Veränderung seines stationären Zustands (Euler, „Anleitung zur Naturlehre“, Cap. 4). Das klingt nach Unabhängigkeit von der Anwesenheit anderer Körper. Andererseits ist die schwere Masse eine Eigenschaft im Verhältnis zu anderen Körpern. Wie können dann beide streng proportional zueinander sein? Oder ist nur das Gewicht eine Eigenschaft im Verhältnis zu anderen Körpern?!
Auch die Fragmentierung ist von den herrschenden Kreisen gewollt. Rilke hätte es vielleicht so beschrieben:
Sein Geist ist vom Vorübergehen der Projekte,
So matt geworden, dass ihn nichts mehr hält.
Ihm ist, als wenn es hinter allen diesen,
Gar keine Wissenschaft mehr gibt.
September 19, 2020 at 2:40 pm
Alle „innewohnenden Eigenschaften“ sind letztlich Verhaltensweisen gegenüber irgend etwas, z.B. dem Messinstrument oder gegenüber anderen Objekten. Auch die träge Masse zeigt sich nur, wenn jemand versucht, den Bewegungszustand des trägen Objekts zu verändern, die Verhaltensweise zeigt sich also gegenüber dem Einwirkenden und nur dort. Als physikalische Größe wird von dieser Wirklichkeit abstrahiert, und so getan, als hätten die Objekte diese Verhaltensweisen auch ohne ihre Einbettung in Wechselbeziehungen. Das ist aber eine Abstraktion, die wir vornehmen und vornehmen müssen, wenn wir in der üblichen Weise Physik machen.
September 20, 2020 at 9:52 am
Annette:
„Alle „innewohnenden Eigenschaften“ sind letztlich Verhaltensweisen gegenüber irgend etwas, z.B. dem Messinstrument oder gegenüber anderen Objekten. Auch die träge Masse zeigt sich nur, wenn jemand versucht, den Bewegungszustand des trägen Objekts zu verändern, die Verhaltensweise zeigt sich also gegenüber dem Einwirkenden und nur dort. Als physikalische Größe wird von dieser Wirklichkeit abstrahiert, und so getan, als hätten die Objekte diese Verhaltensweisen auch ohne ihre Einbettung in Wechselbeziehungen. Das ist aber eine Abstraktion, die wir vornehmen und vornehmen müssen, wenn wir in der üblichen Weise Physik machen.“
So, wie Du es beschreibst, entsteht der Eindruck, dass die Eigenschaften der Teilchen – die natürlich allein in der Wechselwirkung feststellbar sind – erst durch die Wechselwirkung entstehen.
Außerdem ist so unverständlich, weshalb alle Elektronen sich i. wes. auf ein und dieselbe Weise verhalten.
September 20, 2020 at 3:04 pm
Weder entstehen die Möglichkeiten für Verhaltensweisen erst durch die Wechselwirkung noch gäbe es sie ohne jegliche Wechselwirkung. Es ist wie so häufig, kein Entweder-Oder. Was ich wichtig finde, ist das in der messenden Einzelwissenschaft die möglichen Verhaltensweisen auf eine ganz bestimmte Weise „festgelegt“ werden (nämlich so, dass sie messbar werden). Da wird dann natürlich was gemessen, was wirklich so ist – aber das ergibt dann „nur“ die wissenschaftliche Wahrheit, vielleicht noch ein wissenschaftliches Weltbild, von dem dann aber gewusst werden muss, dass die Welt „an sich“ nicht nur so aussieht, wie sie die Wissenschaft sieht, weil die eben bestimmte Wechselwirkungen still stellt (wenn ich eine Masse wäge, muss ich eventuell auch gleichzeitig vorhandene magnetische Anziehungskräfte „mal kurz wegdefinieren“ und auch experimentell ausschalten). Häufig wird dieses richtigerweise eingeschränkte Modell/Weltbild dann umstandslos als „So ist die Welt“ interpretiert, es wird eine Weltanschauung draus gemacht. Und das ist nicht richtig. Dadurch passiert auch: Manchmal haben Wissenschaftler unterschiedliche Weltanschauungen (trenne ich nun ruhe und geradlinig-gleichförmige Bewegung, wie anscheinend Euler, was Newton nicht macht), obwohl die echte Physik die sie betreiben, dann doch auf dasselbe rauskommt.
September 20, 2020 at 8:18 pm
Annette:
„Weder entstehen die Möglichkeiten für Verhaltensweisen erst durch die Wechselwirkung noch gäbe es sie ohne jegliche Wechselwirkung.“
PE:
Ersteres stimmt meinem Einwurf zu – Zweiteres klingt nach Tautologie.
Annette:
„Es ist wie so häufig, kein Entweder-Oder.“
PE:
Ich habe kein „Entweder-Oder“ gestellt.
Annette:
„Was ich wichtig finde, ist das in der messenden Einzelwissenschaft die möglichen Verhaltensweisen auf eine ganz bestimmte Weise „festgelegt“ werden (nämlich so, dass sie messbar werden).“
PE:
Ich stimme zu, dass jede „messende Einzelwissenschaft“ nur diejenigen Eigenschaften und also Verhaltensweisen behandelt, die in ihren Objektbereich fallen. Wobei die Theorie bestimmt, was gemessen wird (Einstein zu Heisenberg als Entgegnung auf dessen Forderung, dass allein messbare Größen Eingang in die Theorie finden sollen – hierzu gibt es übrigens neuere Untersuchungen von Capellmann über die Bornsche Konzeption der Quantenmechanik, die den Vorstellungen von Bohr (und Heisenberg) entgegenstand (was möglicherweise dazu geführt hat, dass Born erst sehr spät den Nobelpreis für Physik erhalten hat)), denn jedwede Messapparatur zählt allein die viorhandene Menge von Vergleichsobjekten (wie wohl bereits Cusanus beobachtet hat).
Annette:
„Da wird dann natürlich was gemessen, was wirklich so ist …“
PE:
„Wirklich“ nur im gerade beschriebenen Sinne
Annette:
„– aber das ergibt dann „nur“ die wissenschaftliche Wahrheit …“
PE:
Weshalb „nur“? Die einzige widerspruchsfreie Definition von „Wahrheit“, die ich kenne, ist diese: Wahrheit ist die Übereinstimmung einer Aussage mit dem, über das ausgesagt wurde.
Annette:
„…, vielleicht noch ein wissenschaftliches Weltbild, von dem dann aber gewusst werden muss, dass die Welt „an sich“ nicht nur so aussieht, wie sie die Wissenschaft sieht, weil die eben bestimmte Wechselwirkungen still stellt (wenn ich eine Masse wäge, muss ich eventuell auch gleichzeitig vorhandene magnetische Anziehungskräfte „mal kurz wegdefinieren“ und auch experimentell ausschalten).“
PE:
Das ist jetzt eher unscharf, oder?
Annette:
„Häufig wird dieses richtigerweise eingeschränkte Modell/Weltbild dann umstandslos als „So ist die Welt“ interpretiert, es wird eine Weltanschauung draus gemacht. Und das ist nicht richtig. Dadurch passiert auch: Manchmal haben Wissenschaftler unterschiedliche Weltanschauungen (trenne ich nun ruhe und geradlinig-gleichförmige Bewegung, wie anscheinend Euler, was Newton nicht macht), obwohl die echte Physik die sie betreiben, dann doch auf dasselbe rauskommt.“
PE:
Wir stimmen sicher völlig darin überein, dass jedwede Wissenschaft nur Modelle bearbeitet, die Näherungen der Wirklichkeit beschreiben – oder sie beschreiben die Wirklichkeit so allgemein (wie die Dialektik), dass Näherungen bei der Anwendung auf Einzelfälle unumgänglich sind.